Zwischen Mondschein und Gaslicht. Heine in der ästhetischen Kultur des Industriezeitalters

Heine war nicht nur zeitgenössischer Wegbegleiter und Antipode der deutschen klassisch-romantischen "Kunstperiode", sondern auch ihr kritischer Erbe durch Aktivierung dialektischer Möglichkeiten.

Heinrich Heine war nicht nur zeitgenössischer Wegbegleiter, auch nicht nur Antipode der deutschen klassisch-romantischen "Kunstperiode" (IV, 238, 343)1 in Literatur und Theorie. Er war ihr kritischer Erbe. Denn wenn deren geistige Produktivität bewahrt werden sollte, mußten gerade ihr ideologisches Koordinatensystem aufgebrochen, die trügerische Idealisierung vergangener Kunst überwunden und eine neue radikal-demokratische Programmatik in Praxis und Theorie entwickelt werden. Und zwar durch Aktivierung dialektischer Möglichkeiten, welche die neue, die "moderne kritische Wissenschaftsperiode" (V, 56) bot, wie er sie in Die Romantische Schule von 1833/35 bezeichnet.

Das ist eine Umwendung, deren Hauptgegenstand eben nicht der ästhetische Schein, sondern die geschichtliche Epoche selbst ist. Und aus dem bewußten Verhältnis zu den sich in ihr vollziehenden Prozessen, Kämpfen und aus ihnen hervorstoßenden Perspektiven erwächst bei Heine die Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit, des Werkmodells in seiner Beziehung zum Gegenstand - in den gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen wie in dem besonderen Bezug zwischen Poet und Welt. Das schließt ein den Wandel der Schönheitsvorstellungen in Gehalt und Form, der Dialektik von Schönheit und Häßlichkeit. Literatur sollte nicht ästhetisch und politisch resignieren, sondern den Kampf aufnehmen, dadurch auch das emanzipatorische Anliegen von Aufklärung und Klassik bewahren: nämlich Kunst zu produzieren, die dem Epochengehalt gemäß ist, diesen vermittelt und mitgestaltet - den ungünstigen Verhältnissen zum Trotz. Heine unternimmt das unter den neuen Bedingungen zwischen den europäischen Revolutionen von 1789 und 1848, in einem geschichtlichen Horizont, in dem die vergehende feudale Welt und der sich entfaltende moderne Kapitalismus aufeinandertreffen, aber bereits sozialistische Elemente aufdämmern.

Dampfwagen und Mondnacht

In seinen Englischen Fragmenten von 1828 gibt Heine eine atmosphärische Zusammenfassung der Widersprüche, deren komplexes Wirken er erlebte, nachdem aus dem "gewöhnlichen Staatsschiff" des Inselreichs ein wendiges "Dampfboot" mit "ungeheurem Maschinenwerk" (III, 447) geworden war. Er schreibt: "Überreichtum und Misere, Orthodoxie und Unglauben, Freiheit und Knechtschaft, Grausamkeit und Milde, Ehrlichkeit und Gaunerei, diese Gegensätze in ihren tollsten Extremen, darüber der graue Nebelhimmel, von allen Seiten summende Maschinen, Zahlen, Gaslichter, Schornsteine, Zeitungen, Porterkrüge, geschlossene Mäuler, alles dieses hängt so zusammen, daß wir uns keins ohne das andere denken können, und was vereinzelt unser Erstaunen oder Lachen erregen würde, erscheint uns als ganz gewöhnlich und ernsthaft in seiner Vereinigung." (Ebenda, 431 f.)

In dieser Welt verändert die industrielle Revolution, der Heine sich nicht nur in den Englischen Fragmenten stellt, Gegenstände, Produktions-, Verbreitungs- und Rezeptionsbedingungen, Traditionsbezüge und Funktionen der Künste, die Tendenzen der Alltagskultur. Darum notiert er später in einem Nachlaßfragment: "Die höchste Blüte des deutschen Geistes: Philosophie und Lied - Die Zeit ist vorbei, es gehörte dazu die idyllische Ruhe, Deutschland ist fortgerissen in die Bewegung - der Gedanke ist nicht mehr uneigennützig, in seine abstrakte Welt stürzt die rohe Tatsache - Der Dampfwagen der Eisenbahn gibt uns eine zittrige Gemütserschütterung, wobei kein Lied aufgehen kann, der Kohlendampf verscheucht die Sangesvögel, und der Gasbeleuchtungsgestank verdirbt die duftige Mondnacht." (VII, 408; vgl. auch 424) Aber, so ist nachzufragen: Welche Schönheit muß ersticken? Welche Lieder müssen verstummen?

Heine belegt an der zitierten und an anderen Stellen zunächst, daß der Verlust der Landschafts- und Reiseromantik nicht erst im 20. Jahrhundert beklagt wurde, sondern bereits unmittelbar nach der Ablösung der Postkutsche durch die Eisenbahn. Erst dann - und nicht vorher - wird die Idylle des Posthorns und Fuhrmanns vor dem Hintergrund der eingetretenen Veränderungen besungen, der offenbar nun die - wie auch immer berechtigte - Wertschätzung der vergangenen Epoche ermöglicht. Und Heine belegt die Tragweite seiner im Bericht zur Gemäldeausstellung in Paris 1831 getroffenen Feststellung, daß die Künste zwar der geschichtlichen Bewegung folgten, "doch nicht mit gleichem Schritte" (IV, 346) - eine zu seinen Zeiten heftig diskutierte Problematik.2

Aber er bietet nicht einfach Proben vorindustrieller Idyllik bzw. idyllisierender Technikdarstellung wie noch Adelbert von Chamisso in seinem Gedicht Das Dampfroß, 1830 entstanden. Er ist auch kein Vorbote jenes negativ verkehrten, romantisch verbrämten und in die Gegenwart der modernen Industrie- und Massengesellschaft verlängerten, geradezu neomythologischen Technikfetischismus, der nun in der Maschine überhaupt nur noch eine immer größere Gefährdung für Natur und Mensch, die überlieferten humanistischen Ideale und die Offenbarungen des Geistes sieht. Heine verweist vielmehr an dieser und anderen Stellen auf einen komplexen historischen Zusammenhang. Denn die Eisenbahn gehörte zu den augenfälligsten Faktoren und Erscheinungsformen jener Wandlungen, die im 19. Jahrhundert mit der von England ausgehenden industriellen Revolution, mit der Entstehung neuer Weltwirtschaftsräume und Kapitalbewegungen einsetzten: der Wandlungen des Verhältnisses der massenhaften Individuen zur natürlichen Umwelt, ihrer sozialen Mobilität, ihrer Raum- und Zeiterfahrung, ihrer Lebensgefühle und Wahrnehmungsweisen.

