Brasilien: Die Selbstdemontage der PT

Die brasilianische Linke ist tief geschockt und verwirrt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Hunderttausende ihr Leben dem Aufbau der PT...

...als prinzipienfestes und machtvolles Instrument für soziale Gerechtigkeit gegen eine der korruptesten und ungerechtesten herrschenden Eliten der Welt gewidmet. Nun müssen sie mit der Prinzipienlosigkeit ihrer eigenen Partei fertig werden.

Die genauen Einzelheiten der Korruption werden noch untersucht. Es wird allgemein zugegeben, dass die cúpula, die Führungsgruppe der PT, politische Parteien der Rechten bestochen hat, damit sie im Kongress der PT- geführten Allianz beitreten, und an rechte Kongressabgeordnete monatliche Zahlungen getätigt hat, um ihr Abstimmungsverhalten zu beeinflussen.

Was die Gesetzgebung betrifft, so hat Lula neoliberale Reformen durchgesetzt, auf die ein Tony Blair stolz sein könnte. Dazu gehören die Reform - tatsächlich die teilweise Privatisierung - des extrem ungerechten staatlichen Rentensystems, wobei die Ungleichheiten nahezu unangetastet blieben, und die Änderung der relativ radikalen, obwohl widersprüchlichen, Landesverfassung von 1988, um die Schaffung einer unabhängigen Zentralbank zu ermöglichen, die die Freiheit hat, Zinssätze nach Belieben zu erhöhen. Es gab auch Sozialreformen - bspw. ein (sehr niedriges) Grundeinkommen für alle armen Familien -, doch sie sind den Problemen kaum angemessen und viele von ihnen benötigten ebenso wie die relativ fortschrittlichen Aspekte von Lulas Außenpolitik keiner Zustimmung durch den Kongress.

Korruption

Es gibt Anzeichen persönlicher Korruption. Der PT-Schatzmeister erhielt einen Landrover; der zum Monetaristen mutierte Finanzminister Antonio Palocci erzielte einen verdächtig großen Spekulationsgewinn auf ein Haus. Weit wichtiger als die Korruption der Individuen ist jedoch die Korruption der Demokratie und der politischen Ziele und Werte. Der führende Kopf von alldem ist José Dirceu, seit 1994 Vorsitzender der Partei und Architekt von Lulas Wahlkampagnen von 1994 bis zum Sieg 2002.

Die Enthüllungen über die politische Korruption kamen an die Öffentlichkeit, nachdem klar geworden war, dass die Regierung die Bedingungen des IWF nicht nur aus taktischen Gründen akzeptiert, sondern sich die neoliberale Orthodoxie insgesamt zu eigen gemacht hatte. Die Zinsraten in Brasilien gehören mit 19% zu den höchsten der Welt. Die Regierung erwirtschaftet einen internen Überschuss, der weit höher ist, als vom Währungsfonds verlangt wird. Der IWF empfindet ein Abkommen mit Brasilien als nicht mehr erforderlich. Er kann sich auf die Ökonomen verlassen, die die Politik im Palácio do Planalto bestimmen.

Das vielleicht entscheidende Anzeichen dafür, dass die PT-Führung mit dem ursprünglichen Projekt der Partei - nämlich soziale Gerechtigkeit zu erreichen, indem sie sich auf die Macht der Massenbewegung stützt - gebrochen hat, war Lulas Versäumnis, sein Mandat und die ihm zuströmende gewaltige internationale Unterstützung in eine demokratische Gegenkraft zu verwandeln, um mit harten Bandagen mit dem IWF zu verhandeln. "Um das soziale Programm, für das er gewählt wurde, durchzusetzen, hätte Lula bessere Bedingungen erreichen können. Die Leute auf der Straße ständen dann hinter ihm", sagt Plínio Sampaio, wie Lula ein Gründer der Partei.

Wie konnte die PT zu einer Partei der Korruption werden und somit dieselben Methoden anwenden wie alle anderen brasilianischen Parteien vor ihr? Ich ging nach Brasilien, um das herauszufinden.

Ich war schon mehrfach in Brasilien, um über die Experimente der PT mit der Beteiligungsdemokratie zu schreiben und am Weltsozialforum in Porto Alegre teilzunehmen. Was war mit all dieser demokratischen Kreativität geschehen? War die Betonung auf Beteiligungsdemokratie wirklich nur ein Anliegen des Bundesstaats Rio Grande do Sul mit seiner hochentwickelten Zivilgesellschaft? Ich begann in Fortaleza, wo eine radikale PT-Genossin, Luizianne Lins, für den Bürgermeisterposten kandidiert und entgegen dem Wunsch der Parteiführung die Wahl gewonnen hatte. Ich nahm an Bürgerversammlungen teil, auf denen über die Prioritäten des mit Luizianne auszuhandelnden Haushaltsplan entschieden wurde. Die Beteiligung an diesen Versammlungen war hoch; sie treiben die Kommunalpolitik in eine stärker egalitäre Richtung. Die Koordinatorin des Büros für Beteiligungsdemokratie, Neiara de Morais, erklärte, wie sie die Politik der Beteiligung entwickeln: "Die Beteiligung der Bevölkerung betrifft mehr als nur den Haushalt. Sie soll sich auf alle Aspekte der Kommune erstrecken."

