Schnell die Verfassung geändert

in (07.07.2006)

Am 30. Juni 2006 hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD im Eilverfahren die Verfassung so umfassend verändert wie nie zuvor. Die Opposition lehnte die sogenannte

Föderalismusreform geschlossen ab. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit kam nur zustande, weil die Koalitionsführung massiven Druck auf die vielen potentiellen Abweichler in den Regierungsfraktionen ausübte. Erwartungsgemäß schmolz daraufhin der Widerstand aus den eigenen Reihen von Tag zu Tag ab, so daß am Ende nur noch fünfzehn SPD-Abgeordnete und ein einziger CDU-MdB zusammen mit Linksfraktion, FDP und Grünen gegen diese Grundgesetzänderung stimmten.

Der äußere Ablauf war unwürdig, die Rolle des Parlaments kläglich. Nach langen Vorberatungen in einer von Bund und Ländern beschickten Kommission stoppten der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering und CSU-Chef Edmund Stoiber das Reformvorhaben überraschend Ende 2004. Das Projekt sei beendet, teilten sie den erstaunten Abgeordneten mit. Der Bundestag ließ das mit sich geschehen.

Nach Bildung der großen Koalition nahmen CDU/CSU und SPD die Gespräche wieder auf, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, zumal auf einem Politikfeld, das die breite Öffentlichkeit nicht sonderlich interessiert. Das Kalkül: Anders als bei Aufregerthemen wie Mehrwertsteuererhöhung oder Hartz IV wollte man sich als entscheidungsfreudig darstellen, ohne große öffentliche Proteste befürchten zu müssen. Um nach der negativen Bilanz des ersten Regierungsjahres der großen Koalition wenigstens ein paar Pluspunkte einzufahren, mußte die Reform um jeden Preis noch vor der parlamentarischen Sommerpause durchgepeitscht werden.

Im Mai hielten die Regierungsfraktionen den normalen Parlamentsbetrieb an, um in einer mehrwöchigen Anhörung mit einhundert Sachverständigen den Gesetzentwurf auf den Prüfstand zu stellen. Zu einer gründlichen Auswertung der Prüfergebnisse war die Koalition aber nicht bereit. In gerade zwei Sitzungen des Rechtsausschusses zog sie das Projekt durch, ohne auch nur ansatzweise auf die massive Kritik vieler Sachverständiger einzugehen. Die Koalition brüstete sich in der Schlußdebatte damit, man habe die größte Expertenanhörung in der Geschichte des Bundestags durchgeführt. Gleichzeitig bewiesen CDU/CSU und SPD, indem sie die Kritik der Sachverständigen übergingen, daß die Anhörung nur eine Farce gewesen war.

Kompetenzfragen zwischen Bund und Ländern sind nichts anderes als Machtfragen. Zuständigkeiten für Gesetzgebungsmaterien wurden daher im Laufe der Vorverhandlungen beliebig zwischen Bund und Ländern hin und her geschoben. Den Parlamentariern wurde das Ergebnis von oben her vorgegeben, und sie ließen das so geschehen. Entscheidend war am Ende nur, daß sich die Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder (CDU/CSU) und Peter Struck (SPD) fähig erwiesen, für Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Franz Müntefering Mehrheiten im Bundestag zu organisieren - egal, was im einzelnen in einem Gesetzesbeschluß steht.

So wurde schon vom Verfahren her die Chance versäumt, das Thema Föderalismus angemessen im Parlament abzuhandeln. Dabei hätte gerade dieses Thema eine tieferschürfende Debatte verdient. Denn richtig verstanden ist Föderalismus ein Strukturprinzip der Demokratie; ein Stück Gewaltenteilung. Zudem besteht mittlerweile in den meisten Bundesländern die Chance, über Volksbegehren und Volksentscheide direkt auf die Politik Einfluß zu nehmen. Plebiszitäre Elemente auch auf Bundesebene einzuführen, weigert sich der Bundestag seit jeher. Tendenziell wäre also die Verlagerung von Entscheidungen auf untere Ebenen ein Zugewinn an Demokratie.

