Um die Republikanische Verfassung

Heinrich Heine, deutscher Dichter, der vor nunmehr 150 Jahren starb, hatte ein sehr feines Gespür für den Zusammenhang zwischen Demokratie und Freiheit. Die französischen Revolutionen von 1789 und

...
1830 im Blick, wartete er auf eine deutsche. Im Vorwort zu seinem Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen schrieb er im Jahre 1844: "Pflanzt die schwarzrotgoldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben."

Die Paulskirchenversammlung während der Revolution von 1848/49 unternahm den Versuch, Deutschland auf republikanisch-demokratischer Grundlage zu einen, und scheiterte. Das schließliche historische Resultat war die Reichseinigung von 1871, die eigentlich ein "Kollateralschaden" - um es Neudeutsch auszudrücken - des Versuchs Bismarcks war, die Vorherrschaft Preußens in deutschen Landen auf Dauer zu sichern. Die Kapitalverwertung und der deutsche Export waren gesichert. Doch der "deutsche Gedanke" hatte die Verbindung zur Idee der demokratischen Freiheit verloren; er wurde zur Hülle, in der sich der Militarismus breitmachte und die Expansion zum eigentlichen Zweck erhob.

Haben wir es heute bei der europäischen Einigung mit einem ähnlichen Prozeß zu tun? Zuweilen scheint es so. In der Präambel des Gründungsvertrages zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - der Vorläuferin der Europäischen Union - von 1957 wurde noch betont, den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand "weniger begünstigter Gebiete" in der Gemeinschaft verringern zu wollen. Das war eine Aufforderung zur Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in allen Mitgliedsländern. In der Definition der Ziele der EU in dem von Franzosen und Niederländern 2005 abgelehnten Verfassungsvertrag dagegen ist zentral die Rede von einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft. Die Wettbewerbs-Marktwirtschaft ist das eigentliche Ziel, nicht die Angleichung der Lebensverhältnisse; "der Markt" soll richten, was er noch nie hat richten können.

Wenn in der EU-Gemeinschaftspolitik derzeit von "Sozialreformen" geredet wird, ist das Einreißen des Sozialstaates gemeint - gemäß den Vorgaben des Neoliberalismus, in deren Zentrum die Lüge von der Unvermeidbarkeit der "individuellen Eigenverantwortung" steht. Bei der Altersvorsorge sollen die öffentlichen Rentensysteme auf eine Basissicherung beschränkt werden. Es wird auf betriebliche Pensionsfonds und eine private Vorsorge orientiert.

Eine individuelle, auf die Entwicklung von Aktienfonds gegründete Alterssicherung zielt vor allem auf die Schaffung eines erweiterten europäischen Finanzmarktes und setzt die wirkliche Absicherung des Alters den Unwägbarkeiten der globalisierten Finanzmärkte aus. Im Gesundheitswesen wird der Schwerpunkt auf "medizinisch notwendige" Pflichtleistungen gesetzt, alles andere soll durch erhöhte Zahlungen der Patienten erreicht werden. In der Arbeitsmarktpolitik geht es darum, die staatlichen Unterstützungsleistungen zu verringern und die Bedingungen für deren Bezug zu verschärfen; "Hartz IV" bedeutet die Durchsetzung dieser Politik in Deutschland. Wenn von "Reform" der Sozialsysteme die Rede ist, geht es um einen europaweit organisierten Rückzug des Staates aus der öffentlichen Wohlfahrt.

In diesem Zusammenhang wird von den Herrschenden auf die Situation der zehn neuen EU-Länder verwiesen. Sie sind schwächer entwickelt, das Gefälle bei Wohlstand und wirtschaftlicher Entwicklung innerhalb der EU habe zugenommen. Daher müßten all die anvisierten Öffnungen vorgenommen werden. Diese laufen jedoch auf eine Absenkung des Niveaus bei Löhnen und Sozialstandards innerhalb der EU hinaus, wie sich an dem Eifer zur Durchsetzung der Dienstleistungsrichtlinie deutlich zeigt. Das jedoch hat wachsende soziale Probleme auch in den alten EU-Ländern zur Folge.

