Die alltägliche Gewalt der Neonazis

in (10.04.2006)

Einen unbehaglichen Fernsehabend bereitete die ARD am 23. März den Zuschauern. Anhand konkreter Fälle berichtete das Erste Programm über rechtsextreme Gewalt in Sachsen-Anhalt. Mehr als durch bloß

Zahlen in Statistiken wurde endlich einmal einem Millionenpublikum klar gemacht, wohin es führt, wenn die Behörden, auf dem rechten Auge blind, die Neonazis gewähren lassen.

Geschildert wurde beispielsweise das Schicksal von Sebastian aus Halberstadt, an den sich nach einem Konzert vor dem alternativen Jugendzentrum eine Gruppe von Nazis heranschlich. Sie schlugen mit Flaschen auf ihn ein und traten ihm gegen den Kopf. Er erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma und einen Riß in der Schädeldecke. Fast hätte er ein Auge verloren.

Als einen der Tatverdächtigen erkannte eine Zeugin den stadtbekannten Neonazi Peter Karich. Er ist Sänger der Band Skinheads Sachsen-Anhalt, die Haß gegen alle grölt, die nicht ins rechte Weltbild passen ("Â… wir wollen Euch nicht, und Euch zu töten ist unsere Pflicht"). In Karichs Wohnung fand die Polizei Nazifahnen, Hitlerbüsten und einschlägige CDs. Aber das Verfahren wegen des Überfalls auf Sebastian wurde vorläufig eingestellt. Begründung: Andere Straftaten Karichs würden vorrangig verfolgt. Verurteilt ist er bis heute nicht. Seit einem Jahr kämpft Sebastians Vater ohne Erfolg gemeinsam mit seinem Sohn gegen die Einstellung des Verfahrens.

Der Magdeburger Justizminister Curt Becker (CDU) behauptete in der Sendung: "Was die Landesregierung anlangt, so sind wir auf diesem Auge sehr wachsam, auf dem rechten Auge. Wir greifen hier erbarmungslos zu, wir schlagen hier erbarmungslos zu und haben hier auch keinen Anlaß irgendwie zur Nachsicht." Die Opfer rechter Gewalt machen ganz andere Erfahrungen. Viele haben kein Vertrauen mehr in Polizei und Justiz.

Der Rechtsextremist Emanuel R. hat, wie sich aus dicken Akten ergibt, in acht Fällen Menschen mit Springerstiefeln zusammengetreten. Eines seiner Opfer, Dominik, erklärte: "Jeder weiß Bescheid, was hier los ist, aber keiner macht was. Also sehe ich das eigentlich nicht ein, daß ich ein Opfer der rechten Gewalt geworden bin, sondern eigentlich mehr ein Opfer des Rechtsstaates hier."
Hier hat ein junger Mann das richtige Gespür für das Versagen einer Politik entwickelt, die sich in immer neuen Maßnahmenkatalogen gegen den angeblichen islamistischen Terrorismus ergeht, aber die konkrete Bedrohung durch die Neonazis einfach nicht wahrhaben will. Vor deren Terror kapituliert sie. Neonazis bestimmen inzwischen, welche öffentlichen Veranstaltungen stattfinden dürfen und welche nicht. In Halberstadt wurde ein Konzert des Liedermachers Konstantin Wecker verboten, weil sich die Behörden nicht in der Lage sahen, die Besucher vor dem rechten Mob zu schützen. Und solche Verhaltensweisen beschränken sich nicht etwa auf die neuen Bundesländer. In der Gemeinde Auetal in Niedersachsen, 50 Kilometer westlich von Hannover gelegen, untersagte Bürgermeisterin Ursula Sapia ein "Rock-gegen Rechts"-Konzert im Dorfgemeinschaftshaus mit der Begründung, das Konzert berge "die Gefahr einer rechten Gegenreaktion". Ein Polizeieinsatz zum Schutze der Veranstaltung wäre nicht verhältnismäßig, meinte sie.

Wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage von Petra Pau, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag, am 16. März mitteilte, wurden im Januar bundesweit 807 rechtsextremistische Straftaten registriert, darunter 54 Gewalttaten. In absoluten Zahlen führt Nordrhein-Westfalen die Monatsstatistik an. Gemessen an der Einwohnerzahl haben Brandenburg und Sachsen die meisten rechtsextremistischen Straftaten gemeldet. Die Zahlen gelten als vorläufig; sie werden später regelmäßig nach oben korrigiert.

