1956 oder: Die Reformfähigkeit des Stalinismus

Beitrag für die VI. Rosa- Luxemburg-Konferenz in Leipzig, 24./25. März 2006. - Das Ritual, bei Marx-Konferenzen mit einem Marx-Zitat und bei Lenin-Konferenzen mit einem Lenin-Zitat zu beginnen, ..

... sich aber ansonsten um die Jubilare und vor allem um das, was sie wirklich wollten, wenig zu scheren, wurde im besonderen im real existierenden Sozialismus gepflegt, ist aber auch heute noch nicht ganz aus der Mode. Es handelt sich dabei um eine Art simulierte Pietät.

Wenn ich auf einer Rosa-Luxemburg-Konferenz mit Rosa Luxemburg beginne, mag es so aussehen, daß ich ebenso verfahre; doch dem ist nicht so.

Erstens interessiert mich das, was Rosa Luxemburg wollte, von Tag zu Tag mehr, denn der Rückweg in eine autoritäre Linke, dieses Mal als ein unangenehm duftender Mix aus den verschiedenen sich links gerierenden Strömungen des 20. Jahrhunderts - unser Freund und Kollege Bernd Rump aus Dresden wußte darüber jüngst im "Neuen Deutschland" so klug zu schreiben 1 - holt Rosa Luxemburg und vor allem ihre Kritik an der Unfreiheit, jeweils nur sich selbst die Freiheit zu gewähren, ganz zwangsläufig zurück auf den Plan. Das niederträchtige Denunziantenwort vom Luxemburgismus, ohnehin noch nicht ganz verhallt, wird, wenn es so weitergeht, bald wieder Urständ feiern.

Zweitens aber war Rosa Luxemburg - und damit suche ich mein Vorgehen zu legitimieren, hier die große Ermordete zum Auftakt zu zitieren - die erste unter den Sozialisten, die auf die Gefahren einer Revolution hinwies, der die soziale Bodenhaftung abhanden kommt: "Nicht Rußlands Unreife, sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erfüllung der historischen Aufgaben hat der Verlauf Â… der russischen Revolution erwiesen Â… Die Revolution Rußlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen [Ereignissen] abhängig", meinte sie 1918 in ihrem nachgelassenen Manuskript "Zur russischen Revolution", auf das sich so viele berufen, oft ohne es auch nur ein einziges Mal vollständig gelesen zu haben.

Die in Breslau einsitzende Gefangene der deutschen Kriegsdiktatur verstand die 1917 ausgebrochene Revolution als Eröffnungsrevolution für einen sozialistischen Revolutionszyklus, als den Beginn einer Weltrevolution zur weltweiten Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, als den Beginn einer Weltrevolution, mit der der Übergang zu einer Produktionsweise eingeleitet werden sollte, die an den Bedürfnissen der Produzenten ausgerichtet ist. Ein mit sich alleingelassenes revolutionäres Rußland hingegen ließ in Rosa Luxemburg die allerdunkelsten Ahnungen aufkommen: "Â… im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker Â… Ja noch weiter: Solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschießungen usw. Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag."2

Rosa Luxemburg ist postum für diese Kritik scharf attackiert worden - zuvorderst natürlich von denen, die die Zustände verwildern ließen, um sich die Macht zu erhalten. Begonnen hatte es spätestens 1921: mit dem Kronstädter Aufstand. Damals hatte sich die selbsternannte "Vorhut des Proletariats", die Bolschewiki, von der "revolutionärsten Abteilung" der russischen Arbeiter, dem Kronstädter Proletariat - das die "Vorhut" bis dahin stets als die "treuesten Söhne der Revolution" gepriesen hatte -, getrennt und sie abgeschlachtet. Es war eine bonapartistische Phase gefolgt - offiziell ward sie "Neue Ökonomische Politik" geheißen -, in der den Feinden von gestern Zugeständnisse gemacht wurden: der ländlichen und der städtischen Bourgeoisie.

So hoffte man, die entgegen eigenem Wollen und Tun als Eröffnungsrevolution verlorengegangene Revolution doch nicht verloren geben zu müssen und ausharren zu können: mit einem Tanz über den Klassen der sich formierenden modernen russischen Gesellschaft - der Arbeiterschaft hier, und den Abermillionen neuen Landbesitzern und schnell als NÖP-Gewinnlern denunzierten Neu-BourgeoisÂ’ da. Bis sich Europa doch noch zur Tat bequemen würde.

