Großbritannien: Labour und Gewerkschaften

Vor 20 Jahren wurde die Militant Tendency aus der Partei geworfen. Heute reicht es schon, Außenminister Straw zu kritisieren, um angegriffen zu werden.

Als eigentlicher Beginn des New-Labour-Projekts kann jener Parteitag der alten Labour Party vor zwanzig Jahren gelten, auf dem die Mitglieder der linken Militant Tendency vom damaligen Parteichef Neil Kinnock polizeistaatsmäßig aus der Partei herausgeworfen wurden. Auf dem diesjährigen Labour-Parteitag, der Ende September in Brighton stattfand, reichte es schon, einen Redebeitrag des Außenministers Jack Straw als "Blödsinn" zu bezeichnen, um von professionellen Schlägertypen sowie Ordnern angegriffen und aus dem Saal gezerrt zu werden.

Dies geschah dem 82-jährigen, jahrzehntelangen Labour-Mitglied Walter Wolfgang, dessen jüdische Eltern dereinst aus Nazideutschland nach Großbritannien flüchten mussten. Dass Wolfgang das Wiederbetreten des Konferenzsaales von Polizisten unter Anwendung des von Labour eingeführten Antiterrorgesetzes verwehrt wurde, machte den Vorfall erst recht zum Public-Relations-Debakel.

Autoritäres Leitbild

Es ist aber weit mehr als dies. Die Scheinwerfer richteten sich auf das Selbstdarstellungs- und Propagandaspektakel der Labour Party und zeigten die antisoziale, autoritäre und neokonservative Vision des Blair-Rich-Projekts im kältestmöglichen Schein. Versuche der Medienmanipulation scheiterten kläglich. Als die Parteitagsregie nur auserwählte, d.h. für labourtreue Zeitungen arbeitende Fotografen akkreditieren wollte, traten diese kurzerhand in den Streik und verließen den Konferenzsaal. Sie verlangten die Zulassung aller Journalisten. Die Parteitagsstrategen gerieten in Panik, es sei ja alles gar nicht so gemeint gewesen: Ein großes Missverständnis. Der Versuch der Einschränkung der Pressefreiheit musste aufgegeben werden.

Der autoritäre Charakter des Parteitags ist Spiegel des autoritären Gesellschaftsmodells, das Labour durchsetzen will. Einige Schlaglichter: Die Regierung unterstützt Euthanasie in Krankenhäusern, weil es eine Verschwendung von Ressourcen sei, medizinische Versorgung in jedem Fall anzubieten. Währenddessen ist für ganz Großbritannien ein großflächiges Kürzungsprogramm im Gesundheitssystem geplant, das im Frühjahr 2006 greifen soll.

Antiterrorgesetze werden vermehrt gegen die Medien eingesetzt. Vor einigen Wochen wurden Büros der BBC in Schottland durchsucht, um an Bildmaterial über die Proteste gegen den G8-Gipfel im Sommer heranzukommen. Tausende von Jugendlichen in ganz Großbritannien werden aus ganzen Stadtteilen verbannt und sind täglichen Treibjagden durch die Polizei ausgesetzt. Gleichzeitig werden Geldmittel für dringend benötigte Jugendclubs gekürzt.

Wirtschaftsminister Gordon Brown gab auf dem Parteitag eine Vorstellung, die von vielen Zeitungen als Antrittsrede verstanden wurde. Brown soll, sobald Blair in ungewisser Zukunft abdankt, seine Nachfolge als Parteichef und Premierminister antreten. Von Gewerkschaftsführern wie dem TGWU-Generalsekretär Tony Woodley wurde Brown bislang immer als Argument angeführt, warum es falsch sei, die traditionelle Verbindung zwischen den Gewerkschaften und der Labour Party zu trennen.

Gewerkschaftlicher Dissens

Die Feuerwehrgewerkschaft FBU hat sich bereits vor einiger Zeit von der Labour Party getrennt. Die Eisenbahnergewerkschaft RMT wurde gar aus Labour ausgeschlossen, weil eine ihrer Ortsgruppen einst beschloss, die SSP (Scottish Socialist Party) mit Geldmitteln zu unterstützen. Vor einigen Wochen gab die RMT ihr Vorhaben auf, die Wiederaufnahme in die Labour Party zu erreichen.

Die Monate vor dem Labour-Parteitag waren von einem Aufflammen sozialer Kämpfe bestimmt. Der Gate-Gourmet-Arbeitskampf am Londoner Flughafen Heathrow machte selbst in deutschen Medien Schlagzeilen. Hinzu kamen eine Vielzahl weiterer Kämpfe. Bei den Supermarktketten Morrisons und Asda kam es zu spontanen Streiks gegen willkürliche Entlassungen von Vertrauensleuten. Dasselbe geschah im August bei Rolls Royce in Bristol. In einigen Lokalzeitungen, bspw. in Coventry, wurde gegen Niedriglöhne gestreikt.

