Denken "ohne Geländer". Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?

90 Jahre lang bewegte sich in Deutschland die Linke zwischen der russischen Revolution einerseits und der SPD andererseits. Jetzt scheint eine neue Epoche zu beginnen. Wie steht es um das Erbe?

Fast 90 Jahre lang bewegte sich in Deutschland die sozialistisch-internationalistische Linke eingekeilt zwischen der russischen Revolution einerseits und der SPD andererseits. Nun scheint sich auch für sie das 20. Jahrhundert dem Ende zuzuneigen. 1

Allerdings: In einer Situation, in der viele Linke nur noch "nach vorn" schauen, wird manches Mal vergessen, daß es von Gewinn sein kann, wenn man nicht verdrängt, auf welchem Erbe man - freiwillig oder auch unfreiwillig - steht. Sonst läuft man möglicherweise Gefahr, die Zukunft in der falschen Richtung zu vermuten - und verirrt sich plötzlich in die eigene Vergangenheit.

Das Jahr 1907

Das eher zufällige Entstehen einer politischen Kraft links von der SPD jährt sich bald zum 100. Mal; es datiert aus dem Reichstagswahljahr 1907. Damals waren den bürgerlichen und monarchistischen Parteien mit einem ultranationalistischen Wahlkampf gegen die "vaterlandslosen Gesellen" der SPD schmerzhafte Einbrüche ins proletarische Milieu gelungen. Die große deutsche Arbeiterpartei hatte völlig unerwartet erstmals nicht nur keine weiteren Stimmen hinzugewonnen, sondern sogar Mandate verloren.

Nirgends sonst auf der Welt war zu diesem Zeitpunkt die Arbeiterschaft so gut als eigene Klasse organisiert wie in Deutschland: mit eigenen Gewerkschaften (die nachhaltige Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen durchgesetzt hatten), mit Unterstützungskassen, Bildungsvereinen, Konsumvereinen, Sparkassen und Bausparkasse, mit antiklerikaler Freidenker-Organisation, Abstinenzler-Bund, Jugendweihe, Volkshäusern und einer seit 1875 vereinigten und sehr erfolgreichen parlamentarischen Partei, die seit der zwölfjährigen Verfolgung unter dem Sozialistengesetz zudem von einer romantischen Aura umweht wurde.

Und damit nicht genug: Nirgends sonst hatte sich die Bewegung der Arbeiterschaft mit der Idee des Sozialismus so stark verbunden wie in Deutschland. Alle Organisationsbemühungen, jeder Erfolg sollte - so der Parteigründer Ferdinand Lassalle - ausschließlich einem Ziel dienen: die politische Mehrheit in der Gesellschaft zu erringen, um Wohlfahrt für alle und Solidarität als den Grundzug gesellschaftlicher Beziehungen durchzusetzen.

Binnen dreißig Jahren war so ausgerechnet im militaristischen Preußendeutschland eine proletarische Gegengesellschaft entstanden, vielfältig gegliedert - und mit einer eigenen sozialistischen Weltanschauung ausgestattet. Diese Art, die Welt zu betrachten, schien geeignet, die proletarische Gegengesellschaft zusammenzuhalten. Im Zentrum dieser Weltanschauung stand ein uralter Menschheitstraum: die Abschaffung von Unterdrückung und Ausbeutung.

Dieser Traum war zwar in den zwei Jahrtausenden zuvor schon von vielen Menschen geträumt worden, für seine Verwirklichung hatten sich aber immer nur Minderheiten, oft genug nur einzelne eingesetzt - zumeist Menschen, die in ihrer Bildung das geistige Niveau ihrer Zeit überragten; lebten sie heute, würde man sie "Linke" nennen. Der unterdessen weitgehend vergessene Max Beer hat in seiner Allgemeinen Geschichte des Sozialismus 2 ihnen allen die gebührenden Denkmäler gesetzt.

Die erstmals von Chartisten formulierte, oft aber Karl Marx zugeschriebene These, daß das Proletariat nicht nur leidend, sondern auch eine sich emanzipierende Klasse sei, die sich unweigerlich die Ideen des Sozialismus auf ihre Fahnen schreiben werde, hatte der - in sozialer Hinsicht stets heimatlosen - Linken erstmals den Weg zu einem sozialen Subjekt der Befreiung gewiesen. In der Bebel-Liebknechtschen Sozialdemokratie schien diese These ihre Verwirklichung zu finden. Die sozialistische Weltanschauung und ihre Verknüpfung mit dem "Träger" Arbeiterschaft wurde nicht nur von der Linken und besonders ihrer Wortführerin Rosa Luxemburg auf das heftigste verteidigt, sondern bis 1907 auch von der politischen Führung - dem Vorstand der SPD - gefördert.

Opponenten zu diesem Kurs waren traditionell die gewerkschaftlichen Führer; sie hatten sich nie ernsthaft für die sozialistischen Ideen erwärmen können, gefährdeten sie doch in ihren Augen - wie nicht zuletzt das Sozialistengesetz gezeigt hatte - gerade in Krisensituationen den Bestand der mühselig aufgebauten Organisationen, und damit deren eigene Macht. Bis zur Reichstagswahl von 1907 hatte die SPD-Führung aber stets sorgsam auf ein Patt zwischen den Organisationshütern und den Ideologiewächtern geachtet. Nach der Wahl und vielen vorausgegangenen Auseinandersetzungen glaubte sie nun, die Prioritäten verschieben zu müssen. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend dem nationalistischen Wahn ergab, hatte sich das sozialistische Fernziel nicht einmal so weit als attraktiv erwiesen, um die bisherige Klientel zusammenzuhalten.