Notwendig dagegen ist das Ingangsetzen einer gegenläufigen Tendenz, das Anheben des Niveaus in den weniger entwickelten Ländern. Mit anderen Worten: Die westeuropäische Bourgeoisie hat Osteuropa nach dem Scheitern des Realsozialismus wieder zur Peripherie des Westens gemacht und spielt sie jetzt gegen die Arbeitenden und "abhängig Beschäftigten" im Westen aus.

Eine Europäische Sozialunion muß deshalb ein zentrales Ziel linker Europapolitik sein. Es geht um eine verbindliche Festlegung von Sozial-, Steuer- und Umweltstandards auf EU-Ebene und um deren Verteidigung im globalen Wettbewerb, etwa im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Auch bei Löhnen beziehungsweise Arbeitseinkommen müssen Wege geebnet werden, langfristig eine Angleichung nach oben zu erreichen. Eine koordinierte Steuer- und Finanzpolitik auf EU-Ebene, die die Steuerschlupflöcher innerhalb der Union verbindlich schließt, könnte ihrerseits die Mittel bereitstellen, die für eine solide und gerechte Finanzierung der wohlfahrtsstaatlichen beziehungsweise sozialpolitischen Aufgaben in den Mitgliedsstaaten erforderlich sind. Damit könnte auch eine abgestimmte Haushaltspolitik erreicht werden, die öffentliche Investitionen in soziale Infrastrukturen und ökologischen Wandel ermöglicht. Dies bedeutet, den Sozialstaat in Europa neu zu erkämpfen.

Das Bürgertum hat auf EU-Ebene die Handels-, Export- und Finanzpolitik vereinheitlicht, während die Steuer- und Sozialpolitik wettbewerbsmäßig zwischen den Ländern organisiert sind. Ziel der Linken muß es sein, die Sozialpolitik zu vereinheitlichen. Es müssen der Arbeitsmarkt und das Arbeitsrecht harmonisiert werden; auf der Tagesordnung stehen ein europäischer Mindestlohn, eine Höchstarbeitszeit, eine europaweite Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und eine europäische Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben. Die sozialen Rechte müssen für alle gelten, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Dazu ist eine "Residenz-Bürgerschaft" anstelle einer "Staats-Bürgerschaft" auf die Tagesordnung zu setzen. Soziale Rechte müssen individuell einklagbar sein, wie bisher nur die politischen Rechte.

Genau besehen hat die Bourgeoisie kein "europäisches Projekt": Europa wird als neoliberales Konstrukt betrieben. Markt und Profit soll der Weg geebnet werden. Die Kompromisse mit der Arbeiterschaft und den sozial benachteiligten Schichten werden aufgekündigt. Dafür benötigt man Demokratieabbau, im Innern Polizeikontrolle, militärische Macht nach außen. Nach dem Scheitern der Europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden wird gerade die Militärmacht-Integration weiter betrieben. Auch hier füllt das Militärische, analog zu Deutschland nach 1871, die Fehlstelle, die durch die Abwesenheit einer republikanisch-demokratischen Idee entstanden ist. "Europa" kann nur von links neu begründet werden, oder es wandelt auf den Irrwegen Preußen-Deutschlands. Die Debatten auf dem Europäischen Sozialforum in Athen haben gezeigt, daß die Linke Europas entschlossen ist, dies zu tun.

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 29. Mai 2006, Heft 11

aus dem Inhalt:/b>
Erhard Crome: Um die Republikanische Verfassung; Jörn Schütrumpf: Lenin im Kaspertheater; Jochen Reinert: Die Schüsse von Ådalen; Kurt Merkel: Anders leben; Axel Fair-Schulz, Fort Erie/Kanada: John Kenneth Galbraith; Krzysztof Pilawski, Warschau: Seinesgleichen; Wolfram Adolphi: Der Kaiser und der Kommunist; Jürgen Meier: Uniformbildung; Klaus Hansen: Fußballdemokratie; Martin Nicklaus: Azzurro; Renate Hoffmann: Im Mai; Thomas Behlert: Jazz in der DDR; Kai Agthe: Liebe und Leid in Paris