Die Zahl der Dampfmotoren stieg in Frankreich von etwa 600 im Jahre 1830 auf rund 5000 im Revolutionsjahr 1848. 1834 wurde die Strecke Paris - Saint Germain eröffnet, 1837 waren die Schienen von Paris nach Versailles verlegt. Anläßlich der Eröffnung der Eisenbahnlinien von Paris nach Orléans und nach Rouen im Jahre 1843 schreibt Heine daher in den Lutetia-Berichten über die Bahn, sie sogleich wie andere "große Bewegungsmächte" der Geschichte, darunter den Buchdruck, den Kompaß und das Schießpulver, in den Zusammenhang einer welthistorischen Wendezeit stellend: "Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providentielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte [...]" (VI, 478). Und es heißt weiter: "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig." (Ebenda, 478 f.)

Früher als Industriearbeit und Großstadtleben, die Heine seit den Englischen Fragmenten thematisiert, schlug sich die Eisenbahn vor allem als Handlungsträger und Metaphernbildner in der europäischen Literatur nieder.3 Ein langfristig wirkender Prozeß der Entdeckung ästhetischer Möglichkeiten des zunehmend technisierten Alltags, der "Mechanisierung des Schönen".4 Zu diesen zählen der flüchtige Blick und das transitorische Erlebnis, die Duplizität von physischer Bewegung und emotionalem Bewegtsein. Ihre Folgen für die Optik des Gegenständlichen und die Bewegungsdarstellung in der Literatur werden im Laufe des 19. Jahrhunderts an neuartigen sensorischen Elementen, so der mimetischen Lautmalerei, und an vielfältigen Allegorisierungen mit archaisierender Tendenz deutlich. Zur weiteren gestalterischen Skala gehört die Stilisierung des Zuges zum Medium von menschlicher Begegnung oder Entfremdung, des Schienenweges zur Fortschritts- oder Todesspur.

Blicke allein schon auf Werke englischer und deutscher Zeitgenossen Heines machen die signifikante Rolle des Eisenbahnmotivs in der Literatur bewußt: William Wordsworth übte in seinem Gedicht On the Projected Kendal and Windermere Railway (1844) neben ethischer auch soziale Kritik; Charles DickensÂ’ Roman Dombey and Son von 1847/48 erfaßte die Bahn als Zeichen sozialen Wandels und als Sinnbild lebensphilosophischer Problemstellungen. Wie facettenreich die kulturgeschichtliche Umwälzung durch das Eisenbahnwesen als technische und kulturelle Instanz im Kontext der industriellen Revolution, die Veränderungen des modernen Bewußtseins interpretiert wurden, belegen aber auch essayistische Texte, zum Beispiel The Seven Lamps of Architecture (1849) von John Ruskin, dem Sozialreformer und Kunsttheoretiker, dem Gegner der kapitalistischen Industrialisierung. Von ihm wurden einerseits die Entmündigung des Reisenden durch die neue Fortbewegungsart, andererseits die Entfremdung vom durchfahrenen Raum attackiert.

In der deutschen Literatur mit Eisenbahnmotiven sind den englischen verwandte Deutungsschwerpunkte zu ermitteln: neben der inhaltlichen Verknüpfung der Bahn mit einem starken Idylle-Bedürfnis und der Empfindung des Naturverlusts die Einbeziehung sozialer Fragestellungen und politischer Zukunftshoffnungen. So verband Adolf Glaßbrenner in seinem Stück Herr Buffey auf der Berlin-Leipziger Eisenbahn von 1844 als Satiriker Schwank-Elemente mit einer politischen Botschaft, mit der Idee des Zusammenhangs von Freiheit und industrieller Technik. Und diese ist ein wichtiges Motiv auch des Heineschen Werkes.

Neue Lieder

Nochmals die Fragen an Heines zitierte Nachlaßnotiz zum Industriezeitalter: Welche Schönheit muß ersticken? Welche Lieder müssen verstummen?

Denn Heine kennt doch schon neue Lieder; er hörte sie bei den französischen Handwerkern und Arbeitern republikanischer und egalitaristischer Gesinnung, dem, wie es in den Lutetia-Berichten heißt, "kräftigsten Teil der untern Klasse" (VI, 268), der sich in seinen Äußerungsformen aber keineswegs mit Lektüre und Diskussion der revolutionär-utopischen Schriften von Babeuf, Buonarrotti, Cabet, Marat und Robespierre begnügte. Er hörte sie "Lieder [...] singen, die in der Hölle gedichtet zu sein schienen und deren Refrains von der wildesten Aufregung zeugten. Nein, von den dämonischen Tönen, die in jenen Liedern walten, kann man sich in unserer zarten Sphäre gar keinen Begriff machen; man muß dergleichen mit eigenen Ohren angehört haben, z.[um] B.[eispiel] in jenen ungeheuren Werkstätten, wo Metalle verarbeitet werden und die halbnackten, trotzigen Gestalten während des Singens mit dem großen eisernen Hammer den Takt schlagen auf dem dröhnenden Amboß. Solches Akkompagnement ist von größtem Effekt sowie auch die Beleuchtung, wenn die zornigen Funken aus der Esse hervorsprühen. Nichts als Leidenschaft und Flamme! [-] Eine Frucht dieser Saat, droht aus Frankreichs Boden früh oder spät die Republik hervorzubrechen." (Ebenda) So berichtete Heine 1840 über Pariser "Volksleben, Kunst und Politik" - und wenige Jahre später schrieb er Die schlesischen Weber. Jenes kämpferische Zeitgedicht, aus dem ein so anderer Geist spricht als aus Carl Wilhelm Hübners sentimental-anekdotischer, melancholisch-resignativer und glatt-gefälliger Gemäldeinszenierung mit dem gleichen Titel von 1844.