Gleich in mehreren Punkten änderten die Machtpolitiker in der SPD-Führung ihre Sicht auf die Dinge: 3

Erstens: MarxÂ’ Diktum, daß der Sozialismus von einer Bewegung der Arbeiterschaft erkämpft werde, die auf Grund sozialer Ursachen quasi sozial-genetisch dafür vorherbestimmt sei, verlor für die Politikformulierung der SPD-Führung seine konstituierende Bedeutung. Sozialismus war von nun an für die Bewegung der Arbeiterschaft bestenfalls eine, keinesfalls aber die ausschließliche, ja selbst nicht die wahrscheinlichste Option (auch wenn natürlich die Arbeiterschaft die am ehestens für einen Sozialismus ansprechbare soziale Gruppe blieb). Karl Kautsky, dem das schon viele Jahre zuvor zu Bewußtsein gelangt war, hatte deshalb versucht, diesen "Defekt" der Arbeiterschaft durch ein Hineintragen des sozialistischen Gedankenguts zu "reparieren". Doch der SPD-Führung war ein solches Unterfangen nun zu riskant. Sie glaubte, begriffen zu haben, wen sie führt.

Zweitens: Der Sozialismus, für die SPD-Führung schon seit Jahren mehr Gefolgschaftsideologie als Politikziel, wurde zwar nicht aufgegeben, aber stillschweigend in eine identitätstiftende Legitimationsideologie umgewandelt, der vorrangig eine instrumentelle Funktion zuerkannt wurde. Das ermöglichte es, in einer nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre dem sich in der Arbeiterschaft ausbreitenden Wunsch zu entsprechen, den Ruch des "vaterlandslosen Gesellen" abzustreifen: Anstelle eines internationalistischen "vaterlandslosen" Sozialismus wie bis dahin wurde nun ein immer verschwommenerer Sozialismus propagiert, der bei Bedarf mit einigen Prisen Nationalismus verschnitten werden konnte.

Drittens: Die SPD-Führung begriff außerdem, daß das auf Lassalle zurückgehende Konzept einer proletarischen Gegengesellschaft sich strategisch in dem Maße erschöpfte, wie es erfolgreich umgesetzt wurde, weil sich die bürgerliche Gesellschaft gezwungen sah, gegenüber dem verachteten "vierten Stand" sich wenigstens einen Spalt breit zu öffnen. Da die Teilnahme an der proletarischen Gegengesellschaft ohnehin nicht freiwillig, sondern zumeist mangels Alternativen erfolgt war, nutzten viele proletarische Familien, denen die bürgerliche Gesellschaft das individuelle Verlassen dieser Gegengesellschaft durch "sozialen Aufstieg" nicht vollständig verwehrte, oftmals in der nächsten Generation diese Chance. Solche Ausstiege durch Aufstieg galten im eigenen Milieu keineswegs als anstößig, sondern eher als ehrfurchtgebietend.

Viertens: Die SPD-Führung hatte 1907 zwischen zwei Szenarien zu wählen: 1. mit einer kleiner werdenden sozialismuswilligen Klientel einen offensiven Kampf für den Sozialismus zu führen, wie ihn Rosa Luxemburg in der Massenstreikdebatte einforderte, und damit Gefahr zu laufen, nicht nur den Einfluß auf den sich dem Nationalismus zuwendenden Teil der eigenen Klientel zu verlieren, sondern auch - durch den zu erwartenden Einflußverlust geschwächt - eine Zerschlagung der aufgebauten Organisationsmacht zu riskieren; oder 2. solange man noch stark war, die eigene Gegengesellschaft in die bürgerliche Gesellschaft hineinzuführen und eine Machtteilhabe anzustreben, mit der der Kapitalismus zwar nicht mehr überwunden, aber dauerhaft gezügelt werden sollte. Die Entscheidung für die Integration fiel eindeutig aus und führte die SPD über die Stationen Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 und Regierungsbeteiligung am 3. Oktober 1918 zum 2. Mai 1933, der Zerschlagung der Arbeiterbewegung.

Rosa Luxemburg und Wladimir I. Lenin

Die sozialistisch-internationalistische Linke in der SPD hatte 1907 ihre Funktion als Garantin einer alle zusammenschweißenden Weltanschauung verwirkt. Viele Linke kamen mit der nun - schleichend - einsetzenden Isolierung nicht zurecht, schworen deshalb ihren sozialistischen Überzeugungen ab und mutierten zu "Parteisoldaten", die sich bald für fast nichts zu schade waren. Erstmals zeigte sich damit massenhaft ein Phänomen, das bis heute immer wieder beklagt wird: daß die meisten Linken nicht ihr gesamtes Leben lang sozialistische, also eine auf die Überwindung des Kapitalismus gerichtete Politik machen, sondern ab einem gewissen Punkt oft nur noch behaupten, dies zu tun. Nach 1907 schrumpfte die Linke in der SPD auf einen kapitulationsunwilligen Rest zusammen. Um Franz Mehring und Rosa Luxemburg bildete sich ein "Fähnlein der Aufrechten", zu dem nach Kriegsbeginn auch Karl Liebknecht stieß, während prominente Linke wie der Begründer der Parteischule Heinrich Schulz sich endgültig dem Nationalismus ergaben.

International wurden für die weitere Entwicklung der Linken zwei Richtungen relevant: die deutsche Linke, soweit sie zum Kreis um Rosa Luxemburg gehörte, und die russischen Bolschewiki um Lenin. Beide Richtungen interpretierten die Vorgänge in der deutschen Sozialdemokratie - die damals vielen proletarischen Bewegungen in anderen Ländern als Vorbild galt - als "Abweichung" und "Verrat" der politischen Führer; in den folgenden Jahrzehnten wurde diese Argumentation, zeitweise geradezu hysterisch, immer erneut aufgesagt. Den Gedanken, daß die Arbeiterschaft nicht "als Klasse" zum Sozialismus strebe, sondern lediglich zahlenmäßig die meisten Menschen hervorbringt, die für sozialistische Ideale ansprechbar sind, ließen Vertreter beider Richtungen bestenfalls in Erschöpfungs- und Depressionsperioden zu.

