Von der rot-grünen Krise zur Krise der politischen Klasse

Deutschland vor einer schwierigen und instabilen Regierungsbildung

Joachim Bischoff und Björn Radke analysieren das Wahlergebnis und diskutieren die Herausforderungen für das Linksbündnis von WASG und Linkspartei.PDS.

Die SPD-Führung wollte mit den vorgezogenen Bundestagswahlen zwei Ziele erreichen: Erstens ein erneutes politisches Mandat für die Politik der Agenda 2010. Die Wahlbevölkerung sollte sich angesichts der Zuspitzung auf eine Richtungswahl mehrheitlich für den moderaten Sozialstaatsabbau und gegen die geplante Generalrevision der "sozialen Marktwirtschaft" durch die Parteien des bürgerlichen Lagers entscheiden. Zweitens eine Stabilisierung der sozialdemokratischen Partei, die wegen des brachial durchgesetzten Übergangs auf ein neoliberales Gesellschaftsverständnis erheblich an Mitgliedern und gesellschaftlicher Akzeptanz verloren hatte.

Das Ergebnis der Bundestagswahlen hat diese Zielvorstellung durchkreuzt und ein paradoxes Resultat zustande gebracht:
- Rot-Grün hat im Laufe des Wahlkampfes zwar erheblich Terrain gutmachen können, letztlich ist aber die 2002 äußerst knapp errungene Mandatsmehrheit klar verloren gegangen.
- Die Parteien des bürgerlichen Lagers haben sich als nicht hegemoniefähig erwiesen; es hat eine Verschiebung zugunsten der marktradikalen Position der FDP gegeben, aber eine regierungsfähige Mehrheit ist nicht erreicht worden.
- Die politische Linke - Linkspartei. PDS und Wahlalternative WASG - hat trotz eines großen Kooperationsdrucks - damit vieler ungelöster Fragen auf konzeptionellem und strategischem Gebiet - ein für Deutschland herausragendes Resultat erzielt.

Radikalisierung des Bürgerblocks

Die Parteien des bürgerlichen Lagers sind geschockt. Der als "Vorfahrt für Arbeit" angekündigte Generalangriff auf die sozialen Rechte und den Lebensstandard der lohnabhängigen Bevölkerung hat bei den WählerInnen nicht die erhoffte Resonanz gefunden. Die Unionsparteien wurden regelrecht abgestraft. Sie verloren gegenüber der Bundestagswahl 2002 1,8 Millionen Stimmen und fielen damit auf 35,2% zurück. Unmittelbarer Nutznießer dieses Vertrauensverlustes war die FDP. Eine Million WählerInnen wechselte von den Unionsparteien zum Neoliberalismus pur - offensichtlich in der Hoffnung, damit dem Wankelmut der Christdemokraten in der Schlussphase des Wahlkampfes und dem Gerede über eine große Koalition begegnen zu können. Ein Teil der WählerInnen des bürgerlichen Lagers wollte in der Tat einen radikalen Neuanfang: Marktgesellschaft statt zivilgesellschaftliche Einbettung des Kapitalismus. Unterm Strich hat das bürgerliche Lager gegenüber den letzten Bundestagswahlen an Zustimmung verloren und ist von einer strukturellen Hegemoniefähigkeit weiter entfernt denn je.

Der Arbeitnehmerflügel der Union sieht sich in seiner Kernthese bestätigt: In Deutschland ist mit einer offen auf das Kapital und gegen die sozialen Sicherheitsinteressen der Lohnabhängigen orientierten Politik keine Mehrheit zu gewinnen. Zu Recht konstatiert der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler: "Die Verunsicherung begann mit der Zustimmung zu Hartz IV und wurde verschärft durch das ständige Gerede von der Lockerung des Kündigungsschutzes und vom Aufweichen des Flächentarifvertrages und schließlich durch das Steuerdurcheinander mit Professor Paul Kirchhof. Will man denn so die Arbeitnehmer für sich gewinnen? Den Abbau der Arbeitnehmerrechte soll die Union doch bitte dem Bundesverband der Deutschen Industrie überlassen." Der Widerstand des Sozial- und Gesundheitsexperten der CSU, Horst Seehofer, markiert eine weitere Bruchstelle in der politischen Konzeption der Unionsführung.