Die sich so von ihrer sozialen Basis entwurzelnde Sowjetmacht lavierte eine Zeitlang erfolgreich zwischen und über den Klassen. 1927 hatte sich allerdings der Spielraum der Bonapartisten wider Willen erschöpft: Die sozialökonomischen Verhältnisse und mit ihnen die bürgerlichen Klassenkräfte hatten sich so stürmisch entfaltet, daß Rußland alle Voraussetzungen aufwies, um zu einem kapitalistischen "Schwellenland" überzugehen.

Bis zu diesem Punkt war in der einsam gebliebenen Revolution alles "normal" verlaufen und zumindest den marxistisch gebildeten Zeitgenossen verständlich gewesen: Im Februar 1917 war die Revolution ausgebrochen; in geradezu klassischer Fraktionsabfolge war die Hegemonie immer weiter nach links gereicht worden, bis 1918 auch die linken Sozialrevolutionäre ausgeschaltet worden waren und die Bolschewiki allein dastanden - als Hegemon in einem Bürgerkrieg, in dem aber nicht ein sich aufreibendes Proletariat eine zerstörte Industrie verteidigte, sondern - wie 1792 ff. - eine zu Eigentum gekommene Bauernschaft sich gegen die blutig marodierenden Herren von gestern und gegen deren weißgardistische Henker wehrte.

Mit Kronstadt hatten die Bolschewiki ihren eigenen Achtzehnten Brumaire durchgeführt und waren sich selbst in der Hegemonie gefolgt. Aus Angst vor dem Bonaparte, den alle in Trotzki erkannt zu haben glaubten, stellten sie sich auch in der absteigenden Phase der Revolution an die Spitze - mit der "Neuen Ökonomischen Politik" - und wurden so selbst zu Bonapartisten. Denn MarxÂ’ Prophezeiung aus dem "Achtzehnten Brumaire" war ihnen wohl vertraut: "Proletarische Revolutionen Â… unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!"3

Und genauso war ihnen ihre eigene Schwäche und damit die Unmöglichkeit, die Revolution weiter in Richtung Sozialismus zu treiben, bewußt - verursacht durch die weitgehende Vernichtung ihrer ursprünglichen sozialen Basis im Bürgerkrieg, für die sie einmal angetreten waren. Ihnen war klar, daß ein offener Kampf der Kräfte - "unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche" - sofort zu ihrem eigenen Untergang führen mußte. Paul Levi hat als erster darauf hingewiesen, daß die Bolschewiki ihre Herrschaft erhielten, indem sie deren sozialen Charakter veränderten.4 Das gelang den Bolschewiki, weil sie die Fraktionsabfolge unterbrachen - um den Preis, daß sie die Aufgaben ihrer verhinderten Nachfolger lösten.

Dieses Dilemma war zumindest den führenden Bolschewiki wohl bewußt. Denn im Unterschied zu ihren Nachfolgern, die auf den zerfolterten Gebeinen der Revolutionsführer von 1917 - also auf ihren Gebeinen - ihre Macht etablieren sollten, propagierten sie Sozialismus nicht nur als Kultur- und Bildungsbewegung, sondern waren auch selbst hochgebildet und wußten, was mit ihnen und mit ihrer Revolution geschah. Sie sahen es, und konnten es doch nicht ändern. Die Alternative lautete nicht: Sozialismus oder Kapitalismus? Die Alternative lautete: Entfesselung eines Kapitalismus oder Entfesselung des Staates; unter den Bedingungen Rußlands hieß das gleichwohl, wie sich bald herausstellte: Kapitalismus oder Barbarei? Das war ihr Dilemma.

Die KP Chinas versucht seit den achtziger Jahren, den Rodeohengst Kapitalismus zu reiten, ohne abgeworfen zu werden; um das zu verhindern, hat sie bisher vor keiner "Anpassung" zurückgescheut. Dieser Weg war den russischen Revolutionären der zwanziger Jahre - auch wenn Bucharins Überlegungen in diese Richtung wiesen - verbaut. Ihre Revolution hatte das Maximum dessen, was leistbar war, geleistet. Sie hatte gründlich mit dem alten halbbarbarischen Rußland aufgeräumt - mit Methoden, die die Härte der Auseinandersetzung diktiert hatte, mit Methoden, gegen die die Jakobinerdiktatur ein Volksfest gewesen war. Aber: Ausgerechnet ihre Revolution hatte einen Kapitalismus entfesselt, den sie eigentlich im Zuge einer Weltrevolution hatten abschaffen wollen.