Statt dessen wurde - unausgesprochen - die Zeit, als die Linke nennenswerten Einfluß auf die Politik der deutschen Sozialdemokratie gehabt hatte, zu einer Art goldenen Zeitalters verklärt und zum Bezugspunkt allen Handelns - zu dem es zurückzukehren galt. Dabei wurde letzten Endes der einstige Einfluß auf die Politik mit einem Einfluß auf die Arbeiterschaft verwechselt; daß gerade die Ausbreitung nationalistisch-nichtsozialistischer Haltungen in der Arbeiterschaft die SPD-Führung bestärkt hatte, die Weltanschauung der Organisation unterzuordnen, wurde nicht gelten gelassen.

Die Arbeiterschaft hatte sich jedoch im Punkt Weltveränderung nicht anders entwickelt als hundert Jahre zuvor die aufstrebenden bürgerlichen Schichten. Im Frankreich der Revolution hatte die Bourgeoisie gezeigt, wie weit nach links das Pendel ausgeschlagen werden konnte - bis sie sich selbst dem Terror ausgeliefert hatte. Mit der Guillotine verlor nicht nur die französische, sondern die gesamte europäische Bourgeoisie Unschuld und Naivität. Trotzdem war die erste große Revolution keinesweg sinnlos gewesen. Sie hatte den Kräften des Absolutismus verständlich gemacht, wohin zu große Halsstarrigkeit führen kann. Die Große Revolution der Franzosen läutete ein europäisches Jahrhundert der nationalen Klassenkompromisse zwischen aufsteigender Bourgeoisie und ausgezehrten Feudaleliten - und nicht etwa ein Säculum konvulsiver Revolutionen ein. Dabei galt zumeist: Je später der Weg in die bürgerliche Gesellschaft angetreten wurde, desto reaktionärere Gestalt nahmen die politischen Regimes an, und: Der nationale Gedanke verlor schnell seine ursprünglich antifeudal-emanzipatorische Qualität und wurde zu einer geistigen Stütze von Reaktion und Kriegstreiberei.

Auch die europäische Arbeiterschaft probierte sich politisch zuerst auf französischem Boden aus: 1848 in der Juniinsurrektion und 1871 in der Pariser Kommune. Anders als die französische Bourgeoisie brachte sie aber keine weiteren Klassenkräfte auf ihre Seite. Allein geblieben gegen den "Rest der Gesellschaft" verbluteten die revolutionär gestimmten Pariser Arbeiter 1871 unter Bismarcks Kartätschen und den Bajonetten von ThiersÂ’ uniformierten Mörderbanden. Seitdem spitzt sich in Frankreich zwar immer mal wieder der Klassenkampf zu - eine "Entscheidung" suchte der als Klasse organisierte Teil der französischen Arbeiterschaft jedoch nie wieder. (Mit Ausnahme der Jahre 1944/45, aber da wurde sie auf Stalins "Bitte" hin nicht gesucht.)

Die Arbeiterschaft in Deutschland hatte die französische Lektion sehr wohl verstanden. Zu einem Stellungskrieg, wenn sie angegriffen wurde wie unter dem Sozialistengesetz (1878-1890), war sie bereit; zu einem Angriffskrieg jedoch nicht. (An Gramscis Bewegungskrieg war noch nicht zu denken.) Der erfolgreiche Widerstand gegen das Sozialistengesetz und das Einlenken des Regimes hatten dem als Klasse organisierten Teil der deutschen Arbeiterschaft die Möglichkeit und den Vorteil von Kompromissen vor Augen geführt. Der Sieg von 1890 ließ die revolutionäre Lava, so sie je gebrodelt hatte, lauwarm werden.

Weitgehend unberührt von alldem blieb Osteuropa, wo die Arbeiterschaft noch Züge von Leibeigenen trug; Rußlands Arbeiterschaft formierte sich deutlich später und ging - unangefochten von den französischen Erfahrungen - 1905 und 1917 den französischen Weg - der 1921 im Thermidor von Kronstadt endete.

Zurück zum Kreis um Rosa Luxemburg und zu den russischen Bolschewiki um Lenin: Beide Richtungen verharrten in einem Politikverständnis, nach dem die sozialistisch-internationalistische Linke den politisch klarsten Teil des Proletariats und damit seinen politischen Arm bildete. Beide Richtungen sahen in der Eroberung von entscheidendem Einfluß auf die Arbeiterschaft die Bedingung für eine Besserung der Welt. Sozialismus blieb für sie eine Aufgabe der Arbeiterschaft.

Die Vorstellung, die Bewegung zum Sozialismus nicht als eine Bewegung der Arbeiterschaft zu denken, war beiden Richtungen nicht möglich; diese zeitgebundene Erkenntnisschranke zu bespötteln, wäre unbillig. Das Verdienst beider Richtungen ist es, den sozialistischen Gedanken im politischen Raum gehalten zu haben - anders als die SPD, die ihn allenfalls als Wert weitergelten lassen wollte (und ihn gerade wieder neu entdeckt).

Doch beide Richtungen unterschieden sich in einem Punkte grundlegend: Während Lenin im Anschluß an Kautsky meinte, daß das Proletariat sich des Umstandes, Träger des Sozialismus zu sein, nicht selbständig bewußt werden könne und dieses Bewußtsein deshalb "von außen" hineingetragen werden müsse 4, war für Rosa Luxemburg Sozialismus keine Theorie, die man sich aneignet, um dann nach ihr zu handeln wie nach den 10 Geboten.

Aufklärung durch einen Vormund war ihr nicht nur zutiefst zuwider, sondern konterkarierte für sie letztlich den Befreiungsanspruch des Sozialismus. In ihrem Verständnis sollte sich das Proletariat seiner Aufgaben durch gelebte Praxis - durch die Erfahrung eigener Erfolge und mehr noch eigener Niederlagen - bewußt werden und sich so von der Alternative "Sozialismus oder Barbarei" überzeugen. Für Rosa Luxemburg begann die Emanzipation nicht erst nach einer wie auch immer (ob per Parlament oder per Revolution) realisierten Machteroberung.