Es gibt auch Bildungsangebote, in denen erklärt wird, wie die Regierung und insbesondere Finanzen funktionieren und die den Leuten helfen, "sich des Prozesses voll bewusst zu werden, ihn zu verbessern und die Kontrolle über ihn zu erhalten". Hier in Fortaleza, 4000 Kilometer von Porto Alegre entfernt, gibt es ein Beteiligungsmodell, das den Prozess gegenüber dem berühmten Vorbild noch vertieft hat. Meine nächsten Stationen waren São Paulo und anschließend Rio de Janeiro; ich wollte mit Menschen sprechen, die davor gewarnt hatten, dass die Führung diesen Graswurzelradikalismus schon sehr früh zu umgehen versucht hatte.

Ich besuchte Chico de Oliveira, ein marxistischer Soziologe und Mitbegründer der PT und wie Lula aus Pernambuco. Er hatte jüngst eine vernichtende Austrittserklärung aus der PT wegen ihrer Wirtschaftspolitik verfasst. Seine Analyse war umfassend. Zunächst betonte Grundcharakteristika des brasilianischen Staates, der seinen Politikern größere Möglichkeiten der Patronage einräumt als irgendwo sonst in der Welt. Der Präsident hatte 25.000 Stellen zu vergeben; Frankreichs sozialdemokratischer Präsident Mitterrand seinerzeit nur 150. Das Wahlsystem, bei dem die Leute dazu neigen, nicht auf Parteilisten, sondern als Individuen zu kandidieren, fördert die schwache Stellung der Parteien. Vetternwirtschaft und Bestechung sind eine gängige Methode, Maßnahmen im Kongress, in den bundesstaatlichen und kommunalen Versammlungen durchzusetzen, die ein Spiegelbild des Präsidialsystem sind.

Partizipation

Genau dieses System sollte durch den Beteiligungshaushalt angegriffen werden. Statt mit Vetternwirtschaft und Bestechung zu regieren, sollte der Bürgermeister oder der Gouverneur sich auf einen Prozess stützen, bei dem er die Beschlussfassung mit Institutionen der Bürgerbeteiligung teilt. Dieser Prozess sollte durch Verfahren direkter und repräsentativer Demokratie gestützt werden, den Kommunalräte oder Abgeordnete der Bundesstaaten nicht ignorieren können, weil sie aus ihm ihre Mandate beziehen. Ein Besuch in Porto Alegre bestätigte dies. "Wir regierten 16 Jahre ohne Bestechung", sagte Uribitan de Souza, einer der Architekten des Beteiligungshaushalts in Porto Alegre wie auch im Bundesstaat Rio Grande do Sul.

Uribitan, Olívio Dutra und andere Pioniere des Beteiligungshaushalts ließen sich von der Erkenntnis leiten, dass Wahlerfolge von sich aus nicht genügend Macht verleihen, einen Prozess sozialer Veränderung auch nur zu initiieren, ein Wahlsieg aber dazu benutzt werden kann, weitergehende Volksmacht zu aktivieren. Ohne unmittelbar neue Institutionen zu entwickeln, hätte dies zu der Art von Mobilisierung geführt, die die petistas von Lula erwarteten, um in einer Konfrontation mit dem IWF, mit einem feindseligen Kongress und der brasilianischen Elite bestehen zu können

Tatsächlich erzählte mir ein Regierungsinsider, dass die Banken darauf gewartet und sich schon auf harte Verhandlungen eingestellt hatten. Aber seit Lulas Wahlniederlage 1994 bis zur erfolgreichen Kampagne von 2002 war die Führung der Partei nicht in den Händen von Leuten, die sich der Beteiligungsdemokratie verpflichtet fühlten.