Die Politik der "Neuerfindung der sozialen Marktwirtschaft" durch das Team von Angela Merkel ist gescheitert; wenn die CDU-Vorsitzende nicht noch die FDP und die Grünen für eine gemeinsame Koalition des bürgerlichen Lagers zusammenbringen kann, ist auch das politische Ende ihrer Führungscrew angesagt. CDU/CSU mussten die Erfahrung machen, dass sie mit einer Politik des Bruchs mit einer regulierten Marktwirtschaft, der Demontage von Sozialstaat und Arbeitnehmerrechten sowie der Infragestellung des demokratischen Rechtsstaats ihre Existenz als Volkspartei aufs Spiel setzen.

Für den Stimmungsumschwung im Wahlkampf zulasten der Unionsparteien hat der Kirchhof-Faktor eine wesentliche Rolle gespielt. Ganz offensichtlich ist der Unions-Führung mit der Berufung von Professor Kirchhof ein politischer Fehler unterlaufen, der den Sozialdemokraten und den Grünen ihre mediale Inszenierung als Anwälte der sozialen Gerechtigkeit erleichterte (siehe dazu den Beitrag auf den Seiten 9-12 dieses Heftes). Der SPD servierte die Union damit ein polarisierendes Wahlkampfthema.

Abwahl der Agenda

Auch der Agenda 2010 wurde eine Abfuhr erteilt. Die Sozialdemokratie hat gegenüber der Bundestagswahl 2002 rund 2,3 Millionen WählerInnen (davon ca. 1 Million an die Linkspartei) verloren. Da auch die Grünen einen, wenn auch geringeren (-0,3 Millionen) Vertrauensverlust haben hinnehmen müssen, ist - nach einer langen Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen - die "Politik der neuen Mitte" an ihrem Endpunkt angelangt.

Gleichwohl hat die rot-grüne Regierungskoalition im Wahlkampf Terrain gegenüber ihrem Meinungstief im Mai 2005 gut machen können. In der Endphase des Wahlkampfes hat die Logik des kleineren Übels gegenüber der aggressiven Politik des bürgerlichen Lagers enttäuschte WählerInnen und KritikerInnen der Agenda 2010 ein weiteres Mal zur Stimmabgabe für die SPD und die Grünen veranlasst. Wie schon bei den Wahlen 2002 hat die SPD versucht, den Wert sozialer Gerechtigkeit für sich zu reklamieren und frustrierte Wechselwähler zu mobilisieren: mit Heuschrecken-Kritik, Reichensteuer und Schluck aus der Lohnpulle. Originell war das nicht, aber es zeigte das Bestreben, die Pole sozialstaatliche Sicherheit und wettbewerbsorientierte Standortpflege wieder auszubalancieren. Rot-Grün baue den Sozialstaat um, mit dem Ziel, ihn zu erhalten - das war die zentrale Botschaft im Wahlkampf.

Die Nachhaltigkeit dieser Positionierung kann man heute mit noch größerer Berechtigung in Frage stellen als vor drei Jahren. Die RepräsentantInnen der Sozialdemokratie haben sich in den neoliberalen Elitenkonsens eingebunden. Mit massivem innerparteilichen Druck ist es ihnen gelungen, selbst zaghafte Korrekturversuche von Seiten der Parteilinken zu disziplinieren. Doch die Partei in Gänze haben sie auf diesem Weg nicht mitnehmen können - das dokumentieren die Wähler- und Mitgliederverluste.

