Zukunft der Gewerkschaften

Einleitung zum Heftschwerpunkt spw 144

"Zukunft der gewerkschaftlichen Interessenvertretung" lautete der Titel der Frühjahrstagung von SPW und ProMS Nord, die in Kooperation mit der IG Metall Jugend im Bezirk Küste durchgeführt worden ist. Ca. 50 Teilnehmer aus der sozialdemokratischen Linken sowie aus der gewerkschaftlichen und betrieblichen Praxis diskutierten, wie die derzeitigen betrieblichen Realitäten zu fassen sind und wie eine gewerkschaftliche Antwort auf die ökonomische Krise und ihre Rückwirkungen auf die politische Sphäre aussehen kann.
Mit diesem Schwerpunktheft sollen diese Aspekte vertiefend aufgegriffen und dokumentiert werden. Vor allem soll die Entwicklung der Gewerkschaften hier zunächst eigenständig beachtet werden. Erst in einem zweiten Schritt soll das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und einer sich wandelnden Parteienlandschaft beachtet werden. Dieses grundsätzlichere Vorgehen scheint notwendig, weil vor allem in den letzten sieben Jahren rot-grüner Regierungspolitik zu sehr nur auf das Verhältnis der Gewerkschaften zur SPD geschaut wurde und die gewerkschaftliche Organisationsentwicklung - gerade unter geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingen - zu sehr in den Hintergrund geraten ist.
Doppelcharakter der Gewerkschaften
Innerhalb kapitalistischer Ökonomien zeichnen sich Gewerkschaften durch einen Doppelcharakter aus, der sich aus dem Lohnverhältnis ergibt. Als Interessenvertreter der Arbeit haben sie die Aufgabe, für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten sowie sichere und nicht gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen zu streiten. Hierfür hat sich in der Bundesrepublik mit dem Flächentarifvertrag und Tarifverhandlungen verglichen mit anderen Ländern ein recht institutionalisiertes und selbst bei der Kampfform des Streiks geregeltes Verfahren herausgebildet. Hervorzuheben ist, dass es bei kollektivvertraglichen Regelungen um die Ausschaltung der Konkurrenz der Arbeiter untereinander geht. Wie sich diese ökonomisch-soziale Funktion verwirklichen lässt, wird angesichts von Arbeitszeitverlängerungen in vielen Branchen und einer sich ausdifferenzierten Mitgliedschaft der Gewerkschaft noch aufzugreifen sein. Die politische Funktion beinhaltet das gesellschaftspolitische Mandat zur Interessenvertretung der Lohnabhängigen in der politischen Sphäre und darin vor allem sozial- und wirtschaftspolitische Konzepte jenseits der Logik maximaler privatwirtschaftlicher Profitaneignung bis hin zur Infragestellung des Lohnverhältnisses insgesamt. Beide Funktionen wurden historisch von den Gewerkschaften selbst immer unterschiedlich stark gewichtet, dennoch speist sich gewerkschaftliche Praxis immer aus beiden Momenten.
Milieudifferenzierung und Organisationsgrad
Es ist zur Binsenweisheit geworden, dass Gewerkschaften sich angesichts einer sich wandelnden Beschäftigtenstruktur stärker an den verschiedenen Ansprüchen der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen orientierten müssen. Michael Vester (Uni Hannover) setzt sich anknüpfend an Bourdieu anhand einer Milieuanalyse für Deutschland damit auseinander, wie die verschiedenen Gruppen von Arbeitnehmern durch Gewerkschaften mit Hilfe verschiedener Ansprachestile gewonnen werden können. Er hebt neben einer Kompetenzrevolution der Arbeit eine relative Stabilität der Milieus hervor. Entgegen der vorschnellen Annahme, dass die sich neu entwickelten gehobenen Dienstleistungsmilieus von Solidarität, kollektiver Interessenvertretung und Sozialstaat verabschiedet hätten, betont Vester, dass diese Gruppen für Gewerkschaften prinzipiell gewinnbar sind. Gleichwohl konnten Gewerkschaften hier bisher nur unzureichend glaubhaft einen Dialog entwickeln. Keinesfalls können die Defizite der Gewerkschaften auf eine mangelnde Öffentlichkeitsarbeit reduziert werden, vielmehr hat auch der seit den 1980ern entwickelte militante Anti-Keynesianismus in Medien, Wissenschaft und Politik als Negation aller politischen Einflussnahme auf die ökonomische Sphäre zu einer Hegemonieverschiebung geführt.
