Volkspartei SPD?

Einleitung zum Heftschwerpunkt spw 145

Die beiden großen Volksparteien haben massiv an Vertrauen verloren und stehen vor einer Zeitenwende. Befinden wir uns inmitten eines Zersplitterungsprozesses des politisch-parlamentarischen Systems?

Die Bundestagswahl ist vorüber. Sie hat in mehrerer Hinsicht eine Neuordnung im parlamentarischen System eingeleitet: Mit der Linkspartei.PDS ist eine neue politische Formation in den Bundestag eingerückt. Rot-Grün hat sieben Jahre nach parlamentarischer Umsetzung des sozial-ökologischen Projekts keine Mehrheit mehr. Gerhard Schröder hat für seine Politik keine neue Bestätigung erhalten. Aber auch CDU/CSU und FDP haben für ihren marktradikalen Neuanfang keine Mehrheit unter der Bevölkerung gefunden. Im Gegenteil: Seit 1998 hat das bürgerliche Lager (sofern wir die Grünen nicht dazu nehmen) kontinuierlich an Zustimmung verloren, das linke Lager aber ist gestärkt worden. Die Kommentatoren waren überrascht. Stehen wir vor einer ratlosen parlamentarischen Demokratie? Allein die Tage nach der Wahl haben gezeigt, wie ungewohnt und unbedarft die Verantwortlichen in der Politik mit dieser neuen Situation umgehen.
Vertrauenskrise der Volksparteien
Eines überlagert alle diese Entwicklungen: Die beiden großen Volksparteien haben massiv an Vertrauen verloren und stehen vor einer Zeitenwende. Die SPD hat mit gut 34 Prozent ihr drittschlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik eingefahren. Die Union hat gegenüber den Umfragewerten erheblich verloren und mit lediglich 35,2 Prozent ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit 1949 erzielt. Offenbar befinden wir uns inmitten eines Zersplitterungsprozesses des politisch-parlamentarischen Systems. Mit offenem Ausgang.
Zentrales Moment dieses Prozesses ist, dass beide Volksparteien ihre Integrations- und Bindefähigkeit in ihrem Milieus sukzessive verlieren. Dies hat nicht unerheblich mit dem programmatischen und politisch-praktischen Bruch mit wohlfahrtsstaatlichen Traditionen zu tun. Während die SPD mit der Agenda 2010 in ihren eigenen Milieus stark an Zustimmung verliert, hat die Union in ihrer eigenen Wählerschaft keine Mehrheit für ihr marktradikales Programm erreichen können. Die Freiburger Politikwissenschaftler Oberndörfer, Mielke und Eith konstatieren schlicht:
"Die Sozialdemokraten wie nunmehr auch die Christdemokraten haben sich mit der programmatischen Ausrichtung ihrer jeweiligen Parteiführungen auf einen mehr oder minder drastischen Abbau wohlfahrtsstaatlichen Strukturen dramatische Integrationsprobleme bei ihren Anhängern in der Arbeiterschaft und in den unteren Mittelschichten eingehandelt. Zur Disposition steht nichts geringeres als die strukturelle Mehrheitsfähigkeit der beiden Volksparteien."
Diese fehlende Binde- und Integrationsfähigkeit vor allem der SPD hat sich in den letzten beiden Jahren bereits abgezeichnet und hat nicht zuletzt den Aufstieg der Linkspartei beflügelt.
Perspektiven der SPD als linke Volkspartei?
Innerhalb der Sozialdemokratie existieren nun zwei Entwicklungslinien: Während die sozialdemokratische Linke vor dieser Entwicklung stets warnte und eine konsistente Politik für die abgehängten wie aufstrebenden Milieus einforderte, gerät das Konzept Volkspartei innerhalb der SPD immer mehr in die Defensive.
Offen wird vor allem im sozialliberalen Bereich der Bruch mit der Volkspartei vorangetrieben und die Lösung von arbeitnehmerischen Traditionen der SPD vorgeschlagen. Zustimmung erhält diese Position aus dem Lager der Parawissenschaft und der Demoskopie, welche die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse zum Ausgangspunkt der Aufkündigung tradierter Parteibindungen nehmen. Die traditionelle Industriearbeiterschaft wird (zahlenmäßig und kulturell) als im Niedergang begriffen, sozial Ausgegrenzte zum Potenzial der Wahlenthaltung gerechnet sowie die Kernwählerschaft der SPD als nicht mehr vorhanden bezeichnet. Daraus wird ein Parteienleitbild abgeleitet, das zwischen politisch-programmatischen "Milieu-Surfen" (das SPD-Wahlmanifest ist ein Paradebeispiel dafür) einer "Catch-All-Party" und Wahlkampfmaschinerieparteien US-Amerikanischen Vorbild pendelt.
Michael Vester macht in seinem Beitrag deutlich, dass es eine relative Stabilität in den Klassenmilieus mit ihren Mentalitäten, Wertsystemen und sozialen Ordnungsvorstellungen gibt. Die "Milieus der Arbeitnehmer haben also nach Art von Familienstammbäumen jüngere und modernere Zweige gebildet." (S. 16) Die Wahlniederlagen der Volksparteien resultieren seines Erachtens nicht aus einer zunehmenden "Volatilität" der WählerInnen, sondern einer Ausdifferenzierung, da sie ihre Interessen in den Volksparteien zunehmend weniger vertreten sehen: entweder in zunehmende Wahlenthaltung oder aber durch Wahl kleinerer Parteien, wobei v.a. die Linkspartei.PDS viele enttäuschte traditionelle SPD-WählerInnen für sich gewinnen konnten.
