Weichenstellung für Verarmung

Bei der WTO-Konferenz in Hongkong stritten Nord und Süd um mehr Liberalisierung

Nimmt man das Verhandlungsergebnis der 6. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO genauer unter die Lupe und verzichtet auf die Schablone, ob nun die Industrie- oder die ...

... die Entwicklungsländer in Hongkong "gewonnen" haben, dann markiert die Ministererklärung eine weitere Weichenstellung in Richtung massiver Liberalisierung zu Gunsten transnationaler Konzerne. Vor allem für die des Nordens, aber auch für weltmarktorientierten Industrien im Süden: Mit der Einbindung Brasiliens und Indiens in die Kerngruppe der WTO-Verhandlungsmaschinerie erlangen nämlich Exportinteressen des Südens einen stärkeren Stellenwert in der WTO. Diese Einbindung läuft folglich nicht darauf hinaus, dass auf der Folie des Nord-Süd-Antagonismus Elemente eines alternativen Weltwirtschaftssystems einen Platz auf der Agenda erhalten. Auch wenn die Proteste als lokaler bzw. regionaler Mobilisierungserfolg zu werten sind, waren sie zu schwach, um ein markantes Signal zu setzen. Die Welthandelsorganisation konnte es dieses Mal fast niemandem Recht machen. Als die Abschlusszeremonie am 18.12.05 beendet, die Ministererklärung durchgewinkt worden war und der WTO-Generaldirektor verkündet hatte, dass die Organisation nach langem Stocken wieder "back on track" sei, herrschte Wut und Trauer bei den Protestierenden, die Regierungsdelegationen blickten aus unterschiedlichen Gründen frustriert auf nicht Erreichtes und die Konzernvertreter machten sich ihrer schrillen Empörung Luft, dass es bzgl. Marktzugang noch nicht zu "substantiellen Ergebnissen" gekommen sei. Angst vor weiteren Verarmungsspiralen auf der einen Seite, auf der anderen Tristesse royale. Letztlich haben die dominierenden AkteurInnen in der Welthandelsorganisation jedoch ihr selbst gestecktes Ziel in Hongkong erreicht. Nachdem mit dem Abbruch der Verhandlungen in Cancùn im September 2003 viele die WTO als multilaterales Verhandlungsforum kurz vor dem Scheitern stehen sahen, konnte mit der Ministerkonferenz von Hongkong in allen Verhandlungsbereichen Pflöcke für eine weitere Liberalisierungsagenda eingeschlagen werden.