Dies drückt sich materiell darin aus, dass der gewerkschaftliche (Netto-)Organisationsgrad seit den 1980ern rückläufig ist. Vertiefend setzen sich Eckhart Seidel und Michael Schlese in ihrem Artikel mit der sozioökonomischen Basis der Gewerkschaften auseinander und empfehlen eine offensive Herangehensweise an neue Zielgruppen. Eine aktuelle Studie des Soziologen Heinrich Epskamp (HWP Hamburg) fasst das Rekrutierungsdilemma der Gewerkschaften bei Hochqualifizierten so zusammen, dass diese Gewerkschaften mit schwächeren und damit eher schutzbedürftigen Arbeitnehmern assoziieren. So sind bei hochqualifizierten Arbeitnehmern vielfach Einstellungen vorzufinden, die Gewerkschaften nicht als Wegbereiter der eigenen Erwerbsbiografie verstehen. Wohlgemerkt sind Hochqualifizierte damit nicht gegen Gewerkschaften eingestellt, vielmehr besteht eher ein Nichtverhältnis. Hier sollten Gewerkschaften verstärkt Visionen für das gesamte Leben anbieten, doch braucht es auch eine radikale Änderung der Betriebspolitik.
Die neue Bezirksleiterin der IG Metall Küste, Jutta Blankau, berichtet von der betriebspolitischen Offensive des IG-Metall-Bezirks. Ausgehend von der Überlegung, dass die über Betriebsräte und den haupt- und ehrenamtlichen Gewerkschaftsapparat vermittelte Stellvertreterpolitik immer stärker auf Grenzen trifft, wirbt sie für eine stärker beteiligungsorientierte Betriebspolitik. Diese sollte zwar von Seiten der Gewerkschaften mit einer orientierenden Position verbunden sein, gleichwohl sollen stärker die diversifizierten betrieblichen Realitäten Berücksichtigung finden. Das Motto "Mal hören und nicht die Leute vollquatschen" drückt diese Überlegung aus, die im Beitrag von Jutta Blankau und Daniel Friedrich nachvollzogen werden kann. Bei Arbeitsauseinandersetzungen in Kiel waren in Unternehmen durch eine entsprechende Betriebspolitik beachtliche Organisationserfolge zu erzielen. Auch hier wurde die Veränderung der Beteiligungspraxis als zentral für eine erfolgreiche Gewerkschaftspolitik sowie eine neue Kultur des Nein-Sagens hervorgehoben. Diese Beispiele zeigen, dass gewerkschaftliche Handlungsoptionen bestehen, die zu einer Umkehrung des Trends und für einen steigenden Organisationsgrad genutzt werden können. Mit der ökonomischen Basis der Angriffe auf den Flächentarifvertrag setzt sich Heinz Bontrup in seinem Beitrag auseinander, einen kurzen Überblick über einige Trends der Tarifpolitik gibt Kai Burmeister.
Gewerkschaften - gute Arbeitsbedingungen - Konsumentenmacht
Eine Erweiterung der gewerkschaftlichen Aktionsfähigkeit könnte in der Anrufung des kritischen Konsumentenverhaltens verbunden mit einer öffentlichen Skandalisierung von umwürdigen Arbeitsbedingungen liegen. Ein gutes Beispiel hierfür lieferte kürzlich das "Schwarzbuch LIDL" von Ver.di, in dem auf die miserablen Arbeitsbedingungen in den Unternehmen des Schwarz-Konzerns hingewiesen worden ist. In der Öffentlichkeit fand das LIDL-Schwarzbuch eine große Resonanz. Ob diese Aktion tatsächlich zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen geführt hat, muss eine vertiefte Auswertung zeigen. Einen ähnlichen Ansatzpunkt verfolgt die Aktion "Tarif-TÜV" für Kfz-Werkstätten durch die IG Metall. Durch den Tarif-TÜV werden Kfz-Werkstätten öffentlich positiv hervorgehoben, in dem Arbeitnehmer zu Tarifbedingungen beschäftigt sind.
15 Stunden Arbeit pro Tag, unbezahlte Mehrarbeit und miese Arbeitsbedingungen kennzeichnen die Situation in vielen Sweatshops auf der Südhalbkugel, in denen Kleidung und andere einfache Konsumgüter produziert werden. Es gibt zwar ermutigende Beispiele wie Nike und H&M, bei denen Initiativen den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und kritisches Konsumentenbewusstsein zusammenbringen konnten. Doch bilden diese Beispiele immer noch eine Ausnahme und bei weniger sensiblen Gütern werden schnell die Grenzen dieses Ansatzes deutlich.
Ergänzend ist daher eine Verstätigung der klassischen internationalen Gewerkschaftsarbeit notwendig. Michael Linnartz stellt hierfür beispielhaft das Projekt Observatorio Social vor, das in der Chemiebranche eine globale Vernetzung von Arbeitnehmervertretern ermöglichen soll. Der Beitrag von Wolfgang Weinz, Sekretär der internationalen Lebensmittelgewerkschaft in Genf, setzt sich mit der Frage auseinander, wie Mitbestimmung unter Bedingungen internationaler Konkurrenz zukunftsfest gemacht werden kann. Weinz Plädoyer geht klar in die Richtung einer Internationalisierung und Europäisierung der deutschen Gewerkschaftsarbeit.