Unbestritten konnte durch einen furiosen Wahlkampf der SPD, der vom Bundeskanzler entscheidend geprägt wurde, eine noch deutlichere Niederlage abgewendet werden. Zugleich wurde damit erneut die Grundlage für ein bekanntes Verarbeitungs- und Kommunikationsmuster geschaffen: Mit Verweis auf die von den Demoskopen Ende Mai 2005 prognostizierten Umfragewerte von 24% werden einerseits die deutlichen Stimm- und Mandatsverluste zu Nebensächlichkeiten erklärt und andererseits die notwendige Kritik am Kurs und an der Strategie der Parteiführung verhindert. Obwohl das rot-grüne Regierungsprojekt abgewählt wurde, stehen die neue Fraktion und große Teile der Parteiorganisation geschlossen zum Kanzler und zur Parteiführung. Die politische Konstellation wird von bürgerlichen Medien als "Cäsarismus" beschrieben, eine weitgehende Verselbständigung des Führungspersonals, wie sie im Shareholder Kapitalismus auch in den großen Kapitalgesellschaften zu beobachten ist. Der Sozialwissenschaftler Sennett konstatiert zu Recht: "In Großbritannien ist die Labour Party in einem rasanten Verfall begriffen. An die Stelle der traditionellen Partei ist New Labour getreten mit einer völlig zentralisierten Macht und einem Parteiapparat, der allein auf die Person des Premiers ausgerichtet ist." Im modern organisierten Unternehmen wird die Macht auf eine kleine Zahl von Spitzenmanagern konzentriert; insofern begünstigt der Shareholder-Kapitalismus das Diktat, den Führer, dem es völlig gleichgültig ist, was die Mehrheit der Mitarbeiter oder die Mehrheit der Parteimitglieder denkt. Diese auch in der deutschen Sozialdemokratie sichtbare Entwicklungstendenz bringt nach den Bundestagswahlen der SPD-Politiker Sigmar Gabriel auf den Punkt: "Es gibt in der SPD viele, die nun sicher sind, dass Schröder auch über Wasser laufen kann. Ich bekenne freimütig: Ich gehöre dazu."

Historische Zäsur

Die Bundestagswahl 2005 hat in der Tat alle Chancen, als Zäsur in die Entwicklung der Republik und des deutschen Parteiensystems einzugehen.

Damit sind drei zentrale Aspekte angesprochen:

1. Das Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl wird letztlich eine Regierung sein, die an der Logik einer Politik festhält, die mit sozialer Zerrüttung und Verlust an Lebensqualität verbunden ist. Es hat keine stabile Mehrheit gegeben für ein Gesamtkonzept des Gesellschaftsumbaus, von den Finanzen über den Arbeitsmarkt bis zur gesellschaftlichen und sozialen Infrastruktur. Auf der einen Seite wollen die Parteien des bürgerlichen Lagers mehrheitlich einen wirklichen Neuanfang durch Entstaatlichung, De-Regulierung und Dynamisierung des marktwirtschaftlichen Systems. Auf der anderen Seite plädieren die rot-grünen Parteien für einen begrenzten Sozialabbau, um - so ihre Begründung - auch der kommenden Generation noch Wohlstand und soziale Sicherheit zu ermöglichen. Die Parteien werden sich trotz dieser Konflikte auf eine Regierungsformel verständigen, aber die neue Regierung wird instabil sein. Beide gesellschaftspolitischen Konzeptionen haben mit ihrer - wenn auch unterschiedlichen - Ausrichtung auf den Abbau sozialstaatlicher Strukturen sich massive Probleme der Integration und der politischen Repräsentanz der unteren sozialen Schichten eingehandelt.

