Fahnenschwenken

Schwarzrotgoldene T-Shirts, schwarzrotgoldene Socken, schwarzrotgoldene Sporthosen, schwarzrotgoldene Armbänder, schwarzrotgoldene Streifen auf der Wange - von den schwarzrotgoldenen Fahnen an ...

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den Autos ganz zu schweigen. Die Fußballerei hat es möglich gemacht. Aus den chinesischen Werkhallen kamen beliebige Mengen Nachschub. Es mußte nur bestellt werden. Die Boulevardpresse lobpreiste die "gute Stimmung". Feuilleton und Sozialwissenschaft wetteifern nun um die Interpretation des Geschehens. Hinter dieser Nebel-, nein: Fahnenwand beschloß die Regierungskoalition von den Einwohnern fast unbemerkt die nächsten Schritte der sozialen Demontage, nicht ohne die Fußballer und Klinsmann als Helden der Nation zu befeiern. Auch von "links" klang es wie "Normalisierung", allerdings ohne nähere Erläuterung.

Der Alt-68er murmelt derweil etwas von "Nationalismus", will sich mit Grausen wenden - doch es entfährt ihm noch ein "Faschismus"-Verdikt. Diese Inflationierung der Vokabel schadet eher, als daß sie nützt. Schon historisch ist es Unsinn: Die Kriege des 20. Jahrhunderts führten die Deutschen unter Schwarzweißrot, zwar im Ersten und im Zweiten Weltkrieg mit unterschiedlichen Symbolen, doch in denselben Farben. Der erste Krieg unter Schwarzrotgold war der von 1999 gegen Jugoslawien, über den heute keiner mehr richtig sprechen mag. Dafür war die sozialdemokratisch-grüne Regierung verantwortlich, nicht die Fahne.

Schwarzrotgold sind in Deutschland eigentlich die Farben der Demokratie, 1849 niederkartätscht, nach 1919 als "Scharzrotmostrich" verhöhnt, 1949 in beiden deutschen Staaten zum Wiederbeginn hervorgeholt. Die Vorstellung, alle, die in diesen Wochen mit Schwarzrotgold herumliefen, seien eigentlich dem Nazismus verfallen, ist völlig absurd. Vielleicht sind die Dinge auch einfacher: Die Fußballanhänger, die sonst mit den Fahnen, Schals und Hemden von Bayern München, Hertha BSC oder Energie Cottbus herumlaufen, tun dies jetzt mit Schwarzrotgold, weil die Nationalmannschaft der universalisierte Gesamtverein ist. Das wäre die schlichte, sportive Antwort. Daß sich womöglich auch die wirklichen Rechten und Nationalisten hinter Schwarzrotgold im Fußballstadion versteckt haben, tut dem keinen Abbruch - es bleiben die Farben der Demokratie.

Aber vielleicht reicht der schlichte soziologische Blick auf das Fußballstadion doch nicht aus, um das eifrige Fahnenschwenken zu verstehen. In den politischen Auseinandersetzungen in Deutschland handelt es sich schlicht und ergreifend um Klassenkampf, in einem ganz ursprünglichen Sinne. Der Witz ist nur, derzeit haben wir es mit Klassenkämpfern zu tun, die nicht wissen, daß sie genau dies sind.

Schauen wir zunächst auf das Bürgertum. Deutschland war am Beginn der Neuzeit eines der reichsten Länder Europas, seine Hansestädte und Handelshäuser hätten Ausgangspunkte kapitalistischer Entwicklung werden können. Statt dessen finanzierte das Handelshaus der Fugger die Hofintrigen und Kriege Karls V. und anderer Habsburger-Herrscher, um seine Vorschüsse dann mit Zinseszins zurückerstattet zu bekommen, während das Handelshaus der Welser vom Sklavenhandel des 16. Jahrhunderts zwischen Afrika und Südamerika profitierte.

Bürgerliche Staatlichkeit und kapitalistisches Wirtschaften entwickelten sich in Flandern, in Holland und in England. Die französische Revolution von 1789 begründete in Europa die bürgerliche Republik als das politische Gemeinwesen, in dem die Bürger über ihre Angelegenheiten selbst bestimmen. Die Deutschen versuchten dies mit der Revolution von 1848/49 ebenfalls, scheiterten damit jedoch nachhaltig. Der Bürger in Deutschland war deshalb stets nur Bourgeois, das heißt kapitalistischer Geschäftemacher, nicht Citoyen, also selbstbewußter Bürger der politischen Republik. Die Folge war ein bleibendes Schattendasein des deutschen Bürgertums. Nach der Reichsgründung von 1871 fand es sich damit ab, daß der preußische Adel unter Bismarck, später auch ohne ihn, das Reich regierte. Man verdiente gut mit Industrialisierung und Entwicklung des Welthandels, aber stellte die politische Frage nicht.