Mit solchen Zielsetzungen wäre eine Föderalismusreform zu diskutieren gewesen. Stattdessen war der typische Kuhhandel zu besichtigen: Die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze sollte ein wenig gesenkt werden, dafür sollten die Länder ein paar x-beliebige Gesetzgebungszuständigkeiten zusätzlich bekommen. Wie bei einer Algebragleichung wurde darauf geachtet, daß auf keiner Seite zuviel weggenommen oder zu wenig dazugefügt würde - eine eigentümliche quantitative statt qualitative Herangehensweise.

Aus dem Blickfeld geriet auch, daß manche Probleme zwingend einer bundeseinheitlichen Lösung bedürfen. Beispielsweise hätte der Strafvollzug in der Kompetenz des Bundes bleiben müssen. Es geht nicht an, daß die mühsam erkämpften (weitgehend freilich Theorie gebliebenen) Errungenschaften des Strafvollzugsgesetzes aus den Siebziger Jahren den Sparmaßnahmen der Länder zum Opfer fallen. Alle Experten, vom Anwaltsverein bis zur Richterschaft, sagen einen "Schäbigkeitswettbewerb" der Länder auf diesem Gebiet voraus. Finanznöte können gefährlicher ideologischer Borniertheit als Vorwand dienen. Mehrere Länder haben im Bundesrat bereits einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem die Resozialisierung als Ziel des Strafvollzugs aus dem Gesetz gestrichen werden soll. Wer schiebt den härtesten Knast?

Im Versammlungsrecht ist ein ähnlicher Wettlauf in die Vergangenheit zu erwarten. Die Achtundsechziger und die Anti-Atomkraft-Bewegung hatten sich die Demonstrationsfreiheit mühsam mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts (Brokdorf-Entscheidung!) erkämpft. Jetzt streben die Landesregierungen mit aller Kraft hinter die erreichten verfassungsrechtlichen Standards zurück. Militarisierung der Außenpolitik, Sozialabbau und Einschränkung von Bürgerrechten fordern Proteste und Demonstration heraus. Je stärker man das Versammlungsrecht beschneidet, desto leichter, störungsfreier wird man eine solche gegen die Interessen der Bevölkerung gerichtete Politik durchsetzen können. Schon erwägt man, für das Anmelden von Demonstrationen prohibitiv hohe Verwaltungsgebühren zu fordern. Eine noch wirksamere Waffe gegen Straßenproteste wäre es, wenn man die Kosten für Polizeieinsätze auf die Demonstrierenden überwälzen würde. Das käme einer Kommerzialisierung der Versammlungsfreiheit gleich.

Für pflegebedürftige Menschen wird es künftig keine verläßlichen Versorgungsstrukturen mehr geben. Das Heimrecht wurde gegen den Widerstand der Sozialverbände wurde das Heimrecht in die alleinige Kompetenz der Länder übertragen. Deren prekäre Kassenlage läßt erwarten, daß sie die Qualität der Pflege abbauen und sich dabei gegenseitig unterbieten würden. Einige Länder haben bereits angekündigt, daß sie die Verpflichtung der Heime zur Beschäftigung von Fachkräften lockern wollen, so daß künftig mehr unausgebildetes, billigeres Personal die Pflege übernehmen wird.

Der öffentliche Dienst zählt ebenfalls zu den Verlierern der Föderalismusreform. Für Angestellte und Arbeiter des Bundes bilden die Gewerkschaften immer noch einen Schutzschild und sorgen in Tarifverhandlungen für akzeptable Arbeitsbedingungen. Die Ergebnisse der Tarifverhandlungen wurden bisher meistens - wenn auch mit zeitlicher Verzögerung - auf die Beamten übertragen, auch auf diejenigen der Länder. Die Länder haben nun die Besoldungskompetenz an sich gezogen mit dem erklärten Ziel, die Besoldung massiv zu kürzen. Das Gros der Beamten gehört ohnehin nur zum mittleren bis gehobenen Dienst .
Schließlich haben die Innenminister die Gelegenheit benutzt, eine vom Bundestag in der Vergangenheit mehrheitlich abgewehrte Forderung durchzudrücken: Das Bundeskriminalamt bekommt neue Zuständigkeiten für die "Terrorismusbekämpfung". Damit kann jetzt ein deutsches FBI entstehen, vor dem die Bürgerrechtler aus guten Gründen immer gewarnt haben.

Schon diese wenigen Beispiele genügen für die Bewertung, daß sich das Wort "Reform" erneut als Synonym für Verschlechterungen erweist.