Als sich 1927/28 der Generalsekretär der KPdSU zum - scheinbar - unumschränkten Diktator durchsetzte, schien es allerdings, als seien die Gesetze der Revolutionsgeschichte außer Kraft gesetzt: Der Revolution von 1917 folgte eine selbst erklärte "zweite Revolution ", die Revolution der Stalinschen Garde.

Die Wirklichkeit war profaner, wurde aber selbst von vielen Anhängern der Revolution von 1917 aus zweifellos ehrenwerten Motiven verdrängt:
Statt der kapitalistischen Produktionsweise und einer vielleicht bürgerlichen Gesellschaft mit einem entsprechenden Rechtsstaat Â… Gerhard Zwerenz hat jüngst völlig zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Diktatur, wie sie China und Rußland heute erleben, möglicherweise die viel adäquatere Form und - aus dem Gesichtswinkel der Profitheckerei - viel "effizientere" Form dieser kapitalistischen Produktionsweise ist.
Statt also der kapitalistischen Produktionsweise wurde 1927/28 der Staat entfesselt. Unter der Losung "Sozialismus in einem Land" wurde ein linksradikales Regime etabliert, das mit Terror eine egalitäre und zu jeder Form von Widerstand unfähige Gesellschaft systematisch herbeimorden ließ: erst die Versklavung und notfalls Ermordung der NÖP-Gewinnler und der freien Bauernschaft (in der Ukraine waren es gleich Millionen, die man aushungerte), dann die endgültige Unterwerfung der sogenannten herrschenden Klasse, also der - zumeist ohnehin unter schwierigsten Bedingungen lebenden - Arbeiterschaft; man lese Max HoelzÂ’ Tagebücher aus seiner Reise ohne Wiederkehr in die russische Arbeiterschaft zu Anfang der dreißiger Jahre, ein in jeder Hinsicht erschütterndes Dokument, das wir jetzt endlich - im vergangenen Jahr - im Karl Dietz Verlag herausgegeben haben.5 Dann kam die Garde der Revolution an die Reihe und schließlich jeder, der Individualität nicht zu verbergen vermochte, inklusive die Frau Molotows, die Frau eines der schlimmsten Massenmörder.

Alle sozialen Beziehungen, soweit sie sich auf Vertrauen gründen, wurden absichtsvoll zerstört. Es entstand eine Gesellschaft der Gleichheit, allerdings einer Gleichheit in Unfreiheit, einer Gleichheit in der Angst, einer Gleichheit in der Bindungslosigkeit - letztlich eine Nichtgesellschaft, der alle Insignien einer Zivilgesellschaft fehlten, allen voran die - der Patronin der heutigen Konferenz, Rosa Luxemburg, so wichtigen - politischen Freiheiten, beschützt durch einen Rechtsstaat. Hier herrschte der Maßnahmestaat - in seiner totalen Entfesselung. Die Nachwachsenden, vom bisherigen Leben "unbeschmutzt", sollten die "neuen Menschen" stellen. Um die "Alten" war es nicht schade.

Die Funktionsweise der modernen Gesellschaft, ihre Gesetze, versuchte die Stalinsche Führung zu überlisten - indem sie sie außer Kraft zu setzen schien und ein neues Gesetz setzte. Die Revolution hatte ihr Flußbett verlassen, das Wasser sollte künftig bergauf fließen. Es war letztlich der Versuch, Gott zu spielen.

Der "Sozialismus in einem Land" funktionierte nur als "Sozialismus der Galgen", um ein Wort von Albert Camus aufzunehmen. Die Abschaffung aller Klassenmerkmale durch die Beseitigung ihrer Träger - sei es per Lager, sei es per Exekution - wurde zur Grundbedingung von Herrschaft. Es fand nicht die Emanzipation vom Klassendasein und von Klassenherrschaft statt - wie sie einem Karl Marx, einer Rosa Luxemburg und auch einem Lenin vorgeschwebt hatte -, hier wurde Gesellschaft ersetzt durch ein Oben und Unten, vielleicht besser sogar, durch ein Drinnen und Draußen, zwischen dem der einzelne willkürlich hin- und hergeworfen werden konnte: heute Wärter, morgen Sklave; heute Sklave, morgen General; gestern Chef der Politischen Polizei, morgen Folteropfer. Die Rollen war austauschbar und wurden getauscht.