Industriearbeit erscheint bei Heine als selbstverständlicher literarischer Gegenstand, gehört für ihn zum "Stoff der modernen Literatur " (V, 215). Er hat zwar einen mit traditionellen Schönheitsidealen durchsetzten, sozialromantischen ästhetischen Blick, der unter anderem an Adolph von Menzels Darstellung von Industriearbeitern im Heckmannschen Gedenkblatt von 1869 und seine berühmten Eisenwalzwerk- Gemälde von 1875 und 1900 erinnert.5 Doch hört er diese Lieder als Erscheinungsformen der neuen Lage, der neuen Lebensverhältnisse und der von ihren Subjekten entfalteten sozialen, bereits über die politische Alternative von Monarchie oder Republik hinausweisenden Bewegung, bezieht er sie auf den gesellschaftlichen Gesamtzustand. Und er sucht im Vorhandenen schon die Signatur der Zukunft. Denn erst die sozial-sensualistische, aus dem ästhetischen Exil befreite Diesseitigkeit beweist ja die Tragfähigkeit der gesellschaftlichen Entwurfsphantasie, der Vision.

Im Gesang äußerten die Arbeiter ihr soziales Sein und ihr politisches Wollen. Heine entwickelt - und das gehört zu den größten Reizen, die von seiner publizistischen Prosa ausgehen - die Methode, in der traditionsbewußten und kollektiv verbindlichen ästhetischen Betätigung den Spiegel sozialer Prozesse, in diesem den Kontext der Gesamtbewegung zu sehen. Und er sucht das - ästhetisch formiert und also kommunikationsstiftend - als Erfahrung für den Leser darzustellen, der nun seinen eigenen Erfahrungshorizont mit dieser vermitteln, das Wesentliche geschichtlich-sozialer Zustände selbst erfassen kann.

Tanzende Verhältnisse

In den Lutetia-Berichten findet sich auf wenigen Seiten auch eine Darstellung der Pariser Tanz-Szenerie des Jahres 1842: "›Wir tanzen hier auf einem Vulkan‹ - aber wir tanzen [...]." (Ebenda, 415)

Vorangegangen ist die kritische soziale und politische Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft. Jetzt erscheint im Medium ihrer Tanzpraxis diese Gesellschaft als geschichtliches Durchgangsstadium. Zunächst werden die erfolgreiche Kunst des Balletts benannt, die erstarrte Académie Royale de Musique ironisch attackiert, eine erfolgreiche Tänzerin bewundert: "[...] man schwebt mit ihr empor in die hängenden Zaubergärten jenes Geisterreichs, worin sie als Königin waltet. Ja, sie hat ganz den Charakter jener Elementargeister, die wir uns immer tanzend denken und von deren gewaltigen Tanzweisen das Volk so viel Wunderliches fabelt." (Ebenda, 415 f.)

Dann wirft Heine historische Blicke auf den Tanz als heidnische Kunst, die der Kirche fremd blieb, von ihr nicht aufgenommen wurde, die im französischen Ballett zu christianisieren, dann höfisch zu integrieren versucht worden sei. Tanz oben und unten, Schein und Sein, Rausch und phantasmagorische Angst sind hier als Jahrhundertmotive angeschlagen. Sie behaupteten sich bekanntlich im Pariser Operettenwerk Jacques Offenbachs fort, in seinen Opernparodien und musikalisch-politischen Satiren, in seinen Rollentausch-Motiven. 6

Die Gesellschaftsbälle werden von Heine kurz als Unternehmungen abgetan, die der Mentalität der reichen Bourgeois entsprechen: "Was die Bälle der vornehmen Welt noch langweiliger macht, als sie von Gott und Rechts wegen sein dürften, ist die dort herrschende Mode, daß man nur zum Scheine tanzt [...]. Keiner will mehr den andern amüsieren, und dieser Egoismus bekundet sich auch im Tanze der heutigen Gesellschaft." (Ebenda, 418) Dagegen stellt Heine fest: "Die untern Klassen, wie gerne sie auch die vornehme Welt nachäffen, haben sich dennoch nicht zu solchem selbstsüchtigen Scheintanz verstehen können; ihr Tanzen hat noch Realität, aber leider eine sehr bedauernswürdige." (Ebenda)

Dann schildert er den Cancan und seine Variationen, wiederum in bezug auf die Gesellschaft, eingeschlossen die allgegenwärtige Polizeikontrolle und ihre Schikanen. Sein Kommentar: "Diese Bewachung der Volkslust charakterisiert übrigens den hiesigen Zustand der Dinge und zeigt, wie weit es die Franzosen in der Freiheit gebracht haben." (Ebenda, 419 f.) Heine macht deutlich, daß die Polizei der Julimonarchie hier nicht ohne Grund beobachtet und einschreitet: Dieser entfesselte Tanz sei eine spöttische Gegenwelt gegen die offizielle Gesellschaft, sei "eine getanzte Persiflage, die nicht bloß die geschlechtlichen Beziehungen verspottet, sondern auch die bürgerlichen, sondern auch alles, was gut und schön ist, sondern auch jede Art von Begeisterung, die Vaterlandsliebe, die Treue, den Glauben, die Familiengefühle, den Heroismus, die Gottheit" (Ebenda, 420).