Die Bundesregierung zieht daraus aber genau die falschen Konsequenzen. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) will die Bundesprogramme für Toleranz und Demokratie auf Linksextremismus - wo gibt es den? - und Islamismus erweitern und damit die Mittel für den Kampf gegen Rechtsextremismus reduzieren. Das ist typisch für die Union. Im CSU-regierten Bayern beispielsweise wird nach wie vor die Linkspartei.PDS vom Verfassungsschutz beobachtet. Das Saarland unter Ministerpräsident Peter Müller (CDU) macht sich lächerlich, indem es den früheren saarländischen Regierungschef Oskar Lafontaine vom Inlandsgeheimdienst überwachen läßt. Organisationen wie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), die sich dem Kampf gegen Neofaschismus widmen, werden von den Regierungsparteien nicht unterstützt, sondern als "Verfassungsfeinde" und "Linksextremisten" diffamiert. Wer eine Gefährdung des Staates von links behauptet, redet wirres Zeug. Gleichzeitig wird bei der Bekämpfung des Neofaschismus gespart. Ein solches Handeln ist verantwortungslos.

Inzwischen rüsten die Nazis weiter auf. In München haben laut einer Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 25. März zwei Dutzend Vertreter verschiedener rechtsextremer Parteien ein Bündnis für eine gemeinsame Kandidatur bei der Stadtratswahl 2008 gegründet. Hauptinitiator ist der oberbayerische NPD-Bezirksvorsitzende Roland Wuttke, ein langjähriger Aktivist der rechten Szene. Vorbild für diese Sammelbewegung sind die "BürgerbewegungProKöln" und das "Nationale Bündnis Dresden", dessen Mitgründer Holger Apfel jetzt die NPD-Fraktion im Landtag von Sachsen anführt.

Das Vordringen der Rechten zeigt sich auch daran, daß die Zahl neofaschistischer Konzerte im vergangenen Jahr um 65 Prozent angestiegen ist. Gab es 2004 noch 155 solcher Konzerte, waren es 2005 bereits 255. Dies ergibt sich aus einer Übersicht des Antifaschistischen Presse-Archivs und Bildungszentrums Berlin (apabiz). Besonders alarmierend ist die Entwicklung in Sachsen, wo sich die Anzahl der Konzerte auf 78 verdreifacht hat. Es folgen Thüringen und Bayern (jeweils 31 Konzerte) und Baden-Württemberg (26).

In immer mehr Städten haben sich mittlerweile neofaschistische Strukturen etabliert, die ohne Unterstützung übergeordneter Instanzen ihre Konzerte selbst organisieren und über Veranstaltungsräume verfügen. So beginnt sich eine neofaschistische Alltagskultur zu entwickeln: Ein täglicher Treffpunkt, am Wochenende ein Konzert, regelmäßige Angriffe auf Andersdenkende. Schließlich ist nicht nur die Zahl der Konzerte gestiegen, sondern auch die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten (von 551 auf 614).

Wie fehlerhaft die Politik reagiert, bewies einmal mehr der am 22. März vorgestellte Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen. In diesem Bundesland registrierten die Behörden im Jahre 2005 im Vergleich zum Vorjahr um 16 Prozent mehr politische Straftaten. Innenminister Ingo Wolf (FDP) gab an, 2.500 der insgesamt 3.500 Delikte seien von Neofaschisten begangen worden. Seine Konsequenz: Der "Islamismus" müsse verstärkt bekämpft werden. Die Gefahr, die von ihm ausgehe, sei zwar "abstrakt, aber wir nehmen sie ernst".

Der Minister täte besser daran, gegen die nicht abstrakte, sondern sehr reale neofaschistische Gefahr vorzugehen. 2.500 neofaschistische Straftaten in NRW zeigen, daß der Neofaschismus kein Problem der Ostdeutschen ist. Auch in nordrhein-westfälischen Städten haben sich rechtsextremistische Kameradschaften breit gemacht und terrorisieren die Bevölkerung. Doch Innenminister Wolf macht aus den realen Opfern der rechten Schlägertruppen - vorzugsweise Migrantinnen und Migranten - potentielle Täter: Er fordert die islamischen Organisationen zu "vertrauensbildenden Maßnahmen" auf. Wenn jemand in der Pflicht steht, vertrauensbildende Maßnahmen zu ergreifen, dann sind es in Wahrheit jene Politiker, die den Neonazis ideologische Rückendeckung geben. Dazu gehören all jene CDU-Wahlkämpfer, die mit absurden Fragebogenaktionen und Leitkultur-Debatten den Rassismus schüren.