2. Die Linkspartei hat mit ihrem Erfolg eine große Entwicklungschance: Wenn sie das Linksbündnis nachhaltig organisatorisch verankern kann, dann sehen wir den Beginn einer neuen politischen Konzeption, die gegenüber neoliberalen Anpassungsstrategien für einen regulierten Kapitalismus und eine erneuerte Sozialstaatlichkeit eintritt. Allerdings wird diese Formation sich mit der Transformation der Sozialdemokratie auseinander setzen müssen: wie weit die Parteikader in den neoliberalen Elitenkonsens eingebunden sind; in welchem Maße die ehemalige Mitglieder- und Programmpartei auf die Strukturen und Anforderungen der Mediendemokratie umgepolt worden ist; ob Druck von links auf die Sozialdemokratie dazu führen kann, dass die in der SPD verbliebene Linke erweiterte Aktionsmöglichkeiten erhält. Und schließlich: Die Linkspartei wird letztlich auch nur dann weiter Erfolg haben, wenn sie die wegen der Instabilität des politischen Systems anwachsende Partei- und Politikverdrossenheit auffangen kann.

3. Die zentralistisch-cäsaristischen Strukturen in der Parteipolitik, verbunden mit einer erhöhten Instabilität des politischen Systems, werfen für die künftigen politischen Entwicklungen und Konflikte erneut die Frage nach der Stabilität demokratischer Willensbildungsverhältnisse auf. Diesen mächtigen Tendenzen der Transformation des politischen Systems könnte nur eine politische Aufwertung der Zivilgesellschaft gegenhalten. Dies wird mit verstärktem bürgerschaftlichen Engagement allein nur schwer zu leisten sein. Die Linkspartei könnte sich als ein Anwalt profilieren, der zivilgesellschaftlichen Druck aufgreift, ins politische System einbringt und dessen verharschte Strukturen aufbricht.

Was erwartet die Bevölkerung?

Die Wahlbevölkerung - das zeigen die aktuellen Untersuchungen - hat ein klares Bewusstsein von den großen gesellschaftlichen Problemen: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Verschlechterung der Altersrenten, Sparpolitik im Gesundheitsbereich, Privatisierung der öffentlichen Dienste.

Seit Jahren sind die wirtschaftlichen Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung von Pessimismus und Skepsis geprägt. In weiten Kreisen ist man überzeugt, dass die Stagnation der deutschen Wirtschaft keine vorübergehende Schwächephase ist, die bald überwunden sein wird. 77% der Bevölkerung setzen die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme - nach der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - auf den zweiten Rang ihrer Forderungen; dabei gehört für 66% zu den politischen Prioritäten der nächsten vier Jahre, dass die Sozialleistungen nicht weiter gekürzt werden. Durchgängig zeigen die Untersuchungen zur "Reformbereitschaft" der Bevölkerung den Widerstreit zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit von "Reformen" und der Sorge, selbst weitere Einschränkungen auferlegt zu bekommen. Von einer CDU-geführten Regierung erwartet die Mehrheit der Bevölkerung neben einer Erhöhung der Mehrwertsteuer die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre sowie massive Einsparungen des Staates und einen gravierenden Abbau staatlicher Subventionen. Das ist kein Pessimismus, sondern Realismus pur.

Das Problembewusstsein über die aufgelaufenen sozioökonomischen Probleme ist demnach groß. Gleichzeitig gibt es keine eindeutige Mehrheit für eine der beiden neoliberalen Sanierungsvarianten. Die politische Alternative des Linksbündnisses war überzeugend genug, sowohl eine Mehrheit für die bürgerliche "Agenda Arbeit" als auch für die Fortführung der rot-grünen Agenda 2010 zu verhindern. Wie in der vorherigen Legislaturperiode sind die neoliberalen Parteien gezwungen, mit einer großen Koalition oder in einer anderen Variante eines Mehrparteienbündnisses ihren Gesellschaftsumbau in Richtung auf eine Marktgesellschaft fortzuführen.