Heines ironisches Entsetzen und seine vorhergehende Begründung, warum das Volk den offiziell propagierten Wertvorstellungen nicht mehr folgen will, wenn diese von den Herrschenden selbst erschüttert werden, gehören bei aller Gegensätzlichkeit zusammen. Seine Beschreibung steigert sich dann zur Darstellung des Tanzens als schwarze Messe unter dem "frechen Feuer der Gasbeleuchtung", als "Mummenschanz" mit "dämonischer Lust" (Ebenda). Plötzlich wird im Tanz die unterschwellige Negation der offiziellen Gesellschaft, der verborgene "Vulkan" anschaulich. Der gegebene Zustand bürgerlicher Ordnung, steriler Formen sich bedienend, erscheint bedroht, ja schon widerlegt durch das teuflische Toben, in dem lange unterdrückte heidnische Sinnlichkeit und soziales Aufbegehren zusammenkommen.

Stand am Anfang das romantische Traumbild der Tanzkunst - schöne Blume inmitten der Prosalandschaft des alltäglichen Lebens -, so korrespondiert mit ihm nun das "satanische Spektakel" (Ebenda, 421), an dem soziale, weltanschauliche und ästhetische Zusammenhänge aufblitzen. Nicht ›schön‹ ist, was da von unten empordrängt, während zugleich das Träumerische, das Unreale getanzter Schönheit und die egoistische Hohlheit bourgeoiser Tanzkonventionen ein unheimliches Bild vom Sein der Gesellschaft vermitteln, deren geheime und offene Zwänge nur mühsam, beinahe schon vergeblich das Unterdrückte absorbieren und kanalisieren. Heine macht am Tanzen deutlich, daß da eine Revolution heranreift.

Hier sind das Ästhetische, seine Praxis und seine Theorie ganz für das Soziale geöffnet. Was und wie getanzt wird, hängt damit zusammen, daß "in jenem Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft, in jenen Katakomben [...] unter Tod und Verwesung das neue Leben keimt und knospet. Kommunismus ist der geheime Name des furchtbaren Antagonisten, der die Proletarierherrschaft mit allen ihren Konsequenzen dem heutigen Bourgeoisregimente entgegensetzt. [...] Wir dürfen daher diesen Akteur nie aus den Augen verlieren, und wir wollen zuweilen von den geheimen Proben berichten, worin er sich zu seinem Debüt vorbereitet. Solche Hindeutungen sind vielleicht wichtiger als alle Mitteilungen über Wahlumtriebe, Parteihader und Kabinettsintrigen." (Ebenda, 432)

Die Einsicht, daß "die Furcht [...] hier die Stütze aller Dinge" (Ebenda, 441) in der etablierten bürgerlichen Gesellschaft sei, läßt am Tanz die Signatur der sozialen Rebellion aufleuchten. Heine identifiziert in diesen und anderen Ansätzen zu einer soziologisch fundierten Ästhetik nicht einfach nur Tanz und Politik, auch nicht nur die sozialen Kräfte, die in ihnen sich gegensätzlich betätigen. Er umreißt vielmehr einen historischen Zusammenhang, der in diesem ästhetischen Tun sozial, politisch und weltanschaulich transparent wird.

Poesie und Daguerreotypie

Auch Heines Selbstdarstellung ist deshalb Darstellung der Epoche. Es heißt in der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland von 1834: "Die Poesie ist nicht mehr objektiv, episch, naiv, sondern subjektiv, lyrisch, reflektierend." (V, 215) Die Werke als "träumendes Spiegelbild ihrer Zeit" (IV, 343), die Künste als "Spiegel des Lebens" (V, 23) können diese ihre ›spiegelnde‹ Funktion aber nur über die Subjektivität des Autors vermitteln. Daher spricht Heine in der Denkschrift über Ludwig Börne davon, daß "dieses beständige Konstatieren meiner Persönlichkeit das geeignetste Mittel" sei, "ein Selbsturteil des Lesers zu fördern" (VI, 213).

Zu den Besonderheiten der Heineschen Praxis und Selbstreflexion gehört deshalb, daß er - ohne die Tiefe, die Intensität dieser Subjektivität, die Unbedingtheit ihres Fühlens und Erfahrens zu mindern - sie dennoch historisiert, sie selbst als sozialgeschichtlich bedingt versteht und dadurch ebenso objektiviert wie relativiert. Und zwar ohne Berufung auf eine vermeintlich ewige dichterische ›Natur‹, einen zeitenthobenen ›Geist‹ oder etwas ›Göttliches‹, das da im Dichter vermeintlich zum Wort wird, auch nicht auf eine latente, quasi naturgegebene literarische Negativität gegenüber der Wirklichkeit und andere metaphysische Hilfskonstruktionen. Wenn Heine sie verwendet, dann nur ironisch, etwa in Atta Troll - ein Sommernachtstraum von 1842. Er beruft sich vielmehr auf Phänomene der Industrialisierung, der Raumerschließung, der revolutionären Politisierung - ebenso aber bereits auf Techniken der Informationsverarbeitung, der Mediatisierung des Alltags- und Kulturlebens.

So ist es für Heines Positionsbestimmung und Selbstreflexion aufschlußreich, daß er an einigen Stellen seines Prosawerkes auf einen der Pioniere der Fotografie, den Franzosen Louis Jacques Mandé Daguerre (1787-1851), verweist, damit auf eine Erscheinungsform der durch die industrielle Revolution, die Feinmechanik, Optik und Chemie dynamisierten und effektivierten Informationsverarbeitung. So schreibt er im Vorwort zur zweiten Auflage der Novellensammlung von Alexander Weill Sittengemälde aus dem elsässischen Volksleben (1847) über den Autor: "Er ergreift das Leben in jeder momentanen Äußerung, er ertappt es auf der Tat, und er selbst ist sozusagen ein passioniertes Daguerreotyp, das die Erscheinungswelt mehr oder minder glücklich und manchmal, nach den Launen des Zufalls, poetisch abspiegelt." (VII, 313 f.)