Klassenlosigkeit nicht als Resultat großer Klassenauseinandersetzungen, sondern als Resultat des Wirkens eines allgegenwärtigen Polizeistaates, der - als "Hauptinstrument der herrschenden Klasse" (gemeint ist nicht die stets vorgeschobene "Arbeiterklasse", gemeint ist die "neue Klasse", die als erster Djilas beschrieb 6) ... Klassenlosigkeit als Resultat des Wirkens eines allgegenwartigen Staates, der als Hauptinstrument der herrschenden Klasse den Sozialismus "schuf". Dieser Sozialismus mußte "geschaffen" werden, weil er sich unter den obwaltenden Bedingungen nicht entwickeln konnte. Entwickeln konnte sich nur der Kapitalismus; aber eben das war zu verhindern - durch die Schaffung einer Staatswirtschaft und die Verhinderung jeder Zivilgesellschaft mit wenigstens den Rechten, die einst die Revolutionen des 18. Jahrhunderts erstritten hatten. Der Staat schuf sich eine Basis; nicht die Basis einen Staat. Der Staat als Gott.

Wie konnte sich ein solches System reformieren, wie im Titel dieses Beitrages behauptet wird - und vor allem - wieweit konnte es sich reformieren?

Viele meiner Freunde und auch ich selbst lebten in den achtziger Jahren eine Zeitlang in dem Glauben, das der real existierende Sozialismus doch noch an Zukunft gewinnen konne, das neben die soziale Freiheit, die es in der DDR wirklich gab, die politische Freiheit treten und sich beide miteinander produktiv und menschenfreundlich verbinden könnten. Kein Sozialismus mit menschlichem Antlitz war unser Ziel, sondern ein Sozialismus mit menschlichem Wesen; das menschliche Antlitz hätte sich von allein ergeben.

Was wir nicht begriffen, ja, um überhaupt handeln zu konnen, nicht begreifen wollten und konnten, war, das die Reformpotentiale längst aufgebraucht worden waren. Chruschtschow, Gomulka, Kadar, Ulbricht - auch der sich ständig selbst nachfolgende Ulbricht, während in allen anderen Staaten für die jeweils neuen Rollen jeweils neues Personal bemüht werden mußte - haben, als der "Bruder Nummer eins" den Weg alles Irdischen endlich gegangen war, nicht gezögert, den "Sozialismus der Galgen" zu reformieren. Das ist der große Unterschied zum Nationalsozialismus, der unter dem Aspekt des Terrors am ehesten mit dem Stalinismus zu vergleichen (nicht gleichzusetzen!) ist. Der Nationalsozialismus war aus der Konterrevolution des Faschismus erwachsen - so wie einst der Stalinismus aus dem Versuch geboren worden war, die durch die Revolution errungene Machtposition auf Dauer zu stellen. Versuchten Stalin und seine Umgebung - Rosa Luxemburg hatte von Clique geredet - mit Gewalt eine klassenlose Gesellschaft herbeizuzwingen, die als Karikatur der einst von der Linken erträumten klassenlosen Gesellschaft zu bezeichnen eine Verhöhnung der Opfer darstellen würde, versuchten die Nationalsozialisten, ein nach sogenannten Rassenmerkmalen organisiertes Europa herbeizumorden und herbeizuzüchten. Auschwitz und Lebensborn waren zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Der rassistische Nationalsozialismus, ein Kind der in die Krise geratenen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, konnte nicht reformiert werden - er mußte vernichtet werden, von außen vernichtet werden. Alle endogenen Kräfte waren erlahmt. Selbst in der Stunde der Niederlage blieb der Aufstand aus; das war einer der größten Siege des Nationalsozialismus.

So krude und widersprüchlich der Nationalsozialismus ansonsten auch sein mochte, in seiner Barbarei war er völlig konsistent - und das machte ihn unreformierbar. Während, anders als das nationalsozialistische Regime, schlichte faschistische Regime - in ihrer Wirklichkeit oft nicht weniger widerwärtig - sich durchweg, wie wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, als reformfähig erwiesen; man schaue nach Südeuropa, man schaue nach Lateinamerika. Die Protagonisten dieser Regime wollten allerdings auch keine Neuordnung nach sogenannten rassistischen Merkmalen, sie wollten nur die Revolution verhindern, mindestens die Linke unterjochen.