Gleichzeitig verharren relevante Teile der Bevölkerung in Resignation bei wachsendem Vertrauensverlust in die Institutionen und Formen demokratischer Willensbildung. Der Rückgang der Wahlbeteiligung um 1,7 Prozentpunkte ist dafür ein Indiz. Dem Linksbündnis ist es offensichtlich nicht ausreichend gelungen, diesen Bevölkerungsgruppen seine politischen Alternativen zu verdeutlichen.

Hoffnung Linkspartei

WASG und Linkspartei.PDS haben dennoch ein hervorragendes Ergebnis erstritten. Es ist dem engagierten Wahlkampf des Linksbündnisses zuzuschreiben, dass Deutschland eine radikale Version der neoliberalen Agenda erspart bleibt. Zugleich hat das Linksbündnis entscheidend dazu beigetragen, dass rechtsextreme Parteien aus der Enttäuschung über die politische Klasse und die etablierten Parteien keine relevante Unterstützung organisieren konnten. Allerdings gilt es hier regional zu differenzieren. So konnte die rechtsradikale NPD in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen deutliche Stimmengewinne verzeichnen.

Die Aufgabe des Linksbündnisses ist eindeutig. Jede gegenwärtig gehandelte Regierungskoalition muss mit entschiedenem Widerstand rechnen. Es gibt politisch-gesellschaftliche Alternativen zu ökonomischer Stagnation, Massenarbeitslosigkeit, Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme, desaströsen öffentlichen Finanzen, ökologischem Raubbau und als Terrorismusbekämpfung kaschierter Kriegspolitik. Die Popularisierung von gerechten sozialen und politischen Alternativen - nicht nur aus den Strukturen einer linken Fraktion heraus - ist die Hauptaufgabe, um breitere gesellschaftliche Verankerung zu erreichen.

Das Linksbündnis wird sich dafür einsetzen, dass die gesellschaftliche Opposition gegen den neoliberalen Umbau des Sozialstaates gestärkt wird. Beide Parteien müssen in den nächsten Monaten daran gehen, mit Augenmaß und Energie den Prozess der Vereinigung voranzutreiben. Über dessen Tempo und die Formen, in denen er vollzogen wird, werden die chaotischen Mehrheitsverhältnisse unter den neoliberalen Parteien mit entscheiden. Selbstverständlich macht es unbedingt Sinn, dass sich die Parteien des Linksbündnisses die Zeit für unumgängliche Klärungsprozesse nehmen. Sollten die wirtschaftlichen und politischen Eliten angesichts der offenen Machtfragen auf baldige Neuwahlen drängen, muss auch die politische Linke einen deutlichen Schritt weiter sein. Die Wiederholung einer raschen Verständigung unter Führung der Linkspartei.PDS sollten wir uns ersparen. Die Wahlalternative hat in den letzten Monaten bewiesen, dass sie zu einem geschlossenen und zügigen Handeln in der Lage ist, falls sie durch politisch-gesellschaftliche Umstände dazu aufgefordert wird.

Was bedeutet die Neuerfindung der Linken in einer neuen politischen Formation? Die Grundlage des Erfolges der zurückliegenden Monate liegt in der Anerkennung des pluralistischen Charakters des Wahlbündnisses. Die Linke hat in großer Zahl und in einer neuen Qualität zusammengearbeitet, anstatt ihre Unterschiede als Ab- und Ausgrenzungsmerkmale zu kultivieren. Wir müssen nicht alle Fragen und strategischen Überlegungen abschließend geklärt haben, um wirksam Widerstand gegen den neoliberalen Gesellschaftsumbau organisieren zu können. Wir haben uns auf realisierbare und wählbare Alternativen verständigt und sollten diese Spannung zwischen politischem Handeln und einer selbstkritischen Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den verschiedenen Denkansätzen und Begründungszusammenhängen als positiven Schritt begreifen.