Deshalb maß sie der Partei auch eine andere Funktion zu, als es die alte deutsche Sozialdemokratie einerseits und die russischen Bolschewiki andererseits taten. War für die einen die Partei immer mehr zum Wahlverein mutiert, der möglichst viele Parlamentssitze erobern sollte und nach der Wahlschlappe von 1907 zu immer mehr Zugeständnissen an Chauvinismus und Militarismus in Deutschland bereit war, war für die anderen die Partei eine Maschinerie, mit der in einer Revolution die Macht zur Tilgung aller Übel der bisherigen Geschichte erobert werden sollte. Letztlich hatten beide zu der Klasse, für die sie agierten - je mehr sie Erfolg hatten - ein um so instrumentelleres und vormundschaftliches Verhältnis.

Für Rosa Luxemburg waren beide Varianten ein Graus. In der Frage des Parlaments blieb sie Engels verbunden, für den das Parlament eine Tribüne für die revolutionäre Propaganda bot. Mehr nicht. Die Gesellschaft konnte sich für sie nur dann emanzipieren, wenn sich das Proletariat emanzipierte. Emanzipation durch Praxis, durch schrittweise Veränderung der Kräfteverhältnisse war für sie der einzige sinnvolle Weg der Emanzipation. Im Mittelpunkt von Rosa Luxemburgs Wollen stand nicht der permanente zahlenmäßige Zuwachs an Mitgliedern der proletarischen Organisationen und an Wählern, sondern ein Zuwachs an Selbstbewußtsein und an der Fähigkeit zu politischem Handeln. Die als Partei organisierte Linke sollte der Arbeiterschaft Vorschläge machen und ihr die Entscheidung überlassen - selbst auf die Gefahr einer Ablehnung hin, die es in jedem Falle zu akzeptieren galt. Damit stand Rosa Luxemburg an der Wiege eines Hegemoniekonzeptes, das Gramsci später ausformulierte und das bis heute "uneingelöst" ist.

Revolution und "neue Klasse"

In ihrem Revolutionsverständnis blieb Rosa Luxemburg hinter ihrem sonstigen theoretischen Niveau deutlich zurück. Rosa Luxemburg bettete die Revolution nicht als ein Moment der Auseinandersetzungen in ihren demokratischen Emanzipationsansatz ein, sondern konnte sich in diesem Punkt nicht von der (auf den jungen Marx zurückgehenden) Erwartung an die Revolution freimachen, sie würde das Tor zur Freiheit aufstoßen. Den Ausweg aus dem Kapitalismus sah Rosa Luxemburg nicht in ihrem eigenen demokratischen Emanzipationsansatz - hier wurde sie sich aus zweifellos ehrenhaften Motiven selbst untreu -, sondern in einer Revolution der Mehrheit gegen die Minderheit; ein Irrtum, den sie und weitere Führer der am Jahreswechsel 1918/19 gegründeten KPD mit dem Leben bezahlten.

Rosa Luxemburg, eine radikale Demokratin, verkannte die Bewegungsgesetze der aus Zusammenbrüchen hervorgehenden Revolutionen. Revolutionen können den Weg zu demokratischen Entwicklungen freisprengen, sind selbst aber nicht als Ereignisse gestaltbar, die nach demokratischen Mehrheitsentscheidungen ablaufen. (Womit nichts gegen Revolutionen gesagt ist - die werden immer wieder aufflammen -, sondern lediglich gegen Heilserwartungen an Revolutionen.)

Die ursprünglich zahlenmäßig ebenfalls schwachen Bolschewiki, die die "proletarische Revolution", trotz aller Dementis, als blanquistischen Akt verstanden und auch so betrieben, beeinflußten - im Gegensatz zur deutschen Linken um Rosa Luxemburg - maßgeblich den Gang des 20. Jahrhunderts. Anders als in der Theorie postuliert, stützten sie sich nach dem Sturz der Kerenski-Regierung (und nach zuvor verlorenen Parlamentswahlen) nicht nur auf die Arbeiterschaft und deren Bewegung, sondern mehr noch auf eine revolutionäre Soldatenbewegung. Dank Trotzkis Initiative, eine neue, den Bolschewiki ergebene Militärmacht zu schaffen, verliehen die Bolschewiki dieser Soldatenbewegung mit der Roten Armee einen dauerhaften existentiellen Rahmen. Diese Armee blieb selbst über die Ausrottung ihres gesamten Führungskorps im Jahre 1938 hinweg neben dem Stalinschen Parteiapparat und der Politischen Polizei bis 1991 sowohl die entscheidende soziale als auch machtpolitische Grundlage der Herrschaft der Bolschewiki. 5

Die SPD-Führung entschied sich im November 1918 genau entgegengesetzt. Mit ihrem Eintritt in die Regierung am 3. Oktober 1918 - erkauft mit dem Tod von Millionen Arbeitern, deren Hinschlachtung sie vier Jahre lang unterstützt hatte - hatte sie geglaubt, ihr Ziel einer Machtteilung zwischen alter Gesellschaft und proletarischer Gegengesellschaft erreicht zu haben; doch hatte sie dann mit diesem Sieg nichts anzufangen gewußt. Als im November 1918 eine revolutionäre Soldatenbewegung diese Machtteilung wegfegte, ging die SPD-Führung ein Bündnis mit der entmachteten Reichswehrführung ein und rettete so den deutschen Militarismus.

So schnell wie sie entstanden war, zerfiel nun die Soldatenbewegung wieder - in heimkehrende Ehemänner und Söhne. Die Linke um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg - fixiert auf eine ermüdete Arbeiterschaft, von der sie kurzzeitig glaubte, sie sei revolutioniert - begriff erst zu spät, daß die Arbeiterschaft in ihrer Mehrheit nicht nur keine Revolution wollte, sondern selbst mit der Republik, die ihr die Soldatenbewegung hinterlassen hatte, nicht ernsthaft etwas anfangen konnte; diese Republik war kein Kind der Arbeiterbewegung.

