Totgesagte leben länger

EU-Dienstleistungsrichtlinie

Die Diskussion um die EU-Richtlinie über Dienstleistungen im Europäischen Binnenmarkt geht aktuell in die zweite Runde.

Am 22. November 2005 hat der federführende Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments nach einem fünfstündigen Abstimmungsmarathon einen Vorschlag für Änderungsanträge zum Richtlinienentwurf mit 25 Für-, 10 Gegenstimmen und 5 Enthaltungen beschlossen. Diese werden vom Europäischen Parlament voraussichtlich im Januar oder im Februar 2006 in Erster Lesung beraten.

Im Januar 2004 wurde der Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie von dem damaligen EU-Kommissar Frits Bolkestein auf den Weg gebracht. Seither erlebte diese ‚Bolkestein-RichtlinieÂ’ ein wechselvolles Schicksal. Im Herbst 2004 begann sich erste massive Kritik und Protest gegen das Vorhaben zu regen, welche Gewerkschaften, Umwelt- und Wohlfahrtsverbände, soziale Bewegungen, aber auch Verbände von Handwerkern sowie kleinen und mittleren Unternehmen auf die Barrikaden trieb. Im Frühjahr 2005 wurde die Protestwelle so stark, dass die Kritik an der Bolkestein-Richtlinie in den Mittelpunkt einer europaweiten Demonstration von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen am 19. März in Brüssel gestellt wurde. Sie avancierte anschließend zu einem wesentlichen Faktor für das Erstarken der ‚NeinÂ’-Kampagne zur EU-Verfassung in Frankreich.

Der Entwurf erregt die Gemüter, weil die Kommission einen vollständig deregulierten EU Binnenmarkt für Dienstleistungen anstrebt. Die vorgeschlagenen Regelungen beträfen immerhin rund 70 Prozent der Beschäftigten und rund 50 Prozent der EU-Wirtschaft.

Vom Abbau "bürokratischer Wettbewerbshemmnisse"

Für den freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr soll das Herkunftslandsprinzip gelten. Demnach unterliegt z.B. ein in Italien niedergelassenes Dienstleistungsunternehmen nur den italienischen Rechtsvorschriften, wenn es z.B. in Frankreich tätig ist. Ob es diese italienischen Vorschriften auch bei seiner Tätigkeit in Frankreich einhält, sollen nicht die französischen, sondern die italienischen Behörden kontrollieren. Auf diese Weise würde eine effektive Wirtschafts- und Unternehmensaufsicht im freien europaweiten Dienstleistungsverkehr unmöglich. Durch das Herkunftslandsprinzip würde ein Dumping-Wettlauf der Mitgliedsstaaten um die niedrige Qualitäts-, Arbeits-, Sozial-, Verbraucherschutz und Umweltstandards organisiert, denn hohe Standards würden bald als ‚kostentreibender WettbewerbsnachteilÂ’ betrachtet.

Der Richtlinienvorschlag enthält weiterhin eine Liste "unzulässiger" Auflagen und Anforderungen an Dienstleistungserbringer, die künftig EU-weit verboten werden sollen. Darüber hinaus sollen die Mitgliedstaaten weitere als "Hemmnisse" erachtete Auflagen und Vorschriften in einem gemeinsamen Bewertungsprozess aufspüren und überprüfen, um sie anschließend entweder abzuschaffen oder nach "objektiven Grundsätzen" (Diskriminierungsfreiheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit) umzugestalten. So will man den Mitgliedstaaten verbieten, dem Dienstleistungsunternehmen die Pflicht zur Errichtung einer Hauptniederlassung aufzuerlegen, Mehrfachregistrierungen zu untersagen, eine Mindestdauer der Tätigkeit auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu verlangen oder einen Mindestzeitraum für die Aufrechterhaltung der Unternehmensregistrierung in seinem eigenen Register vorzuschreiben. Das Niederlassungsrecht würde dereguliert.

Weite Teile der öffentlichen Dienste, der freien Wohlfahrtspflege und der öffentlichen Daseinsvorsorge - z.B. Wasser- und Abwasserwirtschaft, Gesundheitswesen, Pflegedienste usw. - werden von den Liberalisierungsvorschriften der Richtlinie betroffen. Nach den Bestimmungen des Entwurfs könnten die Mitgliedstaaten nicht mehr kontrollieren, ob das bestehende EU-Recht zur Entsendung von Arbeitnehmern in ihrem Hoheitsbereich eingehalten wird.

