Neue Perspektiven auf die ostdeutsch-deutschen Entwicklungen.

Bücher von Jens Bisky, Raj Kollmorgen, Rolf Reißig/Michael Thomas

Nach den vielen, nicht selten ermüdenden Grabenkämpfen gleichkommenden Büchern, welche den deutschen Vereinigungsprozeß in traditioneller Weise aus altbundesdeutscher Sicht

oder alternativ aus einer Ex-DDR-Perspektive beleuchten, bescherte das jüngste Vereinigungsjubiläum den Lesern endlich mal etwas Neues:die Behandlung Ostdeutschlands als gesamtdeutsches Problem und aus einer auf die Zukunft gerichteten Perspektive. Mit Jens Bisky, Raj Kollmorgen, Rolf Reißig und Michael Thomas melden sich Autoren zu Wort, für die die Vereinigungskrise und die Misere Ostdeutschlands nicht nur ostdeutsche Themen sind, sondern solche von nationalem und europäischem Interesse. Den "Aufbau Ost" weiterhin als Nachbau West zu betreiben und die sich aus dem wirtschaftlichen Rückstand des Ostens ergebenden sozialen Probleme mit immer weiter ansteigenden Transferzahlungen zuzudecken, ist für sie kein gangbarer Weg mehr, um aus den Problemen herauszukommen. Als Lösung fordern sie einen veränderten Blick auf Ostdeutschland, einen neuen theoretischen Ansatz sowie eine neue wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Strategie.
Dreh- und Angelpunkt ihrer Überlegungen ist Ostdeutschland, wie es sich nach fünfzehn Jahren Vereinigungspolitik dem Betrachter darbietet, als ein ruinierter Landstrich mit Produktivitäts- und Modernisierungsdefiziten, Entwicklungsblockaden und kaum abschätzbaren Zukunftsrisiken, daneben aber auch Fortschrittsinseln, Entwicklungspotentialen und Zukunftschancen, zudem reich an Erfahrungen mit Brüchen und Umbrüchen. Dieses Bild so zu nehmen, wie es ist, und es weder als Erfolgsmodell noch als Katastrophenszenario zu interpretieren, sondern als realistische Lagebeschreibung und Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen, zeichnet die vorliegenden Publikationen aus. Und das unterscheidet sie von etlichen früheren Arbeiten, die vom falschen Stolz auf das Erreichte - unter Ausblendung des nicht Erreichten - oder nicht weniger falschem Verlustgefühl - unter Weglassung der Verbesserungen - beherrscht wurden.
Jens Bisky, Jahrgang 1966, hat ein streitbares, in seiner Unduldsamkeit gegen jede Form von "selbstberuhigender Einheitsidylle" gerichtetes Buch vorgelegt. Ostdeutschland und die Zukunft der Bundesrepublik werden darin gleich mehrfach problematisiert. Zum einen unter dem Aspekt der Stagnation: Nie wieder wird die westdeutsche Wirtschaft so stark wachsen, daß sie den Osten aus dem "Sumpf" ziehen könnte. Ganz im Gegenteil: Um selbst wachsen zu können, braucht der Westen den Osten als transferfinanzierten Absatzmarkt für seine Produkte und als Arbeitskräftereservoir! Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Zweitens unter dem Aspekt der Angleichung der Lebensbedingungen und der "inneren Einheit": Beides wird es auch in Zukunft nicht geben, so Bisky, und Deutschland wird damit leben müssen! Ein dritter Aspekt betrifft die kulturellen Differenzen. Auch hier gibt es "keine Aussicht", daß sie plötzlich verwinden werden - weder heute noch morgen (23).