In Rußland trennten sich die Bolschewiki mit Hilfe der Roten Armee im Februar 1921 von der Arbeiterschaft, deren die proletarischen Interessen verfolgenden Teil sie in Kronstadt niederkartätschte. Im Zuge einer "Neuen Ökonomischen Politik" versuchten sie anschließend mit einer bonapartistischen Politik "über den Klassen" und vor allem mit Zugeständnissen an die Bauernschaft, an das Unternehmertum sowie an das ausländische Kapital, ihre Macht zu erhalten. Armee, Parteiapparat und Politische Polizei formierten sich in dieser Zeit zur eigentlichen sozialen Basis der Bolschewiki; später die "neue Klasse" genannt. Mit ihr gelang es ab 1928, die Gesellschaft zu unterwerfen und so die riskante bonapartistische Phase zu beenden. Im Namen der "Arbeiter- und Bauernmacht" etablierte sich ein totalitäres Regime, das eine zu jeglichem Widerstand unfähige "klassenlose" Gesellschaft herbeizumorden suchte und dabei selbst die "neue Klasse" keineswegs schonte, sondern bevorzugt verheerte. 6

In Deutschland existierte nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und dem Ausschluß von Paul Levi und Genossen die KPD dem Namen nach weiter; mit der Abdrängung der letzten Luxemburgianer in die KPO 1928 verlor die zweite wichtige Richtung der internationalen Linken für Jahrzehnte endgültig ihre politische Relevanz. Die Bolschewiki, die schon 1918 begonnen hatten, über die russische Botschaft in Berlin Gelder in die revolutionäre deutsche Bewegung zu transferieren (die Erinnerungen der Vertrauten von Rosa Luxemburg, Mathilde Jacob, geben dafür das früheste Zeugnis), fanden ab 1925 eine zunehmend willige Parteiführung, um die herum der längst etablierte Partei- und Geheimdienstapparat die eigentliche Macht ausübte. 7

Diese Partei, unter Paul Levi 1920 durch die Vereinigung mit der Mehrheit der USPD kurzzeitig auf dem Weg in die Arbeiterschaft, war in ihrem Wesen ein Instrument der sowjetischen Außenpolitik - so sehr sich auch viele ihrer Mitglieder ehrlichen Herzens mit aller Kraft aufrieben und ihr Leben gaben. 1933, kurz zuvor durch die Opfer der Weltwirtschaftskrise zu einer Massenpartei angewachsen, stürzte sie binnen Tagen fast lautlos in sich zusammen. War die SAPD 1878 eine Partei gewesen, von deren Unterdrückung die Arbeiterschaft wußte, daß sie etwas Existentielles verlieren würde, hatte die KPD 1933 der deutschen Arbeiterschaft nichts zu bieten, das dieser ein hinreichendes Motiv hätte sein können, diese Partei zu verteidigen. Auch die einstige Arbeiterpartei SPD verschwand aus der Politik - ebenso wie das schwächliche deutsche (Bildungs-)Bürgertum. Die Geschichte der deutschen Arbeiterschaft als Gegengesellschaft und damit die Geschichte der klassischen deutschen Arbeiterbewegung hatten sich vollendet. Im Exil begann die Linke, über eine neue sozialistische Bewegung nachzudenken - eine Gruppe nannte sich völlig zu Recht "Neubeginnen".

Nationalsozialismus, Kalter Krieg, Ende

Das Ansinnen der Nationalsozialisten, die christlich-jüdisch-abendländische Zivilisation zu liquidieren und Europa nach rassistischen Gesichtspunkten zurechtzumorden und zurechtzuzüchten, konnte nur durch die Anspannung aller Kräfte abgewehrt werden. Auschwitz und Lebensborn waren zwei Seiten einer Medaille - hier Ausrottung, dort Züchtung. In den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und in den Adolf-Hitler-Schulen fand die "Euthanasie" - also die Hinmordung "lebensunwerten Lebens" mit Hilfe deutscher und österreichischer Spitzenmediziner - letzten Endes nur ihre "Ergänzung". Der 8. Mai 1945 markierte nichts weniger als die Rückkehr Europas auf den Pfad der Zivilisation, aus dem dieser Kontinent dank der Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft, mit dem 20. Jahrhundert zurechtzukommen, dauerhaft hinausgeschleudert werden sollte. Ohne die Soldaten der Roten Armee und ohne das Standhalten der Völker der Sowjetunion, über die Deutsche unermeßliches Leid gebracht hatten, wäre für lange Zeit kein westalliierter Soldat in der Lage gewesen, seinen Fuß dauerhaft auf das europäische Festland zu setzen. Und: Ohne die Siege und ohne die Opfer der Soldaten der Roten Armee, unabhängig davon, was sie dachten und was sie den Deutschen antaten, und auch unabhängig davon, was ihre im eigenen Lande massenmordende Führung alles verbrach, wären viele der heute lebenden Europäer nie geboren worden. Weil ihren Eltern und Großeltern das Recht auf Leben abgesprochen war.

Mit dem Sieg über den Nationalsozialismus ging die Befreiung vom Nationalsozialismus einher; die politische Selbstbestimmung für die Deutschen bedeutete er freilich nicht, vor allem nicht für die Linke. Jegliche Ansätze für eine neue Linke wurden von den Besatzungsmächten im Keim erstickt. Die sowjetische Besatzungsmacht unterdrückte die parteiübergreifenden Antifa-Ausschüsse - die zumindest die Potenz für eine völlig andersgeartete Linke in Deutschland in sich trugen -, ebenso taten es die westlichen Besatzungsmächte in ihren Zonen. Statt dessen wurde den 1933 verschwundenen Parteien SPD und KPD die Lizenz und der Arbeiterschaft für ihr Verhalten im Nationalsozialismus quasi eine Art Kollektiventschuldung erteilt.