Gewerkschaften und soziale Bewegungen fürchten zu Recht, dass durch diese Richtlinie bestehende Arbeitnehmerrechte untergraben und ein umfassendes Sozialdumping ausgelöst würde. Öffentliche Dienste erkennen einen Angriff auf ihre Zukunftschancen. Handwerker und Mittelstand sehen Qualitätsstandards und gleiche, faire Wettbewerbsbedingungen für ihre Betriebe gefährdet.

"Wir schlagen Schaum, wir seifen ein ..."

Konfrontiert mit dieser breiten und buntscheckigen Kritik gingen der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac auf Distanz zur Kommission. Der Brüsseler EU-Gipfel vom 22./ 23. März 2005 erklärte, dass der EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen wie geplant geschaffen, aber dabei auch das Europäische Sozialmodell erhalten werden müsse. Der vorliegende Richtlinienentwurf erfülle "diese Anforderungen nicht vollständig". Die überwiegende Mehrheit der Medien vermeldete anschließend, das Vorhaben sei damit vom Tisch. Dies erwies sich als unzutreffend.

Die Europäische Kommission hielt ihren Vorschlag unverändert aufrecht. Seine Beratung im Europäischen Parlament wurde bis nach den Referenden über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden verzögert. Dies hat allerdings nicht geholfen, das klare Nein zur EU-Verfassung bei diesen Volksabstimmungen zu verhindern.

Die Europäische Kommission versuchte seitdem mit einigem Erfolg, die kritischen Kräfte zu beschwichtigen. Man werde die vorgebrachten Bedenken prüfen und sich für einen ausgewogenen Kompromiss einsetzen, so insbesondere der deutsche EU-Kommissar Günther Verheugen gegenüber dem DGB und der Gewerkschaft ver.di. Doch die Kommission hat bis heute keinen einzigen Vorschlag vorgelegt, wie sie den Richtlinienentwurf zu verändern gedenkt. Trotz aller Unmutsbekundungen einzelner Regierungen forderte auch beim zuständigen Rat "Wettbewerbsfähigkeit" im Juni 2005 kein einziger Mitgliedstaat die Kommission auf, ihren Vorschlag zurückzuziehen. Zeit gewinnen, die Kontroverse vernebeln und den Widerstand abflauen lassen war das nun offensichtliche Ziel dieser Manöver von Kommission und Regierungen. Einzig der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel - er übernimmt ab Januar 2006 die EU-Ratspräsidentschaft - hatte am 25. Oktober 2005 angeregt, dass die Kommission ihren Vorschlag zur Dienstleistungsrichtlinie zurückziehen und einen neuen vorlegen solle.

Totgesagte leben länger

Im Europäischen Parlament verfügen die Fraktionen der Konservativen (PPE-DE) und Liberalen (ALDE) über eine deutliche Mehrheit der Mandate. Bei der Abstimmung im Binnenmarktausschuss hat sich ein Bündnis von Konservativen, Liberalen und der nationalistischen Rechten (UEN) auf breiter Front durchgesetzt. Eine detaillierte Analyse des Abstimmungsergebnisses ist erst möglich, wenn der konsolidierte Berichtsentwurf des Binnenmarktausschusses vorliegt. An den strategischen Kernpunkten der Richtlinie, soviel ist bereits jetzt klar, soll kaum etwas verändert werden. Am Herkunftslandprinzip hält die Ausschussmehrheit fest und will es nur bedingt abmildern. So sollen Länder, in denen Dienstleister aus anderen EU Mitgliedstaaten im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs tätig werden, auf die Einhaltung ihrer nationalen Bestimmungen bestehen können, sofern dies dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, dem Schutz der Volksgesundheit oder der Umwelt dient.

In vielen relevanten Fragen (von Qualitätsstandards, Zertifizierungen bis hin zu Werbung und Verbraucherschutz) sollen für Dienstleister bei der vorübergehenden Erbringung von Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat aber weiterhin die Vorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaates gelten. Dabei soll nun das Bestimmungsland kontrollieren, ob diese Bestimmungen des Herkunftslandes auch eingehalten werden. Es ist allerdings völlig unrealistisch, dass selbst die Behörden einer mittleren europäischen Großstadt in der Lage sind, die Gesetze und branchenspezifischen Vorschriften aller bald 27 EU-Staaten für die vielfältigen Dienstleistungsbereiche zu kennen und im Einzelfall korrekt anwenden und kontrollieren zu können. Auch Verbraucherinnen und Verbrauchern ist nicht viel damit geholfen, wenn sich der Gerichtsstand bei Vertragsstreitigkeiten vielleicht an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort befindet, aber weder die lokalen Gerichte noch er oder sie selbst die betreffenden Gesetze und Vorschriften des Herkunftslandes des Dienstleistungserbringers hinreichend kennt, nach dem der Fall entschieden würde. Die Folge dieser vom Binnenmarktausschuss vorgeschlagenen Regelungen wären Wildwestverhältnisse im Dienstleistungsbinnenmarkt, welche jede wirksame Wirtschaftsaufsicht unmöglich machen.