Der Autor faßt diese Punkte als "neue deutsche Frage" zusammen. Von ihrer Bewältigung wird es maßgeblich abhängen, ob Deutschland sich im globalen Wettbewerb behauptet oder im "Abstiegskampf" erstarrt. Hieran hängt auch das Schicksal Ostdeutschlands. Die alte, zuletzt noch einmal von Uwe Müller1 groß in Szene gesetzte Sichtweise ("Was kostet uns der Osten?"), hinter welcher die Logik lauert "Was dem Osten nützt, schadet dem Westen", gilt nicht mehr: Der Osten wird zum Schicksal auch für den Westen. Durch diesen Perspektivenwechsel erhält die Einheit ein neues Gesicht: Sie wird interdependent.
Prinzipiell und absolut sind die Urteile Biskys über die vergangenen fünfzehn Jahre. Er sieht in der Einheit Deutschlands eine "Fata Morgana", eine "Luftspiegelung, über dem Abgrund, der das Land trennt" (13). Das Wort "Einheit" hat für ihn jeden Zauber verloren. Vielmehr bezeichne es "den ersten großen Mißerfolg der bundesdeutschen Geschichte" (18). Im "Aufbau Ost" erblickt er "das größte und teuerste Unternehmen der Bundesrepublik", welches allerdings "gescheitert" ist, ebenso wie die Annäherung beider Landesteile "mißlungen" (14). Die Folgen sind furchtbar, auch für den Westen. "Falls kein Neuanfang gewagt wird, droht [nach dem Osten - U.B.] auch der Westen zu verarmen, zu vergreisen und zu verblöden." (20) Der geforderte Neuanfang muß "ein gesamtdeutscher Neuanfang" sein (189). Richtig ist auch die Feststellung, daß der Ost-West-Gegensatz in Deutschland heute keine "zusätzliche Front" mehr bildet, sondern einen Gegensatz, der "alle anderen Gegensätze überlagert" (32). Dies wird weder von der Politik noch von den Medien so wahrgenommen. Warum eigentlich nicht?
Eingehend beschreibt der Autor, wie sich im Osten eine "stille Gesellschaft" etabliert hat, eine "Kultur der Abgrenzung". Statt als zusammenwachsende Gesellschaft präsentiert sich Deutschland heute als ein Staat mit zwei Parallelgesellschaften. Die Ursachen für dieses auch schon von anderen2 konstatierte Phänomen bleiben jedoch im dunkeln. Weder benennt er ökonomische Gründe noch mentale oder ideologische. Leider bleibt auch der Beitrag der westdeutschen Seite, insbesondere Ausgrenzung und Ignoranz, gänzlich unberücksichtigt. Ein ähnlich einseitiges Herangehen findet sich auch in anderen Teilen des Buches. Zum Beispiel, wenn Bisky der DDR ein Streben nach Autarkie vorwirft (63) - als hätte sich die DDR die Hallstein-Doktrin und das bis Juni 1990 geltende High-Tech-Embargo selbst ausgedacht3 - oder wenn er das Umstellungsverhältnis zwischen DDR-Mark und D-Mark 1990 undifferenziert als ökonomisch nicht zu rechtfertigenden "Umtauschkurs" bezeichnet und diesen auch noch falsch, mit 1:2 statt 2:1, angibt (77).
Andererseits gehört es zu den unbestreitbaren Vorzügen des Buches, daß der Autor nicht gern gehörte Wahrheiten unverblümt ausspricht und sich vehement gegen von den Medien gepflegte Legenden wendet. Zwei Beispiele: Im ersten Kapitel erinnert Bisky daran, daß sich im Dezember 1989 mit 41 Prozent nur eine Minderheit der Westdeutschen für die Herstellung der deutschen Einheit aussprach (47). Noch geringer war die Solidaritätsbereitschaft der "Brüder und Schwestern" im Westen, was selbst Kanzler Kohl einräumen mußte. Zweitens: Obwohl der Westen erheblich in das ostdeutsche Lebensniveau "investiert" hat, erscheinen die Ostdeutschen heute mehrheitlich nicht als Gewinner, sondern als Verlierer der Einheit, als deren "Opfer". Entscheidend dafür ist die "Eigentumsfrage" und der "kollektive Ausschluß der Ostdeutschen von der Verfügungs- und Entscheidungsgewalt in der Wirtschaft" (75). Diesen klaren und eindeutigen Aussagen stehen leider an anderer Stelle weniger klare Sätze gegenüber, etwa die "Erklärung" des wachsenden Abstandes zwischen den Einkommen in Ost- und Westdeutschland aus der Tatsache, daß Geld eben "seiner Natur nach knapp" sei (80).
