Spielt China Schach statt Mühle?

Anno 1968 erschien in Westberlin die VoltaireFlugschrift Nr. 13: "China. Der deutschen Presse Märchenland" von Günter Amendt. Zu Anfang stand, der Bericht informiere "über die jüngsten Vorgänge i

China": Peking wolle sich an die "Spitze der kommunistischen Weltbewegung setzen ... Chinas Rote Garde bereitet sich ... auf einen Weltkrieg vor."

Fast vier Jahrzehnte später sind die Roten Garden Geschichte, und Günter Amendt ist ein frommer Mann, China aber beherrscht die Presse als kapitalistisches Märchenland. Dennoch liest sich die Flugschrift von vorgestern wie von übermorgen. Vor der Weisheit einer uralten chinesischen Kultur nimmt sich das verblüffte waffengeile US-Imperium aus wie ein Provinzschauspieler, der seinen bigotten Präsidenten darstellen will und über die Figur eines besoffenen Sheriffs nicht hinauskommt. Das Dilemma aber ist auch unseres: Weil eine sozialistische Ökonomie fehlt, die dem Kapital Paroli bieten kann, behelfen die Chinesen sich mit dem Konstrukt ihres kapitalistischen Sozialismus. Das Experiment ist für traditionelle Marxisten mindestens so fremdartig, wie es 1917 die Leninsche Oktoberrevolution ausgerechnet im asiatisch zurückgebliebenen Rußland gewesen ist. Möglicherweise werden wir unsere Köpfe entrümpeln und die Freiheit unserer Herzensphantasien neu erfinden müssen. Oder wie Bloch sagte: Schach statt Mühle spielen. Es könnte sein, daß die Berliner Republik und das rote goldene China sich als enger verbunden herausstellen, als bisher angenommen wurde.

Für den oppositionellen DDR-Ökonomen Fritz Behrens bestand "Schach statt Mühle" in der Forderung, das als Volkseigentum firmierende Staatseigentum in Gruppeneigentum zu verwandeln und damit das Interesse der Produzierenden zu stimulieren. Setzte Bloch auf den "subjektiven Faktor" und suchte Wolfgang Harich 1956 mit seiner "Plattform" und seinem "Memorandum" einen reformerischen Ausweg, fügte Behrens die entscheidende Frage nach der fehlenden sozialistischen Ökonomie hinzu. Die SED verschloß sich allen diesen Vorschlägen. Es folgte das von minimalen Korrekturversuchen unterbrochene Vierteljahrhundert der DDR-Stagnation, die 1989 folgerichtig in Agonie überging.

Anderthalb Jahrzehnte danach verfällt das uneinig vereinigte Deutschland insgesamt der Stagnation, und der Erdball erzittert unter einer unendlichen Reihe von Krisen und Konflikten, mit denen die nächsten Weltkriege vorbereitet werden. Im postmaoistischen rotgoldenen China aber ringen im geheim tagenden Ständigen Ausschuß des Volkskongresses drei Fraktionen um den künftigen Kurs - die erste ist maoistisch, die zweite sozialdemokratisch, die dritte globalkapitalistisch. Das Revolutionäre besteht darin, daß die drei zusammenhalten. Falls der rote Drache noch besiegt werden sollte, käme es zu globalen Erschütterungen, denn Chinas wirtschaftliche und finanzielle Verflechtungen sind selbst für die USA konstitutionierend geworden. Die Mahnungen des Fritz Behrens würden ein letztes Mal erinnert, dazu die ungenutzte Korrektur-Chance der früheren DDR. Gelingt jedoch das rote Drachen-Experiment, ist die marxistische Revolutionstheorie reif zur nachholenden Reformation.

Nach jüngsten zugänglichen Daten wächst die chinesische Wirtschaft sogar stärker als die indische: "Während in China heute die Zahl jener, die von einem Dollar leben, um 400 Millionen niedriger ist als vor 20 Jahren, verringert sich diese Armut in Indien nur um 70 Millionen ... Das gibt Anlaß, über den Zusammenhang von Demokratie und Marktwirtschaft nachzudenken." (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Wirtschaftsteil, 15.5.05)

Durchaus folgerichtig titelt die FAZ in ihrem Wirtschaftsteil am 21. Dezember 2005 als Weihnachtsüberraschung: "China überholt England und Frankreich - Im Jahr 2005 auf dem Weg zur viertgrößten Wirtschaftsnation". Wie ist so etwas möglich? SU und DDR vom Kapital bezwungen, China aber unter dem Kommando einer kommunistischen Partei, die 70 Millionen Mitglieder zählt, im Begriff, sich an der Spitze kapitalistischer Produktivität zu positionieren? Laut neoliberalistischer Ideologie ist das nicht möglich. Laut herkömmlicher marxistischer Theorie auch nicht. Die Tatsachen jedoch beweisen das Gegenteil. Wir werden die Gründe darlegen. Offenbar läßt China auf die maoistische Revolution eine rote Reformation folgen. Das Kapital ist ökonomisch und global frei, politisch jedoch gezähmt. Die Partei reitet den Tiger wie vordem die feudale Klasse in Japan, die sich im industriellen Aufbruch auch an der Macht hielt. Militärisch zieht China mit dem Anspruch auf Taiwan eine Alarmlinie, um die USA zu warnen. Im übrigen dient die Armee der strategischen Kriegsverhinderung. Was auch immer pro und contra dieser dispersiven Diktatur vorzubringen sein mag, erreicht ist bereits eine verblüffende ökonomische und außenpolitische Stärke, die Europa zur dritten Weltmacht degradiert. Chinas rote Revolutions-Reformation und die sozialen Revolte-Staaten Südamerikas signalisieren einen anti-imperialen Aufbruch, dem der nordamerikanische Gewalttäter, der sich im irakischen Abenteuer bis auf die Knochen blamierte, offensichtlich nur seine raffinierten Mordmaschinen entgegenzusetzen hat. Wenn das die demokratische Freiheit sein sollte, hätte sie schon verloren. - Fortsetzung im nächsten Heft

Ossietzky Heft 1/06