Der Stalinismus war das Kind einer alleingebliebenen Eröffnungsrevolution für einen vermeintlichen sozialistischen Revolutionszyklus. Seine offiziellen ideologischen Grundlagen waren nicht rassistisch, auch wenn Stalin am Ende seines Lebens noch seinem Antisemitismus nachgegeben und eine antisemitische Welle losgetreten hatte.

Auch wenn jeder, der im Stalinismus die Freiheit des einzelnen als die Bedingung für die Freiheit aller (so Marx im Manifest) anmahnte, sofort als "Konterrevolutionär" "entlarvt" wurde, blieben die postulierten ideologischen Grundlagen weitgehend emanzipatorisch. Dieser Widerspruch erzeugte das Reformpotential, Sozialismus nicht weiter als "Sozialismus der Galgen" zu praktizieren, sondern zu einer autoritären Diktatur überzugehen, die zwar auch nicht auf Gewalt und Unterdrückung Andersdenkender verzichtete, wohl aber auf systematische Gewalt. Und, nicht minder wichtig, die die - bis dahin zumeist nur versprochenen - sozialen Freiheiten schrittweise von oben einführte und konstitutiv in das System einbaute, das später real existierender Sozialismus genannt worden ist. Dieser Sozialismus hinkte nicht mehr wie der Stalinismus auf einem Bein, auf dem der politischen Polizei, einher; er hinkte auf zwei, allerdings sehr ungleichen Beinen, dem des Sozialstaates und dem der politischen Polizei - was ihn noch eine Zeitlang vorm Umfallen bewahrte.

Die alleingebliebene Revolution von 1917, auch als sie sich nach 1945 zu einem "Weltsystem" erweiterte, konnte nur einen neuen, einen günstigeren Kampfboden schaffen für die Vernichtung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist - diese Verhältnisse selbst abschaffen konnte sie nicht. Das wird wohl auch nie die Funktion von Revolutionen sein. Revolutionen können neue Wege freisprengen. Ob und wie sie begangen werden, entscheidet sich in großen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Kräften der Gesellschaft.

Mit dem Stalinismus wurde versucht, diesen neuen Wegen auszuweichen - zu einem fürchterlich hohen Preis. Chruschtschows welthistorisches Verdienst ist es, die russische Revolution zurück in ihr Flußbett geleitet zu haben.

Natürlich war Chruschtschow ein integraler Bestandteil der Herrschaft einer Clique von Massenmördern gewesen. Doch er ging den Weg vom Saulus zum Paulus. In sich nicht radikal genug gebärdenden Kreisen gilt er als Verräter - was er ohne Zweifel war: ein Verräter am Totalitarismus. Wer das einen Makel nennt, braucht über sich selbst nichts weiter auszusagen.

Mit dem Übergang zu einer autoritären Diktatur begann ein halbwegs geordneter Rückzug - denn alle Gegner waren niedergeworfen worden, und trotzdem war nichts gewonnen, außer einer Weltmacht - die aber nicht das Ziel gewesen war.

Daß der Weg von einer autoritären Diktatur nicht zu einem Sozialismus mit menschlichem Wesen weiterging, hatte wenig mit dem autoritären, jähzornigen und zum Größenwahn neigenden Chruschtschow zu tun. Die Abschaffung aller politischer Freiheiten schon zu Beginn der russischen Revolution hatte Strukturen hervorgebracht, die nur funktionieren konnten, wenn die politischen Freiheiten abgeschafft blieben. Die politische Unfreiheit war dem real existierenden Sozialismus strukturell tief eingeschrieben. Jeder Versuch, sie zu beseitigen, mußte nicht nur die Strukturen, sondern das ganze System wegfegen. Mitunter wird in diesem Zusammenhang von "strukturellen Defiziten" gesprochen - ein Euphemismus, wie mir scheint. Diese Strukturen waren einfach nicht nur defizitär, sondern ein konstituierender Bestandteil, ohne den nichts ging.