Gesellschaftspolitisches Mandat
Die Demonstration in Brüssel gegen die Dienstleistungsrichtlinie kann als Erfolg und Beleg prinzipiell vorhandener politischer Mobilisierungsfähigkeit europäischer Gewerkschaften gewertet werden. Gleichwohl ist die Gegenseite momentan überlegen, was u.a. an der medialen Wirkung der von den Arbeitgeberverbänden finanzierten und gesteuerten "Initiative neue soziale Marktwirtschaft" festzumachen ist. Auf diesen Aspekt geht Konrad Klingenburg in seinem Beitrag ein. In den Gewerkschaftsapparaten findet derzeit keine kontroverse Diskussion über das politische Mandat der Gewerkschaften statt. Problematisch ist hier vor allem, dass die richtigen Mittel noch nicht gefunden sind, um es unter den gegenwärtigen Bedingungen wahrzunehmen. Subtilere und wirksamere Strategien als die Unterstützung bestimmter Parteien und Akteure im Politikbetrieb wären dringend gefragt.
Michael Guggemos (IG Metall) betont, dass die Gewerkschaften vor allem den Kampf um die "Würde der Arbeit" zur Hauptaufgabe machen müssten. Auf diesem Feld und nicht in tagespolitischen Auseinandersetzungen wie denen um die Agenda 2010 werde sich die Zukunft der Gewerkschaften entscheiden. Damit wurde auch die Frage aufgeworfen, wie die Auseinandersetzungen um "Hartz IV" gewerkschaftspolitisch einzuschätzen sind. Sieht man den Kern gewerkschaftlicher Aufgaben darin, die Interessen und die Würde der Arbeitenden im Betrieb, in der Wirtschaft und Gesellschaft zu vertreten, so kann die Auseinandersetzung um die soziale Sicherung Langzeitarbeitsloser nur insofern zentrale Bedeutung haben, als davon Rückwirkungen auf die Arbeitenden ausgehen, etwa durch den Druck auf die Löhne und die "Ein-Euro-Jobs". Andere Fragen rund um "Hartz IV" sind dann aber notwendig für Gewerkschaften randständig und müssen von anderen Bewegungen und Organisationen artikuliert werden, die für Gewerkschaften Bündnispartner sein können. Sieht man aus ethischen oder politischen Gründen die Frage des Existenzminimums und die Organisationsfähigkeit der Marginalisierten als zentral an, so verändert sich die Einschätzung. Tatsächlich schwankte die gewerkschaftliche Umgehensweise mit "Hartz IV" letztlich unentschieden zwischen beiden Strategien, behauptete teilweise eine Mobilisierungsfähigkeit, die nicht vorhanden war und konnte so niemanden wirklich zufrieden stellen.
Heiße Auseinandersetzungen - kalte Zeiten?
Die Stärkung der konservativ-liberalen Kräfte im Deutschen Bundestag nach der Wahl am 18. September wird für die Gewerkschaften einen Angriff auf die gesetzliche Grundlagen von Mitbestimmung und Tarifautonomie bedeuten. Wie sich die rhetorische Kampfansage Gewerkschaften als "Plage" (Westerwelle) tatsächlich real auswirken wird, wird nicht zuletzt von der Fähigkeit des DGB und seiner Einzelgewerkschaften abhängen, Massenproteste organisieren zu können. Allein die Straße als Ort der Auseinandersetzung wird dabei nicht ausreichend sein, gesellschaftlicher Protest muss betrieblich untermauert sein. Die Schlüsselfrage für die Gewerkschaften wird sein, ob sie die gesetzlichen Verschlechterungen durch eigene Stärke in den Betrieben ausgleichen kann.
Sicherlich werden die Angriffe auf Tarifautonomie und Mitbestimmung grundsätzlich sein. Im "10-Punkte-Sofort-Programm" der CDU-Bundestagsfraktion wird u.a. gefordert, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit ein rechtliche Grundlage erhalten sollen. Übersetzt heißt dies, dass § 77 Abs. 3 BetrVG geändert würde und Tarifverträge damit zu unverbindlichen Mustern würden. Mit einer Neudefinition des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Tarifvertragsgesetz) wollen die Konservativen versuchen, Betriebsräte und Gewerkschaften gegeneinander auszuspielen. Weiterhin steht zu befürchten, dass die Unternehmensmitbestimmung in Aufsichtsräten beschränkt werden soll und der Kündigungsschutz für Kleinbetriebe aufgehoben wird. In den CDU-Sozialausschüssen gibt es bereits Unruhe über diese Frage.
Für die im Frühjahr 2006 anstehende IG Metall-Tarifrunde bedeutet dies, dass über die Lohnforderungen gegenüber Gesamtmetall die politische Auseinandersetzung mit der Parlamentsmehrheit verstärkt werden muss. Nach der Bundestagswahl wird sich unabhängig vom Ergebnis die Frage nach dem Verhältnis der Gewerkschaften zur Bundesregierung und allen Oppositionsparteien funktionaler und rationaler stellen lassen. Jede neu gebildete Regierung könnte stärker als die jetzige Schröder/ Fischer/ Clement-Regierung darauf achten müssen, nicht nur in den Medien, sondern auch in der Bevölkerung Zustimmung und Vertrauen zu vermitteln. Sind Gewerkschaften glaubwürdige Interessenvertreter der Würde der Arbeit, so können sie dabei eine Schlüsselrolle spielen.