Dies sind nur einige Anzeichen für den Sturm, der losbrechen wird, sobald die steigenden ökonomischen Schwierigkeiten Großbritanniens sich zu einer handfesten Krise auswachsen. Die Zahlen sprechen für sich. Die britische Wachstumsrate für das zweite Quartal 2005 betrug nur 1,7%. Das schlechteste Ergebnis seit 1993. Das Wachstum im Dienstleistungssektor betrug nur 0,6%. Im vorhergehenden Quartal stand es bei 0,7%. Der industrielle Sektor befindet sich in Rezession.

Gordon Brown, die Hoffnung britischer Gewerkschaftsspitzen, verlor in seiner Ansprache keine Zeit, klarzustellen, wie er die Dinge sieht. "Freunde, wir dürfen unser Ziel der Vollbeschäftigung für alle nicht durch die inflationären Gehaltserhöhungen und Konflikte der Vergangenheit gefährden." Dabei vergaß er zu erwähnen, dass die Erwerbslosigkeit in Großbritannien seit sechs Monaten kontinuierlich ansteigt. "Wir dürfen nicht zu der Zeit zurückkehren, in der die Interessen einzelner Gruppen mehr bedeutet haben als die Interessen der Nation." Übersetzung: Wenn die Gewerkschaften glauben, mit mir wird es anders, dann haben sie sich getäuscht.

Tony Blair teilte Ende September der Presse ähnliches mit. "Die Labour Party ist heute eine veränderte Partei. Die Gewerkschaftsbewegung muss sich auch modernisieren. Sie muss verstehen, dass sich die Welt da draußen verändert hat. Und wenn sich die Gewerkschaften nicht verändern, dann werden sie von der Welt zurückgelassen. Falls die Gewerkschaften sich weigern, sich zu verändern, wird dies keinen Einfluss auf die Position der Labour Party haben."

Die Parteitagsreaktion des TGWU-Generalsekretärs Tony Woodley war es, sich bei den Parteitagsdelegierten für die Unterstützung für die ausgesperrten Gate-Gourmet-Beschäftigten zu bedanken. Dabei war es gerade jene Auseinandersetzung, die Brown und Blair zu den oben zitierten Bemerkungen verleitet haben dürften.

Auch auf betrieblicher Ebene verschärft sich das Klima zwischen Belegschaften und der Unternehmerseite zunehmend. Spontane Kampfaktionen nehmen zu. Die Gewerkschaftsspitzen werden sich dem nicht ewig entziehen können. Die Spannungen zwischen den Gewerkschaften und der derzeitigen Regierungspartei werden sich entsprechend zuspitzen. Als nächstes Schlachtfeld steht das Vorhaben der Regierung an, das Rentenalter heraufzusetzen.

Neue Arbeiterpartei?

Im Lager der von Labour losgelösten Gewerkschaften herrscht jedoch Unsicherheit darüber, wie auf diese Problematik zu reagieren ist. So sprach bspw. Bob Crow, Generalsekretär der RMT, auf der Frühlingskonferenz der Green Party im März 2004 und erklärte: "Die Grünen tun mehr für Eisenbahner und Seeleute als Labour. Labour vertritt eine gegen die Arbeiterklasse gerichtete Politik." Im Mai 2005 erklärte er auf einer Kundgebung für die Wiederverstaatlichung der Eisenbahnen in London: "Labour ist nicht mehr die Partei der Arbeiterklasse. Labour kann nicht für die Arbeiterklasse zurückerobert werden. Wir brauchen eine neue Arbeiterpartei."

Im September 2005, im Rahmen des Jahreskongresses des Gewerkschaftsdachverbandes TUC, gab Crow der Wochenzeitung Socialist Worker ein Interview. Darin erklärte er: "Wir wollen im Januar ein Treffen mit Gewerkschaften, Ortsgruppen und politischen Parteien durchführen, um die Frage politischer Repräsentation zu diskutieren."

Die Definition der Labour Party als einer für die Arbeiterklasse verlorenen Partei macht ihn politisch radikaler als viele seiner Amtskollegen. Bislang umging er jedoch immer wieder, zur Gründung einer neuen Arbeiterpartei aufzurufen. Der Aufruf zu einer Konferenz, die "politische Repräsentation" zu diskutieren, ist nur das neueste Beispiel. Die RMT wäre als Gründungsorganisation der Labour Party geeignet, einen glaubwürdigen Aufruf zur Gründung einer sozialistischen, kämpferischen Arbeiterpartei zu starten. Crow hat aber bislang diese historische Chance nicht genutzt. Nichtsdestotrotz hat sein Aufruf für Aufsehen gesorgt. Die von Labour-Linken dominierte Linksorganisation innerhalb der TGWU hat beschlossen, Delegierte zu dem Treffen zu schicken.