Die künftigen Gegner im heraufziehenden Kalten Krieg mühten sich auf beiden Seiten, den deutschen Arbeiter einzubinden. Im Osten vereinigten sich KPD und SPD zur SED, wobei anfangs nicht wenige Linke glaubten, hierbei käme eine neue linke Partei zustande. Der Hauptzweck des sowjetischen Manövers war aber nicht eine Vereinigung, sondern eine Totalvereinigung, also das Verschwinden jeder auch nur potentiell eigenständigen deutschen Linken; ab 1948 war die SED auch offiziell die Fortführung der KPD mit denselben sowie - ergänzend - mit geheimpolizeilichen Mitteln. 8

Spiegelverkehrt im Westen wurde die SPD gefördert und die KPD unterdrückt. Beide Parteien - SED und SPD - führten in den alten Kostümen, aber durch die Demarkationslinie getrennt, unter den Bedingungen des Kalten Krieges, die Konstellation von 1918/19 prolongierend, die alten Stücke auf und gaben dabei jeweils die "Arbeiterpartei". Der 17. Juni 1953 und das Godesberger Programm 1959 brachten die Dementis. Natürlich steckten beziehungsweise versteckten sich in beiden Parteien Linke; wobei die Linken in der SPD nicht Gefahr liefen, in einen GULag und in ein deutsches Zuchthaus verbracht zu werden. Die Linke in der DDR, ob inner- oder außerhalb der SED, lebte in einer inneren Emigration, die für viele Prominente (Leo Kofler, Alfred Kantorowicz, Gerhard Zwerenz, Ernst Bloch, Hans Mayer etc.) bald zu einer äußeren wurde - während die Arbeiterschaft am 17. Juni 1953 die Stalinisierung der DDR-Gesellschaft stoppte und die SED-Führung mit ihrer bei der KPdSU geborgten Macht zum historischen Kompromiß zwang: Euch die Macht, uns die gleiche Wohlfahrt wie denen im Westen. 9

Dieser Kompromiß hielt bis tief in die 80er Jahre hinein, auch wenn er immer wieder verletzt wurde. Der Mauerbau 1961, der vor allem die Abwanderung von Fachkräften verhindern sollte - mehr als die Hälfte der in den Westen Abwandernden waren zwischen 1957 und 1961 Facharbeiter unter 25 Jahre gewesen - wurde in den 60er Jahren nicht zuletzt auch unter Arbeitern als eine Erscheinung auf Zeit verstanden. Doch der Versuch eines Teils der SED-Führung, die gebotene Atempause zu nutzen, scheiterte am Widerstand der sowjetischen Vormacht und der alles beherrschenden Bürokratien. Ab Mitte der 80er Jahre wurde die "innerliche Kündigung" zu einer Massenerscheinung. Daneben begann Unmut in Widerstand umzuschlagen. Es waren nicht zuletzt Linke, die sich unter dem Dach der Kirchen, aber auch außerhalb dieses Schutzraumes formierten. Als 1989 vor allem die leistungsfähigen Teile der Arbeiterschaft sich zur Emigration via Ungarn entschieden, brach das Kartenhaus zusammen.

Auch im Westen blieb die Linke, ob innerhalb oder außerhalb der SPD, wirkungslos. Der Ausreißer von 1967/68, die Studentenbewegung, konnte schon nach kurzer Zeit kulturell und sozial integriert und politisch später in das "rot-grüne Projekt" kanalisiert werden. Dessen Scheitern hat erneut einen Berg an enttäuschten Hoffnungen und Frustrationen produziert.

Und nun?

Die Sowjetunion ist verschwunden; die PDS hat sich langsam von ihrem SED-Bezug emanzipiert. Und die Linke ist in die Freiheit entlassen. Ob sie, soweit sie noch in der SPD heimisch ist, künftig eine andere Rolle spielen kann als in den vergangenen sechzig Jahren - nämlich links von dieser Partei alles niederzuhalten -, wird sich zeigen. Die Automatisierung und die Unfähigkeit der Gewerkschaften, auf diese im Interesse der Arbeiterschaft wirkungsvoll zu reagieren, haben den wichtigsten Erfolg der Arbeiterbewegung - die Vollbeschäftigung - rückgängig gemacht. Doch es herrscht nicht einfach nur Massenarbeitslosigkeit wie in der Vergangenheit immer wieder einmal, sondern die traditionelle Arbeiterschaft ist in Europa im Schwinden. Ihre neue Heimat liegt in Nordmexiko, im Westen der Türkei, in China und in Indien. Das "revolutionäre Subjekt" Arbeiterklasse, das es sozialgenetisch bedingt so nie gegeben hat, ist der deutschen Linken abhandengekommen. Jetzt ließe sich zwar noch fabelhaft von der "Arbeiterklasse im Dienstleistungsbereich" oder vom unaufhörlich wachsenden "Weltproletariat" träumen, die es zu beglücken gilt. Aber es wäre auch der Fall denkbar, daß sich jener Teil der deutschen Linken, dem das fehlende revolutionäre Subjekt immer noch Kummer bereitet, diesen Mangel endlich als Phantomschmerz erkennt. 10

Die deutsche Linke außerhalb der SPD hat so lange auf Knien gelebt, daß ihr der Gedanke, plötzlich auf den Beinen zu stehen und nicht mehr auf den Knien zu rutschen, sondern den aufrechten Gang zu üben (Bloch), noch fremd anmutet. Es tobt seit spätestens 1989 ein "Klassenkampf von oben" nicht nur gegen die Arbeiterschaft, sondern gegen eine sozialstrukturell aufgefaserte und bisher widerstandsarme Gesellschaft. Neben die "traditionelle" Ausbeutung durch Mehrwertproduktion ist eine feudal strukturierte Ausplünderung der existentiellen Grundlagen der Menschheit getreten: bei Wasser, Bildung, letztlich durch Privatisierung aller "öffentlichen Güter".

In der Arbeiterschaft rumort es; in den Gewerkschaften gewinnt die Linke sichtbar an Einfluß. Aber viele neue Gegner des immer parasitärer werdenden Systems sind im klassischen Sinne keinewegs "proletarisch". Sie leben in unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Kommunikationsweisen und unterschiedlichen "Signalsystemen". Ansprechpartner hat die Linke genügend; aber kann sie diesen Ansprechpartnern auch genügen?