Ausgehend von den Vorarbeiten von Nicéphore Niépce, gelang Daguerre im Jahre 1837 mit Hilfe von jodierten Silberplatten die erste vollständige sogenannte "Daguerreotypie". Niépce war, wie auch nach ihm der Engländer William Henry Fox Talbot (1800-1877), vor allem an der Vervielfältigungsmöglichkeit von Bildern und Schriften interessiert, wogegen Daguerre noch ganz traditionell seine Fotografien als inszenierte Einzelkunstwerke von der Qualität Raffaels und Lorrains ansah. Erst Talbot schuf mit seinen sogenannten "Kalotypien " - wörtlich: "schönen Drucken" -, den späteren "Talbotypien", auf der Basis von Negativen eine Grundlage für den Beginn der Fotografie als Massenkommunikationsmittel einer neuen Welt.7

Deutlich verweist Heine auf neue Probleme, denen sich die von ihm unter anderem anläßlich der Pariser Gemäldeausstellung von 1831 ersehnte "neue Kunst" mit ihrer "neuen Technik" (IV, 344) stellen sollte, im Zueignungsbrief an den Fürsten Pückler-Muskau, den die Lutetia-Ausgabe von 1854 enthält. Denn die Fotografie forcierte die Beziehungen zwischen Ästhetischem und Authentischem, Bildhaftem und Dokumentarischem, von Kunstwert und Massencharakter, trieb damit nicht nur die Malerei, sondern auch die Literatur und das literarische Selbstverständnis in neue Widerspruchskonstellationen. Es heißt: "[...] meine Berichte sind ein daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selber abkonterfeite, und durch die Zusammenstellung solcher Bilder hat der ordnende Geist des Künstlers ein Werk geliefert, worin das Dargestellte seine Treue authentisch, durch sich selbst dokumentiert. Mein Buch ist daher zugleich ein Produkt der Natur und der Kunst [...]." (VI, 255)

Auch das ist ein Aspekt von Heines Historisierung und Politisierung der Künste, damit seiner ästhetischen Modernität. Er sieht in seinen verstreuten Bemerkungen den Doppelcharakter der Fotografie als dokumentarische und künstlerische Form, als Abbild und Bild, wendet sich gegen das zählebige, unter anderem von Karl Friedrich von Rumohr vertretene ästhetische Dogma von der Kunst als Nachahmung der Natur (vgl. IV, 316). Noch in den nachgelassenen Aphorismen und Fragmenten notiert Heine: "Daguerreotype - Zeugnis gegen die irrige Ansicht, daß die Kunst eine Nachahmung der Natur - die Natur hat selbst den Beweis geliefert, wie wenig sie von Kunst versteht, wie kläglich, wenn sie sich mit Kunst abgibt -" (VII, 428; vgl. auch 140). Ihn interessierte schon die sich andeutende Expansion der visuellen Erfahrung, welche auch die Chance bot, einschichtig-lineares Denken, statische Weltbilder und Bilderwelten zu untergraben.8

Es bestand ja ein starkes Bedürfnis zum Beispiel nach konventionellen Bildern der Art Daguerres bei einer immer größer werdenden Schicht wohlhabender Bürger, die ihren Reichtum vor allem dem Handel mit industriell gefertigten Massenprodukten verdankten. Daguerre traf mit seinen fotografischen Inszenierungen von Erzeugnissen einer im Entstehen begriffenen Kunstindustrie zweifellos deren Geschmack. So zeigt eines seiner Stilleben einen Altar aus Renommierstücken der bürgerlichen Welt, nämlich Kopien überlieferter Figuren: die Skulptur eines liegenden Frauenaktes, eine variierte Zeusgestalt, das Element einer gotischen Kathedrale, eine Meerjungfrau und eine aus Delphinen zusammengesetzte Tischsäule, auf der ein Kristallgefäß steht. Eine Collage gipsgewordener bürgerlicher Bildungsideale - an der sich Heines Ironie gewiß entzündet hätte.

Medienbewußte Prosa

Durch das von Heine unter anderem im Börne-Buch beschworene "ständige Konstatieren" der "Persönlichkeit" (VI, 213) wird die künstlerische Subjektivität in Kontrast zur Objektivität dargestellt, selbst objektiviert in ihrer Bedingtheit, in ihrer Relativität. Und sie wird dadurch zugleich geistig frei sich selbst gegenüber. Denn die "Persönlichkeit" wird gerade durch ihr "Konstatieren" objektiviert im Kontext der Bedingungen, Verhältnisse, Zustände, dargestellt im vollziehbaren subjektiven Erfahrungs- und Urteilsbildungsprozeß. Besonders in der Prosa Heines erscheint das Erfahrene in scheinbarer Zufälligkeit - die in Wirklichkeit wohlorganisiert und -komponiert ist und den Leser selbst urteilend Erfahrung sammeln läßt. Das schließt den kommunikativen Bezug auf den mündig Urteilenden ein, dem Erfahrung mitgeteilt wird, mit dem der Autor sich geschmeidig verständigt über das gemeinsam Interessierende: Zusammenhang, Entwicklung und Veränderungsbedürftigkeit der Welt, die Positionen von Freunden und Feinden in ihr und zu ihr. Und so entsteht eine neue, aus dem Kommunikationsprozeß erwachsende, immer auf diesen bezogene ästhetische Werkwelt, die im kollektiven Austauschvorgang, im vermittelten Erfahrungsprozeß sich herstellt und ihre Gemeinsamkeit im Epochenbilde gewinnt. Diese Heinesche Werkwelt ist nur zu begreifen im Zusammenhang sowohl mit der zeitgenössischen Widersprüchlichkeit der Literaturprozesse, den Veränderungen der gesamten Literaturbegrifflichkeit und eben der Entstehung einer neuen, über Klassizismus und Romantizismus hinausweisenden Auffassung von literarischer Subjektivität als auch mit der Komplexität des dynamischen gesellschaftlichen Gesamtgeschehens und der Problematik neuer literarischer Wirksamkeit zwischen 1789 und 1848. Die Einbeziehung von Literatur in die apologetische politische Propaganda, die unentwickelte Selbstbewegung der unteren Schichten, die von vielen politisch-literarischen Auseinandersetzungen und Umbrüchen erschütterten intellektuellen Gruppenbildungen fanden ihren Niederschlag natürlich auch in Heines Umgang mit der Welt der zeitgenössischen Printmedien.