Nach der Novemberrevolution 1918/19 beteiligte das Bürgertum sich zwar an der sozialdemokratischen Konstituierung der Republik, um bolschewistische Umtriebe zu verhindern, ging dann aber schrittweise das Bündnis mit Hitler ein, um den Revanchekrieg zur Weltherrschaft zu führen. Die Kriegswirtschaft, die Ausbeutung Osteuropas und der anderen besetzten Länder, selbst die Verbrennungsöfen und das Gas zum Einsatz in Auschwitz hatten ihre Profiteure in deutschen Firmen. Als dann die Niederlage absehbar wurde, begannen die Führungspersonen der SS und der deutschen Wirtschaft, an Nachkriegskonzepten zu arbeiten. Wichtigste Figur dabei war Ludwig Erhard, später der Wirtschaftswunderminister der alten Bundesrepublik. Sein Konzept, bereits von 1944, zielte darauf, sozialen Unruhen nach der Niederlage vorzubeugen und das angehäufte Kapital von Industrie und Finanzmagnaten vor den Begehrlichkeiten der verarmten, ausgebombten Volksmassen zu schützen. Die Arbeiterschaft sollte nach dem Kriege durch materielle Anreize dazu gebracht werden, die Fortexistenz der alten Besitzverhältnisse zu akzeptieren. So geschah es denn auch mit der "sozialen Marktwirtschaft" und unter dem Druck des Realsozialismus.

Nach dessen Scheitern hat das Bürgertum in Deutschland alles getan, die damaligen Zugeständnisse rückgängig zu machen. Deutschland ist das einzige Industrieland, in dem die Nettoeinkommen der Arbeitenden in den vergangenen zehn Jahren nicht gestiegen sind. Politisch hatte sich das deutsche Bürgertum nach 1945 den Vereinigten Staaten untergeordnet, heute versucht es, das Land selbständig zu regieren, tut dies aber immer nur als Bourgeois, nicht als Citoyen, das heißt, es will aus Deutschland und den Deutschen so viel wie möglich herausholen für die großen weltweiten Profitspiele, interessiert sich aber nicht für den Zustand des politischen und sozialen Gemeinwesens, das Bundesrepublik Deutschland heißt.

Und die Arbeiterschaft (um nicht "Klasse" zu sagen)? In der alten Sozialdemokratie hatte sie mit Marx und Engels gelernt, daß sie kein Vaterland hat, das sie nicht selbst durch die Revolution erobert hat. Im Ersten Weltkrieg mußte sie dann mit Zustimmung der Sozialdemokratie für das kaiserlich-bürgerliche "Vaterland" sterben. Am Ende des Krieges bekam sie dafür Mitbestimmungsrechte und den Achtstundentag. Nach dem Zweiten Weltkrieg akzeptierte sie die "soziale Marktwirtschaft", weil sie eine Besserung ihrer Lebensverhältnisse brachte. Immer war der nationale Kontext die Grundlage des Kompromisses, nun in Gestalt der Deutschland AG, was bedeutete, die Kapitalbesitzer schirmen die deutsche Wirtschaft nach außen ab, auch um im Innern Ruhe zu haben und um den Arbeitern ihren Anteil abzugeben. Und heute? Das deutsche Bürgertum agiert weltweit als Kapitalakteur und betrachtet Deutschland nur noch als Akkumulationsreserve. Im Grunde hat diese Klasse das Land und seine Menschen abgeschrieben. Das Fahnenschwenken ist der letzte Versuch der betrogenen Arbeiter und Unterschichten, eine Nation einzufordern, aus der das Bürgertum längst emigriert ist. Jenseits dessen gibt es nur noch den offenen sozialen Konflikt. Warten wir den Herbst ab, wenn der Kater der Fußballbesoffenheit vorbei ist.

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Aus dem Inhalt des Heftes:
Thomas Hofmann: Krippe und Stasi; Erhard Crome: Fahnenschwenken; Johann Peter: Heimspiel; Max Hagebök: Deutsche Nabelschau; Gertrud Eggert, Peking: Schwieriges Jubiläum; Wolfgang Haible, Peking: Die Prüfung; André Brie: Palästina, drei Tage ohne Hoffnung; Uri Avnery, Tel Aviv/Sarajewo: Die Steine schreien; Émile Sagan, Brüssel: Europas Wanderzirkus; Maurice Schuhmann: Max Stirner; Mathias Iven: Bücher ohne Ende; Harald Pätzold: Wie quert man heute einen Hauptbahnhof?; Renate Hoffmann: Verreisen; Ursula Malinka: Wenn einer eine Reise tut Â…; Liesel Markowski: Der goldene Hahn