Daß eine große Umschichtung im Politischen in der Luft liegt, ahnen viele; daß ein Hegemoniekonzept erarbeitet werden muß, das nicht auf eine "auserwählte Klasse" zielt, sondern jenen Menschen ein Angebot zum Handeln macht, die nicht länger gewillt sind, sich unter den Schlägen eines dogmatischen Liberalismus zu ducken, ahnen ebenfalls viele; daß dafür ein Denken "ohne Geländer" (Hannah Arendt) vonnöten sein wird, ahnen die meisten - fürchten sich aber möglicherweise davor.

Jörn Schütrumpf - Jg. 1956, Dr. phil., Historiker, Redakteur von UTOPIE kreativ. Der nebenstehende Text ist ein Arbeitspapier, mit dem der Verfasser hofft, eine Debatte anzustoßen.

1 Auch wenn es ungerecht ist, blende ich der Übersichtlichkeit halber an dieser Stelle den sympathischen, politisch aber wenig erfolgreichen deutschen Anarchismus eines Rudolf Rocker, Gustav Landauer und Erich Mühsam aus.

2 Max Beer: Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, Berlin 1919.

3 Die Parteiführer hatten ihre Karriere in totaler Opposition zur Gesellschaft gemacht; ihre Anhänger hatten sich in der SPD einen Ersatz für die Gesellschaft geschaffen, die sie ausgestoßen hatte. Lichter waren in der Dunkelheit entzündet worden. Und nach 1890 hatten die Führer die Früchte ihrer Mühen geerntet. Um die Jahrhundertwende war die SPD ein Staat im Staate, und ihre legitimen Lenker hatten ein wohlerworbenes Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Status quo. Der Anspruch auf eine Sonderstellung ging weit über das bloß Politische und auch das Ideologische hinaus bis zu tiefer moralischer Differenzierung; die Sozialdemokraten betrachteten sich beinahe als eine besondere Spezies - eine Ansicht, die in unfreundlichem Sinne von der übrigen Gesellschaft geteilt wurde. Diese Annahme grundlegender Verschiedenheit, ja fast eines Gattungsunterschieds, war in Deutschland so verbreitet, daß es einen großen soziologischen Durchbruch bedeutete, als festgestellt wurde, auch die Sozialdemokraten hätten viele "normale " Züge, auch sie sagten oft das eine und täten das andere. Kein Geringerer als Max Weber mußte kommen, um das auszusprechen, und noch heute dient Webers "Entdeckung", daß die Sozialdemokraten auch Menschen waren, Soziologen als Beweis dafür, daß eine in Klassen oder Kasten geteilte Gesellschaft ebensoviel Gemeinsames wie Trennendes hat. Wollte die Sozialdemokratie die Gesellschaft unmittelbar und schon in der Gegenwart beeinflussen, so mußte sie in die Gesellschaft eintreten, eine politische Partei wie alle anderen in Deutschland werden, das heißt eine bloße Interessengruppe ohne Anspruch, früher oder später die Macht zu erlangen. In dem Maße, wie reformistische Ziele erreicht wurden, mußte die Autorität der Parteihierarchie schwinden, denn sie war nicht nur die Autorität einer politischen Führung, sondern eines Gebildes, das die normale Struktur der Gesellschaft ersetzte. Erfolgreiche Reformen halfen, die Partei zu liquidieren. Peter Nettl: Rosa Luxemburg, Köln-Berlin 1967, S. 243 f.

4 Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein tradeunionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz. Zu der Zeit, von der wir sprechen, d.h. um die Mitte der neunziger Jahre, war diese Lehre nicht nur das bereits völlig ausgereifte Programm der Gruppe "Befreiung der Arbeit", sondern sie hatte auch die Mehrheit der revolutionären Jugend in Rußland für sich gewonnen. W. I. Lenin: Was tun? In: ders.: Werke, Bd. 5, Berlin 1976, S. 385 f.

5 Die herrschende Partei hat das Monopol der Macht in Händen. Die Arbeiterklasse hat nicht die Möglichkeit, sich zu organisieren, indem sie andere Parteien bildet, und somit andere Programme zu formulieren und zu verbreiten, für die Verwirklichung einer anderen Verteilung des Nationaleinkommens oder für die Durchsetzung einer politischen Auffassung zu kämpfen, die von dem Programm und der Auffassung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei abweicht. [Â…] Die Mitglieder der Partei, mehr als eine Million, sind einfache Bürger wie andere; nur einige hunderttausend davon sind Arbeiter. Welches sind nun deren Möglichkeiten, die Entscheidungen der Parteibehörden und damit die Staatsgewalt zu beeinflussen? Die Partei ist nicht allein nach außen monopolistisch, auch ihre innere Organisation gründet auf diesem Prinzip. Jede Fraktion, jede Gruppe mit besonderer Plattform, jede organisierte politische Strömung ist untersagt. [Â…] So sehr die einfachen Mitglieder der Partei desorganisiert sind, was eventuelle Versuche der Einflußnahme auf die Entscheidungen der Bürokratie betrifft, so stark sind sie im Rahmen der Parteidisziplin organisiert zum Zwecke der Erfüllung der Aufgaben, die ihnen von dieser zugewiesen werden. Wer sich dagegen auflehnt, wird ausgeschlossen und hat nun außerhalb der Partei nicht das Recht, sich zu organisieren, und kann folglich auch nicht handeln. So wird die Partei, die an der Spitze ihrer Hierarchie nichts anderes als organisierte Bürokratie ist, am unteren Ende der Stufenleiter zu einem Werkzeug der Desorganisation eines jeden Versuchs zum Widerstand und eines jeden Versuchs der Arbeiterklasse, auf die Macht Einfluß zu nehmen. [Â…] Die Arbeiterklasse wurde ihrer Organisation, ihres Programms und ihrer Mittel zur Selbstverteidigung beraubt. Jacek Kuron, Karol Modzelewski: Offener Brief an die Polnische Arbeiterpartei (1965), in: Kursbuch, 9, 1967, S. 35 f.

6 Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1957.