Heine wußte um die "Oligarchie" (VI, 299) der zeitgenössischen Journale, ihre "beschränkende Abhängigkeit" von Kapitalgebern und ihr Streben nach "Exklusivität" (Ebenda, 300) bis in die Textgestaltung hinein, um ihre Fetischisierung der "augenblicklichen Tagesinteressen", der "sogenannten Aktualitäten" (VII, 422). Das belegen unter anderem die Lutetia-Berichte und fragmentarische Notizen. Es ist Produkt und Widerschein seiner sozialen und literarischen Intentionen, daß er seine Prosa und Poesie dennoch nicht nur in die traditionelle "Unzahl ästhetischer Blätter" (V, 79) transferiert, sondern auch in die modernen publizistischen Kommunikationsmittel massenwirksamen Charakters, politisch-kulturellen Zeitschriften und anderen Periodika. Unter ihnen: die Allgemeine Zeitung, Der Gesellschafter, Europe littéraire, La Tribune des Républicains, Neue Allgemeine Politische Annalen, Pariser deutsche Zeitung, Revue des Deux Mondes, Zeitung für die Elegante Welt.

Aus der ›Prosa‹ solcher Medien gewinnt er die Möglichkeiten einer neuen, die Wirklichkeit ergreifenden und in sie eingreifenden, ihre Erkenntnis in anschaulicher wie gedanklicher Form organisierenden, kritisch operierenden poetischen Prosa und prosaischen Poesie. Das besagt, daß von Heine hier eine spezifische, immanente Kommunikationsfähigkeit von Literatur zum Tragen gebracht wird, eingeschlossen ein eigener Anspruch auf Wahrheit: Das Volk solle "wohlunterrichtet über die wahre Lage der Dinge", solle "politisch aufgeklärt" sein (IV, 560), betont er in den Französischen Zuständen von 1831/32. Denn wenn Engagement nicht bloße Meinung, sondern verbindlich ist, muß es sich auf die geschichtlichen Erkenntnis- und Wirkungsbedingungen einlassen. Und das sind in dieser Phase des sich entfaltenden industriellen Kapitalismus auch die jungen publizistischen Medien, die von ihnen erzeugten Öffentlichkeiten als künstlerisch-politische Organe, als den Poeten zum publikumswirksamen Akteur machenden Räume; die frühen feuilletonistischen Kunst- und Meinungsmärkte, korrespondierend mit Lesergewohnheiten und -erwartungen sowie mit der Zensur.9 Aus diesem System ergibt sich wiederum ein spezifisches Rollenverhalten, das nicht fremde Maske des sich gegen seine Überzeugung Verkaufenden ist, wohl aber bewußtes Verhalten dessen, der das Eigene immer mit dem Ziel der Einflußnahme, unter Berücksichtigung des Adressaten, gleichsam mit eingesenkter Markterfahrung, mit verinnerlichten Wirkungsbedingungen schafft.

Die "periodische Presse", die Heine in seiner Einleitung zu der Schrift des liberalen Publizisten Robert Wesselhöft Kahldorf über den Adel in Briefen an den Grafen M.[agnus] von Moltke (1831) als "das mächtigste Beförderungsmittel der Volksintelligenz" (IV, 278) bezeichnet, war ihm also Form, Forum und Bedingung dafür, aufklärerisch die Wirklichkeit zu erobern. Sie machte für ihn zugleich die poetische Subjektivität zum Öffentlichkeitsmoment. Und er setzte sie ein, um gerade das von ihr Fetischisierte zu attackieren. Es heißt enthusiastisch: "Das ist ja eben der Segen der Preßfreiheit, sie raubt der kühnen Sprache des Demagogen allen Zauber der Neuheit, das leidenschaftlichste Wort neutralisiert sie durch ebenso leidenschaftliche Gegenrede, und sie erstickt in der Geburt schon die Lügengerüchte, die, von Zufall oder Bosheit gesät, so tödlich frech emporwuchern im Verborgenen, gleich jenen Giftpflanzen, die nur in dunklen Waldsümpfen und im Schatten alter Burg- und Kirchentrümmer gedeihen, im hellen Sonnenlichte aber elendig und jämmerlich verdorren." (Ebenda, 279)

Ironisches Reisen

Die ästhetischen Muster, die von der vorangegangenen und zeitgenössischen printmedialen Reiseliteratur ausgeprägt wurden und denen Heine sich zu stellen hatte, waren intensiv und langlebig.10 Sie beeinflussen in modifizierter Form noch heute das Reiseverhalten und seine Reflexion. Ging es in den Hoch-Zeiten aufklärerischen Reisens vor allem darum, exakte Kenntnis von anderen Lebensweisen zu erlangen, traten später, in den sogenannten ›empfindsamen‹ und ›romantischen‹ Zeiten, der subjektive Genuß und die durch ihn ausgelösten Phantasien in den Vordergrund. Durch gewissermaßen gefärbte Gläser betrachtete man ausgesuchte Landschaften. So verschaffte man sich das Erlebnis des ›Pittoresken‹, der geheimnisvoll romantisierten Plastizität, das sonst nur durch Gemälde zu bekommen war.11 Das Entzückungsziel des - über ein Lustgefühl der Einsamkeit zwischen dem ursprünglich-schroffen ›Erhabenen‹ und dem artifiziell-gefälligen ›Schönen‹ vermittelnden - ›Pittoresken‹ löste mit der aufkommenden Romantik die vorher dominierende Gleichförmigkeit und Gerichtetheit der Bildungsreise ab.