Die Lösungsansätze, die Bisky für Ostdeutschland und Deutschland als Ganzes anbietet, faßt er in vier Punkten zusammen (200ff.). Erstens: Mehr tun für Bildung. Zweitens: Strikte Zweckbindung der Transfers des Solidarpakts II für Investitionen. Drittens: "Schrumpfungspolitik" statt Gerede über Wachstum. Und viertens: "Innerdeutsche Gelassenheit" bei der Bewältigung der gesamtdeutschen Aufgaben. Nach 200 Seiten Exposition scheint dies als Quintessenz etwas "mager". Aber vielleicht liefert die liberale Überschrift des letzten Kapitels ("Freiheit statt Wohlstand") dafür den Schlüssel?
In der Diktion durchaus ähnlich, im Stil aber wissenschaftlich-sachlich und weniger polemisch kommen die "Beobachtungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft" von Raj Kollmorgen daher. Auch er fragt nach dem Platz Ostdeutschlands in Deutschland und in Europa sowie nach den spezifischen Zukunftschancen der Region zwischen Ostsee und Erzgebirge. Bei dem vorliegenden Band handelt es sich nicht um eine Monografie, sondern um eine Textsammlung des Autors zu sechs verschiedenen Themengebieten. Das umfängliche erste Kapitel ist der Transformationsforschung gewidmet. Diese wird hier als "Vereinigungsforschung" begriffen, welche die Aufgabe hat, "die Anpassungs- und Angleichungstendenzen von Ostdeutschland an Westdeutschland" zu untersuchen. Er knüpft damit an die Arbeiten der neunziger Jahre an, als in einem beispiellosen, vor allem empirischen Untersuchungsprozeß wissenschaftliches Neuland erschlossen wurde. Die theoretischen Resultate dieser Forschung hingegen waren gering, weshalb es auf diesem Feld in letzter Zeit merklich ruhiger geworden ist. Ostdeutschland erscheint vor diesem Hintergrund als ein "analytischer Glücksfall", da die Transformation, der Vereinigungsprozeß und die Herausforderungen der sich selbst umgestaltenden und globalisierenden Moderne gegenwärtig die "Marksteine der Entwicklungskonflikte in der Bundesrepublik" bilden (51). Dies erklärt den Schluß, daß zwar die (klassische) Transformationsforschung an ihr Ende gekommen sei, nicht aber die Ostdeutschlandforschung - als Teil einer "Gesellschaftsforschung, die die gebrochene Langzeitigkeit, Komplexität und Ausdifferenzierung der Transformationen sowie die wechselseitige Kontextualisierung von Ost und West ins Zentrum stellt" (57f.). Im zweiten Kapitel wird diese Frage für Ostdeutschland ("Idealfall oder Unfall?") vertieft. Das Ergebnis lautet, daß Ostdeutschland zwar als Sonderfall, aber weder als "unvergleichbarer Unfall" noch als "Idealfall" der Transformation Anerkennung findet (84f.).
Mit dem dritten Kapitel unterbricht der Autor den Gedankengang und erfreut den Leser mit einer sehr eindrucksvollen Analyse zum "Umbau" und zur "Vereinigung der Sozialwissenschaften" in Ostdeutschland nach 1990. Bestimmt von außerordentlicher Sachkenntnis und sicherem Urteil, gelingt ihm ein aussagekräftiger Abriß des vielschichtigen und widersprüchlichen Prozesses der Abwicklung, Integration und Neuausrichtung der Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Maßgebend für diesen Prozeß, das wird ganz deutlich, war ein Elitenwechsel, das heißt, "die komplette Ablösung der alten sozialwissenschaftlichen Elite der DDR und ein paralleler Elitetransfer von West nach Ost" (121). Speziell für die Soziologie stellt er fest, daß die dabei eingesetzten "machtpolitischen und ideologischen Mechanismen" eine "hartnäckige Marginalisierung und Mißachtung der Ostdeutschen" in der öffentlich geförderten Soziologie der Bundesrepublik bewirkten (126).