Oliveira unterstrich vor allem die Herausbildung einer Gruppe von Gewerkschaftsführern, darunter Lula, die im Wesentlichen eine Linie pragmatischer Verhandlungen verfolgten. In den 80er Jahren war die unabhängige Gewerkschaftsbewegung hochgradig politisch gewesen, weil jede ihrer Aktionen, wie ökonomisch oder auf Teilbereiche orientiert sie auch immer waren, mit der Diktatur zusammenprallten, sodass die Gewerkschafter als radikale politische Führer auftraten. Als die kämpferischen Gewerkschaften, besonders in der Automobilindustrie, jedoch mit wachsender Erwerbslosigkeit und abnehmendem Einfluss konfrontiert waren, schwenkten ihre Führungen auf einen vorsichtigen und pragmatischen Kurs um. Eine weitere Gruppe in der PT-Führung um den ehemaligen Guerillero José Genuino hatte nach dem Fall der Berliner Mauer jeden Glauben an radikale Veränderung aufgegeben und eine Variante von Tony Blairs "drittem Weg" eingeschlagen.

"Wir haben zu sehr an Lula geglaubt", bekannte Orlando Fantasini, Abgeordneter von São Paulo. Als radikaler Katholik ist Fantasini Teil eines "linken Blocks" von etwa 20 Abgeordneten und einiger Senatoren, die umgehend eine Untersuchung über die Korruptionsfälle verlangten. Viele von ihnen werden jetzt wahrscheinlich anderen Parteien beitreten, insbesondere der PSOL (Partei des Sozialismus und der Freiheit), die von ehemaligen PT-Abgeordneten gegründet wurde, als sie wegen der Rentenreform mit der Partei brachen.

In den 90er Jahren verkörperte Lula die Hoffnungen der Petistas auf soziale Gerechtigkeit und wirkliche Demokratie. Wenn Parteichef José Dirceu und die zunehmend kleinere cúpula mehr Autonomie für sich verlangten oder zur angeblichen Erleichterung von Lulas Sieg für eine Zentralisierung der Partei zulasten der lokalen Strukturen eintraten, wurde ihre Forderung erfüllt. In Wahlkampf trat konventionelles Marketing an die Stelle von politischen Kampagnen auf den Plätzen und Straßen, die Aktiven wurden durch bezahlte Flugblattverteiler ersetzt.

Der demokratische Ruf der PT gründete sich zum Teil auf dem Recht verschiedener politischer Tendenzen, auf allen Parteiebenen vertreten zu sein. Doch ab Mitte der 90er Jahre begann José Dirceu, den Schmiergelderfonds dazu zu verwenden, die Position des Campo Majoritário (Mehrheitslagers) durch den Aufbau lokaler, von ihm abhängiger Parteikader zu stärken. Dies und die der Lula-Gruppe gewährte Autonomie bewirkten, dass die Parteidemokratie wirkungslos wurde und die Mehrheitstendenz die zentralen Kontrollmechanismen monopolisierte.

Als ich Aktiven und ehemaligen Aktiven der Partei zuhörte, von den Organisatoren der Beteiligungsdemokratie in Fortaleza bis zu den linken Veteranen, die Lula im Palácio do Planalto beraten, wurde mir klar, dass der neoliberale Kurs der Regierung und die systematische Korruption in der Parteiorganisation zwei Seiten einer Medaille sind. Die Erdrosselung der Demokratie - und darum geht es letztlich bei der Korruption - bedeutet, dass die Partei jede Autonomie gegenüber der Regierung verloren hat. Damit wurden alle Kanäle, die die Partei mit den sozialen Bewegungen verbinden und deshalb als Hebel für ihre Erwartungen, ihren Druck und ihre Wut wirken, dicht gemacht. Selbst Marco Aurelio Garcia, Mitbegründer der PT und Lulas Chefberater für Außenpolitik, sah sich nicht mehr in der Lage, den Wirtschaftsminister zur Rechenschaft zu ziehen.

Was nun? Jeder gibt zu, dass der Korruptionsskandal eine enorme Niederlage darstellt. "Wir müssen unsere Strategie auf lange Zeiträume anlegen", sagte José Correio Leite von der linken Tendenz Democracia Socialista (DS), die jetzt gespalten ist. Nach den Wahlen zum Parteivorsitz, die der Campo Majoritário wahrscheinlich gewinnen wird - selbst da vermutet man Korruption im Spiel -, wird er zusammen mit den meisten, die die Kandidatur von Plínio Sampaio unterstützt hatten, die Partei verlassen. Einige werden der PSOL beitreten, aber alle werden daran arbeiten, eine breite basisorientierte "sozialistische Bewegung" o.ä. aufzubauen, die nicht Wahlen, sondern die Arbeit in sozialen Bewegungen zur Prioirtät hat. "Wir müssen einen Weg finden, die wirklichen Traditionen der PT zu konsolidieren und weiter zu entwickeln. Wir können nicht zulassen, dass die cúpula sie zerstört", sagte Luciano Brunét, der die Kandidatur von Raul Pont für den Parteivorsitz und dessen Plattform für eine politische Reform von Partei und Staat unterstützte.