Während Vester eine Zukunft für die Volksparteien nicht ausschließt, wenn es ihnen wieder gelingt, die "Aushandlungsstrategien" zwischen den Milieus wieder zu etablieren, hält Franz Walter das Zeitalter der Volksparteien für überholt. Nicht nur, dass internationale Vergleiche zeigen, dass sozialdemokratische Volksparteien nicht mehr selbstverständlich über 30% des Wählerpotenzials mobilisieren können - das gilt für die niederländische PvdA ebenso wie für die italienischen oder auch skandinavischen sozialdemokratischen Parteien. Walter weist vor allem darauf hin, dass die Ausdifferenzierungen der Parteienlandschaften der Ausdifferenzierung der Milieus folgen und somit viel authentischer Positionen entwickelt und vertreten werden könnten, als dies in den traditionellen Volksparteien möglich gewesen wären.
Alles Mitte, oder was?
Wie unreflektiert innerhalb der SPD Debatten über die Zukunft der linken Volkspartei geführt werden, zeigen nicht zuletzt die Auseinandersetzung um den Wahlausgang und dessen Folgen. Während der Parteivorsitzende die SPD als Partei der "linken Mitte" positionieren will, warnten der amtierende Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und Peer Steinbrück unisono vor einem "Linksruck" der SPD und forderten die Orientierung der SPD in der Mitte des politischen Systems. Die "Mitte" oder auch die "neue Mitte" ist dieser Denkrichtung zu einer politischen Leerformel geworden, ebenso wie "neu", "modern" oder "radikal". Irgendwo zwischen links und rechts wird schon die "Mitte" sein. Unterm Strich bleibt davon allerdings nicht viel mehr als opportunistischer "Zentrismus", Politik nach Notwendigkeiten und Alternativlosigkeiten mit neoliberalem Vorbild. Eine solche auf kurzfristige Zustimmung ausgerichtete Politik ist allerdings alles andere die Zukunft der SPD als Volkspartei. Die letzten sieben Jahre haben dies ausreichend gezeigt, wie der Leiter der DGB-Grundsatzabteilung, Hans-Joachim Schabedoth, in seinem Beitrag darlegt.
Einig sind sich alle Autoren im Schwerpunkt, dass es ein Fehler sei, sollte die SPD ihre Koalitionsoptionen allein auf die Zusammenarbeit mit CDU/CSU beschränken. Nicht nur Stephan Bliemel aus Mecklenburg-Vorpommern wirbt für eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Linkspartei.PDS. Auch Michael Schmidt, bis vor einigen Monaten Unterbezirksvorsitzender der SPD Leverkusen und nach Selbstbekundung ein "Mann der pragmatischen Mitte", plädiert für eine selbstbewusste Diskussion mit der Linkspartei.PDS und will eine künftige Zusammenarbeit nicht ausschließen.
Die sozialdemokratische Linke hat sich immer am Konzept der Volksparteien orientiert und dieses Leitbild auch in den tagespolitischen Auseinandersetzungen hoch gehalten. Dies nicht als Selbstzweck, sondern als strukturalistische Notwendigkeit, um für linke, radikalreformerische Politik parlamentarische Mehrheiten in modernen repräsentativen Demokratien zu erlangen. Zugleich geht es uns stets um einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen sozialdemokratischen Milieus, ein Bündnis zwischen Aufsteigern und Ausgegrenzten sowie die organisatorische, kulturelle und personelle Verankerung in den relevanten Teilen der Gesellschaft. Wir wissen aber zugleich, dass dies heute kaum mehr gegeben ist und erheblichen Anteil an der Strukturkrise der SPD hat. Es stellt sich daher nach dieser Bundestagswahl die Frage nach der Zukunft der Volkspartei SPD.
Vorschläge zur Parteireform und zur programmatischen Weiterentwicklung der Volkspartei sind stets als Anforderung an die Linke gestellt worden. Deshalb muss die SPD-Linke, will sie gesellschaftliche Entwicklungen nicht verschlafen, ihr Parteienleitbild neu überdenken und organisatorische wie programmatische Strategien für die Zukunft einer linken, sozialdemokratischen Volkspartei entwerfen. Wolf Kutzer, der für den SPD Bezirk Hannover an der Beck-Kommission teilgenommen hat, kritisiert in seinem Beitrag die unzureichenden Vorschläge zur Parteireform. In ihrem Beitrag auf der DL21-Tagung am 24. September weist Andrea Nahles zu Recht darauf hin, dass die notwendige Organisationsreformen in der SPD zur Zeit wohl eher als Prozess der kontinuierlichen Verbesserung initiiert werden müsse (hier im Heft auf S. 5/6).
Die SPD braucht wieder eine eigene "Erzählung"
Horst Heimann greift in seinem Beitrag die Vorschläge auf, die Björn Böhning und Reinhold Rünker in vor einiger Zeit zur Entwicklung der Zeitschrift spw gemacht hatten: Entlang "großer Linien" solle spw Alltagsphänomene theoretisch kontrovers diskutieren (vgl. spw 143). Heimann kritisiert nun, dass der Sozialdemokratie eine eigene "Erzählung", eine eigene Darlegung der Weltsicht und Zukunftsperspektiven fehle: "Wie kann eine "erneuerte sozialistische Theorieaneignung" möglich sein, wenn nicht einmal zu klären versucht wird, was "sozialistisch" eigentlich bedeuten könnte?! Auch die anschwellende Freude darüber, dass "Kapitalismuskritik" sogar wieder "von oben" abgesegnet wird, sollte durch die Einsicht relativiert werden: Wer vom Sozialismus nicht reden will, sollte auch den Kapitalismus nicht kritisieren". Recht hat er.

Erschienen in spw 145 (September/Oktober 2005)