Öffnung zur Gesellschaft

Zu den wirklichen Fortschritten der politischen Linken gehört auch die Öffnung gegenüber den anderen Strukturen der Zivilgesellschaft. Wir setzen uns für die vielen sozial Ausgegrenzten und Benachteiligten ein, indem wir uns ihre Überlegungen und Vorschläge zu eigen machen. Das gilt auch für den Bereich der gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Über 2.000 GewerkschafterInnen haben einen Wahlaufruf für das Linksbündnis unterstützt.

Nichts zeigt deutlicher als die Auseinandersetzung um die soziale Gestaltung von Lohnarbeit und Wirtschaft, wie sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse und die bisherigen Grundnormen unseres Arbeitens und Zusammenlebens durch die neoliberale Politik in Frage gestellt worden sind. Die Parteien des bürgerlichen Lagers hatten auf diesem Feld einen Richtungswechsel angekündigt. Die sozialen Rechte der Beschäftigten und die grundgesetzlich verankerte Tarifautonomie sollten ausgehebelt werden. Dieser angedrohte tarifpolitische Systemwechsel ist vor dem Hintergrund der vielfältigen Formen der Schwächung und Unterminierung des gesellschaftlichen Regulationssystems des Kapitalismus zu sehen.

Seit Ende der 1970er Jahre hat der in zähen historischen Kämpfen mühsam zivilisierte Kapitalismus viele Formen der gesellschaftlichen Kontrolle und Steuerung abgestreift. Sowohl die gewerkschaftlich Aktiven als auch die vielen anderen zivilgesellschaftlichen Interessenorganisationen sehen, dass eine umfassende Re-Regulierung oder Re-Zivilisierung des Profitsystems auf die Tagesordnung gesetzt werden muss, denn allein der ansonsten unverzichtbare Kleinkrieg gegen das System kann die chronische Verschiebung in den Verteilungsverhältnissen und die anhaltende Verschlechterung des Lebensstandards nicht mehr korrigieren.

Eine gemeinsame politische Formation der Linken kann zum Ort der Verständigung, der Verabredung des Widerstandes und der Diskussion über eine demokratische Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung werden.

Joachim Bischoff und Björn Radke sind Mitglieder im Bundesvorstand der Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG).

in: Sozialismus Heft Nr. 10 (Oktober 2005), 32. Jahrgang, Heft Nr. 292, S. 2-5.

Weitere Artikel im Heft:

Christoph Lieber: Wozu eine Linkspartei? Richard Detje: Rifondazione! Neugründung der deutschen Linken; Joachim Bischoff: Aufstieg und Fall von Paul Kirchhof. Zum Wahlkampfstar doch nicht geeignet; Katje Kipping / Ronald Blaschke: "Und es geht doch um ..." - das Gespenst des Grundeinkommens; Daniel Kreutz: "Bedingungsloses Grundeinkommen". Verwirrung, Fallen und Legenden; Joachim Bischoff / Julia Müller: Nische Grundeinkommen oder Aufhebung der Entfremdung? Michael Opielka: Zweite Deutsche Einheit. Parteienformierungen und das politische Projekt Wohlfahrtsstaat; Richard Detje / Otto König: Wendepunkte und Systemwechsel im Tarifsystem; Michael Wendl: Öffentlicher Dienst - Abschied vom einheitlichen Entgeltniveau? Ingo Schmidt: Exportweltmeister träumt von der Sozialpartnerschaft; John P. Neelsen: In Opposition zum globalen Kapitalismus. Die Neuen Sozialen Bewegungen; Joachim Bischoff / Michael Wendl: Vordenker der SPD - Peter Glotz; Peter Glotz: Gramsci und die Europäische Linke; Klaus Steinitz: Moderne Politische Ökonomie - unverzichtbar für linke Wirtschaftspolitik (zu Christa Luft: Wendeland); Wolfgang Heyn: Wer war Judith Auer? Ulrich Busch: Pluspunkte und Defizite alternativer Wirtschaftspolitik (zu Klaus Steinitz: Chancen für eine alternative Entwicklung); Hasko Hüning / Julia Müller: "Land of the Dead" (Filmkritik)