Die Berichterstatterin des Binnenmarktausschusses, Evelyne Gebhardt (SPD), hatte hingegen als Kompromissangebot nur den Zugang zur Dienstleistungstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat nach dem Herkunftslandsprinzip regeln wollen. Die Ausübung der Dienstleistungstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat sollte hingegen nach dessen Rechtsvorschriften (z. B. bezüglich Werbung, Verkauf, Qualität etc.) erbracht werden (de facto Bestimmungslandprinzip). Darüber hinaus wollte sie den Mitgliedstaaten das Recht einräumen, "weiterhin restriktivere oder strengere innerstaatliche Bestimmungen über den Zugang zu einer Dienstleistungsleistungstätigkeit" zu erlassen, sofern diese auf Gründen des Gemeinwohls oder öffentlichen Interesses (z.B. Sozialpolitik, Verbraucherschutz, Gesundheit etc.) beruhen. Ihr Kompromissantrag wurde abgelehnt.

Auch den Geltungsbereich der Richtlinie will die Mehrheit des Binnenmarktausschusses deutlich weniger einschränken als es die Berichterstatterin vorschlug. Ausgenommen werden der Rundfunk, Gesundheitsdienste, Finanzdienste, Geldtransporte, Glücksspiele sowie jene Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, die nicht dem Wettbewerb unterliegen. Damit wären aber Dienstleistungen z.B. im öffentlichen Nahverkehr, der Abfallwirtschaft und viele andere, die in Ausschreibungsverfahren vergeben werden, von der Richtlinie weiterhin erfasst.

Im Beschluss des Binnenmarktausschusses wird zu Recht gefordert, dass das Arbeits- und Sozialrecht der Mitgliedstaaten durch die DL-Richtlinie nicht berührt wird. Konservative und Liberale behaupten, dass damit die Gefahr eines Sozialdumpings durch die Richtlinie ausgeschlossen sei. Dies ist aber zu bezweifeln.

Für Leih- und Zeitarbeitsfirmen soll weiterhin das Herkunftslandsprinzip gelten. In Ländern ohne Mindestlohnregelungen wie Deutschland ist damit Lohndumping nicht auszuschließen. Ansonsten entsteht ein Druck zur Absenkung der Löhne in Richtung des Mindestlohns.

Die Kommission hat im Rahmen ihres Programms zur Rücknahme von ausstehenden Richtlinien (Teil der Lissabon-Strategie, ‚better regulationÂ’) angekündigt, dass sie die bereits im Rat beratene Richtlinie zu den Beschäftigungsbedingungen von Zeitarbeitern "überprüfen" will. Im Rat besteht eine Blockade, die bislang die Annahme dieser Richtlinie verhindert hat. Die Kommission stellt ihr Ansinnen der "Überprüfung" in den Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie. Dies deutet darauf hin, dass es nicht einmal EU-Mindeststandards zu den Beschäftigungsbedingungen zur Zeitarbeit geben soll (oder schwächere als im vorgeschlagenen Richtlinienentwurf), so dass hier ein Einfallstor für Sozialdumping aufgemacht wird.

Darüber hinaus sind in vielen EU-Mitgliedstaaten Regelungen zur Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs nur für bestimmte Branchen erlassen worden (in Deutschland z.B. für das Bauhaupt- und -nebengewerbe). In den übrigen Branchen ist damit forciertes Sozialdumping bei der Anwendung der Dienstleistungsfreiheit schon jetzt möglich und an der Tagesordnung. Schlupflöcher in punkto Scheinselbständigkeit (‚osteuropäischeÂ’ Ausbeiner auf Schlachthöfen) tun ihr Übriges. Auch diese unerfreuliche Situation bei der Umsetzung der EU-Entsenderichtlinie fördert Sozialdumping, welches durch die Dienstleistungsrichtlinie mit weitgehend uneingeschränktem Herkunftslandsprinzip bei der Dienstleistungsfreiheit gefördert würde.

Die von der Kommission vorgeschlagenen Bestimmungen zur Deregulierung des Niederlassungsrechts und des Verbots von Auflagen und Anforderungen der Mitgliedstaaten lässt der Binnenmarktausschuss weitgehend unangetastet. Der Trend ist eindeutig: der Kommissionsentwurf soll in einigen Punkten abgemildert, in seinen strategischen Kernpunkten aber erhalten werden. Dass einige Sozialdemokraten dem Bericht trotzdem in der Endabstimmung zustimmten und sich andere enthielten - unter ihnen die Berichterstatterin Evelyne Gebhardt - lässt für die ausstehende Abstimmung im Plenum des Europäischen Parlaments nicht viel Gutes erwarten.

"Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern"

Der Koalitionsvertrag von SPD, CDU und CSU in Deutschland legt eine ganz ähnliche Marschrichtung fest: "Ein funktionierender EU-Binnenmarkt auch im Bereich der Dienstleistungen ist für Deutschland von herausragendem volkswirtschaftlichem Interesse. Hieran werden wir uns bei der weiteren Beratung der EU-Dienstleistungsrichtlinie orientieren. Die Mitgliedstaaten müssen die Möglichkeit bewahren, im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des EG-Vertrages auch weiterhin hohe Standards für die Sicherheit und Qualität von Dienstleistungen (zum Beispiel zum Schutz der Gesundheit, der Umwelt und der öffentlichen Sicherheit) durchzusetzen. Das Herkunftslandprinzip in der bisherigen Ausgestaltung führt uns nicht in geeigneter Weise zu diesem Ziel. Deshalb muss die Dienstleistungsrichtlinie überarbeitet werden. Wir werden ihr auf europäischer Ebene nur zustimmen, wenn sie sozial ausgewogen ist, jedem Bürger den Zugang zu öffentlichen Gütern hoher Qualität zu angemessenen Preisen sichert und Verstöße gegen die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt nicht zulässt."

Damit positioniert sich die Große Koalition bloß für eine schwache Abmilderung des Herkunftslandsprinzips und gegen weit kritischere Stellungnahmen zur Dienstleistungsrichtlinie, welche die sie tragenden Parteien zuvor in Bundestags- und Bundesratsstellungnahmen vertreten hatten. Sie folgt dem Wahlspruch von Konrad Adenauer: "Was kümmert mich mein ‚GeschwätzÂ’ von gestern".

In seiner Stellungnahme vom 2. April 2004, welche maßgeblich von der bayerischen Staatskanzlei auf den Weg gebracht wurde, hatte der Bundesrat das Herkunftslandsprinzip mit folgender Begründung einhellig abgelehnt: "Die Regelung geht weit über das vom europäischen Vertragsrecht Geforderte hinaus, indem sie abgesehen von den in Artikel 17 aufgezählten Ausnahmen - eine vollständige Akzeptanz der vom Herkunftsstaat an die Dienstleistungserbringung gestellten Anforderungen dem Grunde nach verlangt. Folge hiervon wäre, dass im jeweiligen Mitgliedstaat kein einheitliches Recht gelten würde, was das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit beeinträchtigt. Das Recht wäre von Person zu Person, je nach Herkunft, verschieden, was die Rechtsanwendung erschwert. (...) Das Fehlen europarechtlicher Harmonisierungsregelungen kann nicht dadurch umgangen werden, dass die Mitgliedstaaten zur unbedingten Anerkennung fremder Rechtsordnungen verpflichtet werden."

Genau so deutlich äußerte sich der Deutsche Bundestag auf Antrag von SPD und Grünen in seiner Stellungnahme vom 29. Juni 2004: "Das Herkunftslandprinzip ist als solches weder in den Gründungsverträgen niedergelegt noch ein die Rechtsprechung des EuGH im Dienstleistungsbereich anleitendes Prinzip. Das Herkunftslandprinzip ist zur Integration des Binnenmarktes nicht erforderlich. In einem noch nicht vereinheitlichen Sektor wird das Herkunftslandprinzip zu einem Wettbewerb der Standards nach unten führen."

Er forderte die Bundesregierung auf, für folgende Position im Rat einzutreten: "Das Herkunftslandprinzip sollte grundsätzlich nur in den Bereichen Anwendung finden, in denen eine europäische Harmonisierung erreicht ist." Eine europäische Harmonisierung der Bestimmungen für Dienstleistungen im EU-Binnenmarkt sieht der Entwurf der Kommission erklärtermaßen nicht vor.

Selbst die Hessische Landesregierung unter CDU-Ministerpräsident Roland Koch forderte in einem Entschließungsantrag an den Bundesrat vom 2. September 2005 diesen auf, zum uneingeschränkten Herkunftslandprinzip auf Distanz zu gehen: "Der Bundesrat weist erneut darauf hin, dass er das Herkunftslandprinzip, wie es in Artikel 16 des Richtlinienentwurfs vorgesehen ist, in dieser Form ablehnt (...) Bei der Ausgestaltung des Herkunftslandprinzips muss gewährleistet werden, dass es sich nur auf den Marktzugang bezieht. Die Ausübungsmodalitäten, insbesondere die bei der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen zu beachtenden Normen, technischen und sozialen Standards richten sich ausschließlich nach den geltenden Bestimmungen des Aufnahmestaates."