Nach Cancùn und Seattle: WTO wieder stabilisiert

Einen Durchmarsch erzielten die VerhandlerInnen der Industriestaaten in Bereich Zollsenkungen bei nicht-agrarischen Gütern (non-agricultural market access - NAMA), d.h. vor allem bei Industriegütern, Forst- und Fischereiprodukten. Festgelegt wurde die "Schweizer Formel", die dafür sorgt, dass höhere Zölle stärker gesenkt werden, als niedrige. Dies bedeutet, dass vor allem die Entwicklungs- und Schwellenländer mit ihren höheren Durchschnittszöllen besonders harte Einschnitte werden hinnehmen müssen. Zwar wird es innerhalb der Formel eine Unterscheidung zwischen Entwicklungs- und Industrieländern geben, wie diese konkret aussehen wird, soll bis zum 30. April 2006 verhandelt werden. Klar ist jedoch, dass vielen Regionen des Südens weitere De-Industrialisierung bevorsteht. Die schärfsten Auseinandersetzungen in den Hinterzimmern des Kongresszentrums und der Luxushotels gab es um das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS). Im diesem Verhandlungsbereich vertritt die EU-Kommission massive Exportinteressen, z.B. im Namen der Finanzwirtschaft, des Einzelhandels sowie Telekommunikations- und Tourismusunternehmen. In Absprache mit den USA hatte die EU einen Textentwurf zu einer weit reichenden Revision des Verhandlungsverfahrens vorgelegt, der zu einer Beschleunigung und Ausweitung der Liberalisierungen führen soll. Ein Gegenvorschlag der Entwicklungsländergruppe G90 kam nicht zum Zuge. So konnte sich die Delegation der Europäischen Union in der Abschlusserklärung in einem zentralen Punkt durchsetzen: Plurilaterale Verhandlungen sollen künftig den verhältnismäßig flexiblen bilateralen Prozess nach und nach ersetzen. Zusätzlich wurde ein strikter Zeitplan verankert. Allerdings trat nicht nur die EU, sondern insbesondere auch Indien mit einer offensiven GATS-Position auf den Plan. Der Hintergrund: Einige indische Stadtregionen haben sich in den vergangenen Jahren zum "back-office" der Welt entwickelt. Immer mehr indische Unternehmen vertreiben weltweit Dienstleistungen - von der Analyse medizinischer Daten über Softwareentwicklung bis hin zu Call-Centern. Über den Unternehmensverband NASSCOM bestimmt dieser Wirtschaftssektor zunehmend die indische Handelspolitik. Demgegenüber sieht sich die Mehrheit der Entwicklungsländer durch die GATS-Agenda mit ihrer Fähigkeit zur Regulierung von Dienstleistungsunternehmen im sozial- und entwicklungspolitischen Sinne bedroht. Sollte es nach dem zweimaligen Verhandlungsabbruch bei Ministerkonferenzen in Seattle (1999) und Cancùn (2003) die Hoffnung gegeben haben, dass es auf der Folie des Nord-Süd-Antagonismus durch die Herausbildung von schlagkräftigen Süd-Allianzen zu einer strukturellen Veränderung oder gar einem Scheitern des WTO-Regimes kommt, so erledigte sich diese mit dem Juli-Paket von 2004. Damals hat in Genf ein Allgemeiner Rat (General Council) der WTO ein Rahmenabkommen geschlossen, das der angeschlagenen Verhandlungsmaschinerie wieder ein wenig Dampf machte. Spätestens seit Hongkong läuft die WTO-Maschine wieder auf vollen Touren. Zwei Länder mit stark exportorientierten Kapitalfraktionen haben nun ihren Platz im Zentrum des WTO-Verhandlungsprozesses neben insbesondere der EU und den USA gefunden: Indien und Brasilien. Die indische Regierung opfert buchstäblich die kleinbäuerliche Landwirtschaft den Interessen der exportorientierten Dienstleistungsunternehmen in den urbanen Zentren. Fast 50% der indischen bäuerlichen Haushalte sind verschuldet. Die Folge dieser Verschuldung sind jährliche Tausende von Selbstmorden. "Die WTO tötet Bauern", sagte Kishan Bir Chaudhary, Vorsitzender einer BäuerInnen-Organisation "und die indische Regierung mit ihrer WTO-Politik führt die Morde aus." In Brasilien dominiert das Agrarbusiness und einige wenige industrielle Zweige die Handelspolitik. Mit der veränderten Rolle Indiens und Brasiliens durch die "neuen Geographie des Handels" stehen die Chancen schlecht, dass mittels des Nord-Süd-Antagonismus Wege hin zu einem alternativen Weltwirtschaftssystem, möglicherweise jenseits der WTO gesucht werden. Es waren lediglich zwei Staaten, die bei der Konsens ausstellenden Abschlusszeremonie Bedenken ("reservations") und zwar hinsichtlich des GATS und NAMA artikulierten: Kuba und Venezuela. Es bedarf offenbar massive - revolutionärer oder revolutionsartiger - Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, bis diese einen Niederschlag in der globalen Handelspolitik finden.

Farbenfrohe Proteste von Bauern und Hausangestellten

Die Proteste auf den Straßen um die "Rote Zone" des festungsartigen Konferenzgebäudes waren farbenfroh, energetisch und in ihren Forderungen durchweg radikal: Die WTO muss weg! Die Mobilisierung wurde im Wesentlichen von zwei Netzwerken getragen: der lokalen Hong Kong People's Alliance (HKPA) und dem globalen KleinbäuerInnen-Netzwerk Via Campesina. Dementsprechend beruhte die soziale Basis der Proteste im Wesentlichen einerseits auf zugereisten WTO-GegnerInnen aus ländlichen Gebieten Südkoreas, Indonesiens, Malaysias und Thailands und andererseits philippinischen und indonesischen Hausangestellten aus Hongkong selbst. Verantwortlich für die zahlreichen Gegenaktivitäten waren straff organisierte transnationale Organisationen, wie die philippinische MigrantInnen-Organisation Migrante International mit Sektionen in 21 Ländern oder nationale und regionale Gruppen aus agrarischen Räumen, die über Via Campesina transnational vernetzt sind. Der Mobilisierungserfolg ist ambivalent zu beurteilen; mit jeweils ca. 5.000 (maximal 10.000) TeilnehmerInnen waren die vier "Großdemonstrationen" im Laufe der sechstägigen Verhandlungswoche eindeutig zu schwach, um durch Masse einen politischen Eindruck auf das Verhandlungsgeschehen zu hinterlassen. Dafür waren die Bedingungen allerdings auch sehr ungünstig, denn der kleinen Sonderverwaltungszone Hongkong fehlt politisches Hinterland, und die Bevölkerung ist auf Grund der ökonomischen Rolle der Stadt als zentrale Drehscheibe für den Handel in Südost-Asien grundsätzlich pro Freihandel eingestellt. Allerdings kann es die Hong Kong People's Alliance aus lokaler Perspektive als Erfolg verbuchen, dass sie trotz dieser Bedingungen im Vorfeld der Ministerkonferenz mit sehr vielen Infoveranstaltungen im öffentlichen Raum präsent sein konnten. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen im Mobilisierungsprozess liefert zudem eine gute Ausgangsbasis für kommende soziale Auseinandersetzungen in Hongkong. Dies ist nicht unbedeutend in einer Region, die in den vergangenen Jahren zu einem immer dynamischeren Zentrum massiver gesellschaftlicher Umwälzungen durch den globalisierten Kapitalismus geworden ist. So haben linke Netzwerke und (alternative) Medien in Hongkong auch eine wichtige Funktion als Sprachrohr für die steigende Flut sozialer Kämpfe in der VR China. Es gelang allerdings kaum, die Proteste außerhalb des klimatisierten, turmartigen Kongressgebäudes in die deutsche Öffentlichkeit zu bringen. Stimmen aus dem Süden wurden hier zu Lande nur wenig wahrgenommen. Nur eine Hand voll deutscher Organisationen war mit mehr oder wenig deutlicher Kritik vertreten. Breitere Aufmerksamkeit erhielten lediglich die konfrontativen Aktionen der koreanischen Bauern, die Polizeiketten aus dem Weg räumend versuchten, das Convention Centre zu erreichen, während ihre Frauen rhythmisch dazu trommelten. Gender-Antagonismen durchziehen das Feld der Anti-WTO-Aktionen auch insofern als dass die philippinischen und indonesischen Hausmädchen - obwohl sie einen entscheidenden Anteil an dem Demonstrationsgeschehen hatten - kaum sichtbar wurden. Die koreanischen Bauern haben, wie bereits in Cancùn 2003 den Verdienst, den Protesten ein Gesicht gegeben zu haben. Gut wäre es, wenn das nächste Mal ein anderes an der Reihe wäre.