7 Im März 1918, etwa 6 Monate nach der Machtergreifung der Bolschewiki in Rußland, kamen die Volksbeauftragten der Russischen Föderativen Sowjetrepubliken als diplomatische Vertreter nach Berlin und suchten hier mit den deutschen oppositionellen Sozialdemokraten sogleich Fühlung. [Â…] - Die in die Berliner Russische Botschaft entsandten Volksbeauftragten waren keine geistigen Größen, doch beseelte sie Opferfreudigkeit und Hingabe an die Revolution. Ich ging gelegentlich zu ihnen, um über Rosa Luxemburg und Leo Jogiches zu berichten. Sie sprachen mit leuchtenden Augen von diesen beiden Revolutionären und erboten sich, pekuniäre Opfer für sie zu bringen. Ich lehnte sie ab, weil weder Rosa Luxemburg noch Leo Jogiches sie angenommen hätten. - Eine fieberhafte Zusammenarbeit der russischen und deutschen Genossen setzte ein. Zu dem alten Stamm revolutionärer Sozialdemokraten gesellten sich solche, die teils von den hohen Gehältern, die die Russen zahlten, teils durch ihre Machtpositionen angelockt wurden. Ich erinnere mich an Parteigenossen, innige Freunde der Menschewiki, die plötzlich Stellungen auf der russischen Botschaft einnahmen. Sie hatten sich davon "überzeugt", daß sie die Bolschewiki falsch beurteilt hatten und waren jetzt Bahnbrecher des Bolschewismus in Deutschland. Mathilde Jacob: Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914-1919, in: Internationale Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1988, Heft 4, S. 486.

8 Ich wurde nach dem Gefängnis, wie wir das etwas zynisch sagten, in die angeblich herrschende Klasse hinabgestoßen, mußte mich in der Produktion bewähren, einen Beruf lernen. Die Begegnung mit der deutschen Arbeiterklasse war dann für mich die entscheidende Erfahrung, die mich am Sozialismus hat zweifeln lassen. Der Sozialismus in der DDR jedenfalls war nicht das Projekt des Proletariats, wie ich feststellen mußte - von einer historischen Mission der Arbeiterklasse konnte keine Rede sein, Klassenbewußtsein gab es nur in der Form, daß diese Leute meinten, sowieso immer die angeschissenen zu sein. Florian Havemann: Vorstellungsrede in Grimma am 5. Mai 2002, in: http://portal.pds-sachsen.de/druckvorschau.asp?tpl=aktuell.asp&tid=1&mid=182&iid=607

9 Jörn Schütrumpf: Die Juni-Insurrektion 1953. Schwierigkeiten mit der Klasse. Thesen, in: UTOPIE kreativ, Heft 152 (Juni 2003), S. 485 ff.

10 "Europäisch links" wäre also eine Trippelstrategie: erstens kraftvolle Initiativen für eine neue internationale Finanz- und Handelsordnung, die es den Staaten wieder ermöglicht, Steuern einzunehmen - ein langfristiges Unternehmen, das wohl nur im Gefolge schwerster Wirtschaftskrisen angegangen werden wird. Zweitens: die nur mit westeuropäischem "Wohlstandsverzicht " zu erkaufende sozialpolitische Komplettierung Europas durch transnationale Sozial- und Versicherungssysteme, ohne welche die freie Mobilität von Arbeit und Kapital die Gesellschaften immer weiter spalten wird; dazu Großprojekte, die Arbeitsplätze und nachhaltige Zukunftssicherung schaffen (etwa ein Crash-Programm für erneuerbare Energien oder Verkehrsnetze Â…). Beides setzte den Mut zu industriepolitischen Initiativen und eine Rücknahme der überzogenen Deregulierung voraus. Hier läge die große Aufgabe für eine wiedergeborene europäische Sozialdemokratie. Sie könnte auch als einzige der Neuen Mitte die Opfer interpretieren, die dazu von ihr gebracht werden müssen: ein Tausch von Konsumerweiterung gegen Zukunftssicherung, eine dynamisch-konservative Bewahrung des "European Way of Life" und die Entfaltung wissenschaftlich-technischer Kreativität. Technik, mit der sechs Milliarden Menschen leben können, und Zeitwohlstand für die frühindustrialisierten Gesellschaften - das wäre die europäische Vision. Sie könnte sogar skeptische Jugendliche beleben. Mathias Greffrath: Was heißt links?, in: DIE ZEIT, 14. Juli 2005, Nr. 29.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 179 (September 2005), S. 771-780

 

Inhalt des Heftes:

VorSatz; Essay JÖRN SCHÜTRUMPF: Denken "ohne Geländer". Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?; Gesellschaft - Analyse & Alternativen WERNER SEPPMANN: Dynamik der Ausgrenzung. Über die soziostrukturellen Konsequenzen der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse; MICHAELWOLF: "Aktivierende Hilfe". Zu Ideologie und Realität eines sozialpolitischen Stereotyps; RAINER FERCHLAND: Ein regierungsamtliches Paradoxon. Zum Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Standorte ALEXANDER GALKIN: Nach dem Zweiten Weltkrieg: Freigeräumte Wege und nicht beherzigte Lehren; Einstein ALBERT EINSTEIN: Ein Brief wider die Inquisition; SIEGFRIED GRUNDMANN: Albert Einstein - ein Utopist? Anmerkungen zu einem neuen Einstein-Buch von Hubert Goenner; In memoriam FLORIAN DIECKMANN: Zum Tode von Carl Amery; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung; Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1977/78 und 1978/79 (Johannes Scheu); Mario Candeias: Neoliberalismus - Hochtechnologie - Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik (Erwin Riedmann); Günther Moewes: Geld oder Leben. Umdenken und unsere Zukunft nachhaltig sichern (Ulrich Busch); Wolfgang Schwarz: Brüderlich entzweit. Die Beziehungen zwischen der DDR und der CSSR 1961-1968 (Stefan Bollinger); Joschka Fischer: Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens (Jochen Weichold); Berichtigung; Summaries