Von der von Roland Koch geforderten Trennung in Marktzugang (Herkunftslandsprinzip) und Ausübung (Bestimmungslandprinzip) bei grenzüberschreitender Dienstleistungstätigkeit ist im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD keine Rede mehr.

CDU und CSU begehen erneuten Wahlbetrug. Vor der Bundestagswahl kritisierten sie das Herkunftslandsprinzip als strategischen Kern der Dienstleistungsrichtlinie, mit der Koalitionsvereinbarung soll es mit moderaten Einschränkungen akzeptiert werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich bereits öffentlich hinter die Position der Rechten im Europäischen Parlament und gegen die Vorschläge der sozialdemokratischen Berichterstatterin Evelyne Gebhardt. Viele Europaabgeordneten von CDU, CSU, FDP wollen in diesem Sinne im Europäischen Parlament den Kurs bestimmen.

Der Parteivorstand der SPD hat immerhin einen Beschluss gefasst, wonach das Herkunftslandsprinzip aus der Richtlinie entfernt und durch das Bestimmungslandsprinzip ersetzt werden soll. Auch andere wesentliche Punkte will die SPD geändert sehen. Der SPD-Parteivorstand fordert die sozialdemokratischen bundesdeutschen Europaabgeordneten auf, gegen den Entwurf des EP-Binnenmarktausschusses zu stimmen, sofern keine entsprechenden Änderungen im Europaparlament eine Mehrheit erhalten. Ob und wie die Regierungsmitglieder der SPD in der Großen Koalition diesem Beschluss ihres Parteivorstandes folgen und eine veränderte Haltung der Bundesregierung herbeiführen, ist vorerst unklar.

Farbe bekennen

SPD, CDU und CSU müssen nun Farbe bekennen, wie sie eine "sozial ausgewogene" Gestaltung des Dienstleistungsbinnenmarktes konkret bewerkstelligen wollen. Auf bundesdeutscher Ebene muss die neue Bundesregierung in Vorleistung treten: das Arbeitnehmerentsendegesetz, das bislang nur für den Kernbereich des Bauhaupt- und Nebengewerbes gilt, muss inklusive Mindestlohnregelungen und Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen auf alle Dienstleistungsbereiche ausgedehnt werden. Nur so kann der bereits jetzt bestehende Missbrauch der Dienstleistungsfreiheit auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt zurückgedrängt werden.

Solange das Herkunftslandsprinzip als strategischer Kern für den freien Dienstleistungsverkehr in der Richtlinie verbleibt, wird einem Dumpingwettlauf um soziale und andere Standards Tür und Tor geöffnet. Auch die vielen anderen Fragen (öffentliche Daseinsvorsorge, Entsenderecht, Qualitätsstandards usw.) lassen sich auf Basis einer sehr komplexen und in sich widersprüchlichen Rahmenrichtlinie für alle Dienstleistungsbereiche nicht angemessen lösen.

Der Vorstoß von Wolfgang Schüssel ist deshalb richtig: Die Europäische Kommission muss ihren verheerenden Entwurf zurückziehen. Die Mobilisierungen vom Frühjahr 2005 haben gezeigt, dass Regierungen, Europaparlament und Kommission zurückweichen, wenn der öffentliche Druck auf sie stark genug ist. Danach konnten sie zwar eine Weile abwiegeln. Mit den Beschlüssen des EP-Binnenmarktausschusses ist nun aber die Katze aus dem Sack. Linkskräfte, Gewerkschaften und soziale Bewegungen müssen den Druck auf Bundesregierung, Bundesrat und Europaparlament bis Januar 2006 erneut verstärken, um eine neue Dynamik gegen die Dienstleistungsrichtlinie in Gang zu setzen.

Hinweis:

Eine ausführliche Analyse des Richtlinienentwurfs der Kommission und alternative Vorschläge zur Gestaltung der ‚Dienstleistungs- und WissensgesellschaftÂ’ enthält die Broschüre von Klaus Dräger/Sahra Wagenknecht: Der Bolkestein-Hammer muss weg! Europa braucht zukunftsfähige Dienstleistungen. Nur noch als download verfügbar unter:
www. pds-europa.de/studien

Kurz und knapp informiert der Flyer der Delegation der Linkspartei.PDS im EP (download unter www. pds-europa.de)