Deutsche Exportschlager: Armut und Arbeitslosigkeit

Ebenfalls an der Reihe wäre, dass sich Kritik und Protest in Deutschland neben der Kommentierung von (möglichen) Verhandlungsergebnissen stärker auf die Rolle der Bundesregierung im WTO-Prozess fokussieren würden: Welche gesellschaftlichen Kräfte machen in der BRD Welthandelspolitik und mit welchen Konsequenzen? Schließlich ist die Europäische Union innerhalb des WTO-Verhandlungsrahmens neben den USA die Hardlinerin. Und innerhalb der EU artikuliert die deutsche Bundesregierung mit die aggressivsten Positionen. So unterstützten Wirtschaftsminister Glos und Landwirtschaftsminister Seehofer die Kommission dabei bis zuletzt das Enddatum für den Auslauf der Exportsubventionen zurückzuhalten. Insbesondere aber liegt das deutsche Hauptinteresse in weit reichenden Liberalisierungen bei NAMA und GATS. Dies ist auch kein Wunder, ist doch der "Exportweltmeister" BRD extrem vom Weltmarkt abhängig. Für das Jahr 2002 wurde z.B. ein Exportüberschuss von 126 Mrd. US-Dollar erzielt. Deutschland exportierte 2003 Güter im Wert von ca. 760 Mrd. Euro (ungefähr doppelt so viel wie noch 1989) und damit mehr als jedes andere Land. Mit diesem Export von Waren geht allerdings auch die Ausfuhr von etwas anderem einher: Arbeitslosigkeit und Armut. Um diesen enormen Exportüberschuss zu erzielen, müssen konkurrierende ProduzentInnen anderswo platt gemacht bzw. am besten gleich ihre Entstehung verhindert werden. Die Marktöffnungspolitik der WTO ist dazu ein passables Mittel. Transnationale Konzerne mit ihren Firmensitzen in Deutschland erhalten dank WTO verbesserten Zugang in andere Wirtschaftsräume und können dort ihre ökonomische und politische Macht ausspielen. Der gesellschaftliche Konsens aber über diese Rolle Deutschlands in der Weltwirtschaft ist tief verankert - bis weit in die Gewerkschaften hinein. Diese waren dementsprechend mit ganzen zwei VertreterInnen vor Ort und entsprechend leichtgewichtiger Kritik an der Bundesregierung im Handgepäck. Der Zeitplan für die weiteren Verhandlungen ist eng. Schon im März dieses Jahres soll in Genf ein General Council der WTO tagen, der zu einem "Hongkong II" werden könnte. Denn die Runde soll bis zum Sommer 2007 endgültig abgeschlossen werden, da dann die Sonderverhandlungsvollmacht des US-Kongresses für den Präsidenten ausläuft und wohl kaum erneuert werden wird. EU-Handelskommissar Mandelson deutete an, dass es die Kommission bevorzöge, eher bis 2010 zu verhandeln, als ein Abkommen "geringer Qualität" zu akzeptieren. In diesem Fall wäre genügend Zeit, die Kräfteverhältnisse hier und da besser mehr als weniger zu verändern. Alexis Passadakis, WEED, attac-AG Welthandel & WTO ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 502/20.1.2006