Wie die Reisebilder aus den Jahren 1822 bis 1846 zeigen, reiste Heine gern, bewegte sich lebhaft in anderer Gesellschaft, wenn er ihrer Sprache mächtig war, und stiefelte zwischen England, Italien, Frankreich und Deutschland auch über Stock und Stein. Aber, zugespitzt gefragt: War er doch nicht vielmehr unterwegs in Zeiten und Kulturen als in geographischen und urbanen Räumen, und zwar stets mit Abstand und Mißtrauen? Denn von seiner Zeit vermittelte er Bilder, denen Geographie und Urbanität oft nur als Staffagen dienten. Heine schreibt daher in Die Bäder von Lucca (1829): "Es gibt nichts Langweiligeres auf dieser Erde als die Lektüre einer italienischen Reisebeschreibung - außer etwa das Schreiben derselben -, und nur dadurch kann der Verfasser sie einigermaßen erträglich machen, daß er von Italien selbst so wenig als möglich darin redet." (III, 308)

Der Eingangssatz der Harzreise von 1824 steht für diese Methode, die konventionelle Erwartungen unterläuft: "Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist." (Ebenda, 18) Und über Goslar heißt es: "Der Name Goslar klingt so erfreulich, und es knüpfen sich daran so viele uralte Kaisererinnerungen, daß ich eine imposante, stattliche Stadt erwartete. Aber so geht es, wenn man die Berühmten in der Nähe besieht! Ich fand ein Nest mit meistens schmalen, labyrinthisch krummen Straßen, allwo mittendrin ein kleines Wasser, wahrscheinlich die Gose, fließt, verfallen und dumpfig, und ein Pflaster, so holprig wie Berliner Hexameter." (Ebenda, 37 f.)

Heines Reisebilder machen in den Wechselbeziehungen der Länder die Epochenbewegung sichtbar. Sie sind krisenhaften Zuständen gewidmet, meist solchen, an denen er litt, die er aber nicht als Krankheiten, sondern als Entscheidungssituationen sah; Deutschland ging ihm auch in der Ferne natürlich nicht aus dem Kopf. Und durch die Ironie, die Auflösung des über der Realität und ihrer ästhetischen Aneignung liegenden Scheins, durch die Verbindung heterogener Textformen und Stilelemente konkretisiert und realisiert Heine praktisch, was er von der Freiheit des Selbstbewußtseins durch künstlerische Produktivität theoretisch entwickelt. Die Ironie ist wesentlich die Weise, die historische Relativierung von Subjekt und Objekt, Ich und Weltzustand, Selbstbild und Fremdbild, Anschauung und Idee über die Dialektik der Kontraste, Beziehungen, Desillusionierungen zu organisieren. Sie ist somit die Weise, im poetischen Akt die geistige Freiheit der Subjektivität als Bedingung selbständigen Urteilens und möglichen Handelns herzustellen und zu bewahren, ja kollektiv verbindlich zu machen. Sie ist zugleich das Moment, in dem seine Subjektivität Freiheit auch gegenüber ihren eigenen Zuständen und Äußerungen gewinnt. Sie erweist sich als notwendige Ausdrucks- und Verhaltensform Heines in dieser seiner Epoche. Mit ihr bewies er nicht zuletzt die Tragfähigkeit des kritischen, über seinen historisch-sozialen Boden, die bürgerliche Emanzipationsbewegung, hinausweisenden Potentials von Aufklärung und Klassik.

Darum entwickelte er mit dem Reisebild eine Prosaform, die an den inhaltlichen und formalen Reiz nicht primär des klassischen Reiseberichts, sondern an den des Essays denken läßt. Der Essay ist ja eine offene, entgrenzte Form der literarischen Kommunikation, eine persönlich-souveräne, oft mehrdeutig und mit polemischer Note angelegte, traditionsbewußte und kollektiv verbindliche Form des Fragens und Suchens, nicht zuletzt der Selbstreflexion. Denn sie verbindet politische, wissenschaftliche und künstlerische Erkenntnisse und Bekenntnisse durch Poetisieren, durch Erzählen von Gedanken mit ästhetischem Reiz und spricht damit den Leser auf besondere Weise als Dialogpartner an. Deutlich wird bei Heine auch der transferierende und synthetisierende Effekt seiner Reiseessayistik: Sie steht in einem produktiven Wechselspiel mit anderen Formen und Gattungen, zum Beispiel der historischen Abhandlung und dem tagespolitischem Manifest. Sie vereinigt immer drei Komponenten: das Künstlerische, das Historische, das Aktuell-Politische.

Um so mehr verdient zu Zeiten, da technische Revolutionen, Industrie- und Erwerbsarbeit, mediale Öffentlichkeiten und propagierte Ideale wie "Fortschritt" und "Freiheit" keine Garanten mehr für menschenwürdige Existenz sind,12 Heines Werk Aufmerksamkeit. Erstens steht es für eine wichtige Entwicklung in den zwanziger bis vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Langzeitwirkung: Während dieser wurde aus der Perspektive der Erfahrung einer politisch restaurativen Periode versucht, besonders die deutsche spätaufklärerische literarisch-philosophische Tradition, darunter die Ideen von Lessing und Herder, Forster, Seume und Voß, sowie die emanzipatorischen Leistungen der klassischen deutschen Literatur und Philosophie, die mit den Namen Goethe und Hegel verbunden sind, weiterzuführen und in die Auseinandersetzungen um eine demokratische Profilierung von Gesellschaft und Kultur in Deutschland einzubringen. Das ist eine Entwicklung, in der auch versucht wurde, diese Theorien und das Potential zeitgenössischen, darunter französischen utopisch-sozialistischen Denkens auf die im europäischen Maßstab mit der englischen industriellen Revolution beginnende Produktivkraftentfaltung und die sozialen Ergebnisse der politischen Revolutionen in der ersten Jahrhunderthälfte anzuwenden. Dabei entstanden wichtige Ansätze zur Bewältigung der komplexen Dialektik von sozialen und politischen Bedingungen, technischem Fortschritt sowie kulturellen Ausdrucksbedürfnissen. Zweitens beweist Heines Werk, welch ästhetisches Potential gerade bei solchen Zeitzeugen der "Doppelrevolution" (Eric J. Hobsbawm),13 der industriellen und politischen Umwälzung, verborgen liegt: Als Mehrfachbegabungen der Literatur wie der Theorie, als grenzüberschreitende Phänomene mit häufig spontaner, unsystematischer Reflexion und metaphorisch strukturierter Begrifflichkeit gehen sie in keiner der bestehenden Fachdisziplinen auf; da sie nicht immer systematische Theoretiker waren, wurden sie von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung häufig übersehen und, da sie auch keine ›reinen‹ Schriftsteller waren, wurden sie mit ihren kultur- und kunsttheoretischen Dimensionen in Literaturgeschichten nicht selten an den Rand gedrängt. Jedoch ist die Konzeptbildung dieser Autoren im Zusammenhang des konkreten historisch-politischen und philosophischliterarischen Materials, im Prozeß ihres Entstehens besonders sinnfällig - und daher noch heute gut erkennbar.