Die langen Jahre zwischen 1953 und 1989/91 vollendeten die absteigende Phase der Revolution von 1917, in der sich die Erben der weitgehend ermordeten Bolschewiki auf ihre neue Rolle in einem entfesselten russischen Kapitalismus vorbereiteten. Und wieder folgten sie sich selbst nach. Gorbatschow - der viel politischen und unpolitischen Unsinn getrieben hat und deshalb Verantwortung für die Gestalt des russischen Kapitalismus von heute trägt - jedoch für den russischen Kapitalismus an sich verantwortlich zu machen, hieße, diesem Mann etwas anzudichten, was selbst weniger schlichte Geister unmöglich vermocht hätten.

Im Osten Deutschlands ist uns durch den Anschluß wenigstens die "Transformation" der Politbürokraten in alles beherrschende Manchesterkapitalisten erspart geblieben, auch wenn sich viele beeilten, dem neuen System in alle Öffnungen zu kriechen. Andere trauern angesichts des entfesselten Neoliberalismus mehr denn je dem Sozialstaat DDR hinterher, und mühen sich, den Preis, die Unterdrückung der politischen Freiheit, vergessen zu machen. Und dann sind da noch einige Unbelehrbare, die immer noch von einer Gesellschaft träumen, in der soziale und politische Freiheiten einander bedingen - doch diese Spezies, von Politikern gern als Ideologen denunziert, scheint auszusterben.

Fazit: Nikita Chruschtschow reformierte, was in seiner Macht stand. Das bleibt sein Verdienst, auch wenn er im persönlichen Umgang ein ganz ungehobelter Mensch gewesen sei soll - während Stalin ganz nett sein konnte.

Jörn Schütrumpf - Jg. 1956, Redakteur bei UTOPIE kreativ, zuletzt: Deutschland verändert sich zur Kenntlichkeit, Heft 185 (März 2006).

Beitrag für die VI. Rosa- Luxemburg-Konferenz in Leipzig, 24./25. März 2006. Vorabdruck aus: Das Krisenjahr 1956 (Diskurs 22), Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 2006.

1 Neues Deutschland, 25. Februar 2006.

2 Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: dies.: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 362.

3 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 8, Berlin, S. 118.

4 Paul Levi: Einleitung zu "Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß von Rosa Luxemburg" [1922], zuletzt veröffentlicht in: Annelies Laschitza (Hrsg.): Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, Berlin 1990, S. 177 ff.

5 Max Hoelz: "Ich grüße und küsse Dich - Rot Front!". Tagebücher und Briefe. Moskau 1929 bis 1933, herausgegeben von Ulla Plener (Rosa-Luxemburg- Stiftung, Texte 20), Berlin 2005, bes. S. 262 ff.

6 Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1957.

in: UTOPIE kreativ, H. 188 (Juni 2006), S. 485-491

aus dem Inhalt:

VorSatz; Essay JÖRN SCHÜTRUMPF: 1956 oder: Die Reformfähigkeit des Stalinismus; Krieg & Frieden WOLFGANG SCHELER: Kriegsfähigkeit und Friedensfähigkeit der Weltgesellschaft nach der Zeitenwende, Gesellschaft - Analyse & Alternativen JÜRGEN LEIBIGER: Demografische Wende und Finanzierung des Wohlfahrtsstaats; ILJA SEIFERT: Behindertenpolitik: Großes Ziel und kleine Schritte, Debatte Grundsicherung NINO DAVID JORDAN: Schlaraffenland oder Hungersnot? Wider die gefällige Kontrastierung; KARL REITTER: Grundeinkommen statt Schlaraffenland. Eine Antwort auf Ulrich Busch, Standorte BERND HÜTTNER: Anerkennung, Umverteilung, Gerechtigkeit. Probleme einer postfordistischen Linken; Wieder gelesen WILLI BEITZ: Michail Scholochow - eine terra incognita?; Konferenzen & Veranstaltungen LUTZ BRANGSCH: Armut und die Diskussionen zu einem Sozialstaat in Russland; Juri Hälker: MdBs auf die Straße. Bericht über "100 Tage Schwarz-Rot"; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Elmar Altvater: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik (ARNDT HOPFMANN); Holger Schatz: Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion (SANDRA MARTENS); Marvin Chlada: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault (ANDREAS HEYER); Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus (HEIKO FELDMANN); Wolfgang Fritz Haug: Vorlesungen zur Einführung ins "Kapital" (ULRICH BUSCH); Sike Satjukow, Rainer Gries (Hrsg): Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus (HELMUT METZLER); Summaries