Gerhard Wagner - Jg. 1948, Dipl.-Kulturwissenschaftler, Dr. phil. habil., Wissenschaftspublizist und -lektor in Berlin. Veröffentlichte zuletzt: Walter Benjamin - Moderne und Faschismus, Berlin 2004 ("Helle Panke" e. V.; Pankower Vorträge, H. 61); zuletzt in UTOPIE kreativ: Von der "Lustigen Witwe" zum "Dritten Mann". Geschichtliche Dimensionen eines Nachkriegs-Filmklassikers, Heft 175 (Mai 2005).

1 Die Zitatnachweise mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl beziehen sich auf die folgende Ausgabe: H. Heine: Werke und Briefe. Hrsg. von Hans Kaufmann, 3. Aufl., Berlin/Weimar 1980.

2 Siehe dazu Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert, München 1982; Alfred Ch. Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung. Die Eisenbahn in der deutschen und englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Bern 1992.

3 Siehe dazu Winfried Schröder: Die Entfaltung des industriellen Kapitalismus und der Epochenwechsel im ästhetischen Denken. Zu den Notizen von Karl Marx über "griechische Kunst und Epos", in: Marx- Engels-Jahrbuch (Berlin), Bd. 9 (1986), S. 163-221.

4 Hans Joachim Neyer: Un autre monde - Eine andere Welt. Grandville und die Mechanisierung des Schönen, in: Jean Ignace Isidore Grandville. Karikatur und Zeichnung. Ein Visionär der französischen Romantik, Ostfildern 2000 (Ausst.- Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe/Wilhelm-Busch-Museum Hannover), S. 55-60.

5 Vgl. Sabine Beneke, Hans Ottomeyer: Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Berlin 2002 (Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum Berlin), S. 216-225.

6 Siehe dazu Georg Knepler: Karl Kraus liest Offenbach. Erinnerungen, Kommentare, Dokumentationen, Berlin 1984, dass. Wien 1984; darin S. 18-84: Offenbach in seiner Zeit.

7 Siehe dazu Peter Herzog: Der Einzelne und die Masse. Erfinder und Nutznießer der Photographie, in: Andreas Volk (Hrsg.): Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, Zürich 1996, S. 45-65.

8 Vgl. Jules Champfleurys Verteidigung der Fotografie und des "Daguerreotypeur" in: Ders.: Le réalisme, Paris 1857, S. 91-98.

9 Siehe dazu Almut Todorow: Das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen 1996; darin S. 9-23: Das Feuilleton der deutschen Tageszeitung als Gegenstand der Forschung. Zu Heine siehe Günter Müchler: "Wie ein treuer Spiegel". Die Geschichte der CottaÂ’schen Allgemeinen Zeitung, Darmstadt 1998; darin S. 105-119: Korrespondent Heine.

10 Siehe dazu Harro Segeberg: Die literarisierte Reise im späten 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungstypologie; Wulf Wülfing: Reiseliteratur und Realitäten im Vormärz. Vorüberlegungen zu Schemata und Wirklichkeitsfindung im frühen 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Griep, Hans-Wolf Jäger (Hrsg.): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1983, S. 14-31, S. 371-294.

11 Siehe dazu Ronald Paulson: Literary Landscape. Turner and Constable, New Haven, London 1982; darin S. 47-60: Poetic Landscape.

12 Siehe dazu Evelyn Hanzig-Bätzing, Werner Bätzing: Entgrenzte Welten. Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung von Fortschritt und Freiheit, Zürich 2005, darin S. 38-55: Die begrenzte Dynamik der Industriegesellschaft.

13 Vgl. Eric J. Hobsbawm: Europäische Revolutionen, Zürich 1962.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 184 (Februar 2006), S. 137-148

 

aus dem Inhalt :

VorSatz; Essay MARCUS HAWEL: Negative Kritik und bestimmte Negation. Zur praktischen Seite der kritischen Theorie; Debatte Grundsicherung SASCHA LIEBERMANN: Freiheit ist eine Herausforderung, kein Schlaraffenland; Verfolgte Linke SIEGFRIED PROKOP: Ernst Bloch und Wolfgang Harich im Jahre 1956; WOLFGANG HARTMANN: Der "Fall Noel Field". Zum gleichnamigen Buch von Bernd-Rainer Barth; GERHARD WAGNER: Zwischen Mondschein und Gaslicht. Heine in der ästhetischen Kultur des Industriezeitalters; Lateinamerika heute RAINA ZIMMERING: Frauenmorde und keine Aufklärung - die Frauen von Juárez; ERNESTO KROCH: Ein großes Experiment. In Uruguay regiert die Linke; Europa heuteJANE ANGERJÄRV: Geschlechtsbezogene Diskriminierung von Frauen in Estland; SASCHA WAGENER: Die Marxsche Verfassungskritik; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Thomas Bach (Hrsg.): Schelling in Rußland. Die frühen naturphilosophischen Schriften von Daniil Michajlovic Vellanskij (1774-1847) (REINHARD MOCEK); Anne Applebaum: Der Gulag (BERT GROSSE); Robert Foltin: Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich (BERND HÜTTNER); Dieter Kelp, Jürgen Widera: Rheinhausen ist überall. Kirche als Anwalt der kleinen Leute (JURI HÄLKER); Klaus Müller: Mikroökonomie - kritisch und praxisnah, mit Aufgaben, Klausuren und Lösungen (ULRICH BUSCH); Jürgen Meier: "Eiszeit" in Deutschland (JÖRN SCHÜTRUMPF)