Das vierte Kapitel ist dem "Anerkennungsdilemma" der Ostdeutschen gewidmet. Kollmorgen versteht unter Anerkennung "ein Sozialverhältnis, in dem sich Individuen bzw. Individuengruppen wechselseitig in ihrer Selbsttätigkeit und Identität bestätigen" (136). Dies ist bei den Ostdeutschen gestört. Eine Ursache ist bereits die Vereinigungslogik, denn "was von anderen (an-)geleitet, nach ihrem Bilde umgeformt werden muß, was mithin wert ist, zugrunde zu gehen, das ,verdient‘ kaum Wertschätzung" (166).
Das fünfte Kapitel ist ein Beispiel für die originelle Variation eines vielfach geübten Vorgehens. Gegenstand ist die Vereinigungsbilanz. Kollmorgen versucht jedoch nicht, eine weitere derartige Bilanz aufzustellen, sondern bedient sich bereits vorhandener Muster und stellt diese einander gegenüber: die Vereinigung als "grandioser Flop" oder als "voller Erfolg"? Die Antwort fällt, wie nicht anders zu erwarten, ambivalent aus. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Wichtig ist vielmehr die Erkenntnis, daß es auf diese Frage gar keine "objektiv richtige" Antwort geben kann, auch keine "wissenschaftlich zutreffende Globalbewertung" (220), sondern nur eine in sich sehr differenzierte, interessengeleitete und letztlich subjektive Antwort. Diese Auffassung wird in dem Buch vielfach belegt. Nicht zuletzt gilt sie aber auch für eine Reihe von Einschätzungen des Autors selbst (237ff.), worüber er sich eigentlich klar sein müßte. Im letzten Abschnitt versucht er einen "Ausblick" auf die kommenden zwanzig Jahre. Ein wichtiger Punkt dabei ist die "Regionalisierung" der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Ostdeutschland - das zentrale Thema auch des dritten hier zu besprechenden Buches.
Der Band "Neue Chancen für alte Regionen?" zeichnet sich ebenfalls durch Aktualität, theoretischen Anspruch, Detailtreue und eine Fülle innovativer Ideen aus. Es handelt sich hierbei um eine Sammlung wirtschafts-, sozial- und regionalwissenschaftlicher Studien, erarbeitet vor allem von Soziologen, Politologen und Kulturwissenschaftlern des BISS e.V., der Universität Katowice und der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Es ist der erste Band einer Textreihe des Brandenburg-Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien. Im Mittelpunkt der Publikation stehen Ostdeutschland als "paradigmatisch wichtiger Modernisierungsfall, die Spezifik der Regionalentwicklung, der Lebensweise, der sozialen Integration und der Demokratieentwicklung" (5).
Das erste Kapitel, verfaßt von Rolf Reißig und Michael Thomas, trägt den Charakter einer umfassenden thematischen Einleitung. Es vermittelt einen guten Überblick über die nachfolgend behandelten Themenfelder und verbindet diese mit den aktuellen Diskursen über Ostdeutschland und die Probleme der Wiedervereinigung. Zu Beginn findet sich die mit den Hauptaussagen der beiden anderen Bücher korrespondierende These, daß Ostdeutschland gegenwärtig nicht am Ende des Transformations- und Integrationsprozesses steht, sondern an einem neuen Anfang: "Das Projekt Ostdeutschland ist neu zu definieren." (15) Dafür werden vier Leitthesen (Herausforderungen) formuliert: Erstens der Übergang von der Industrie-, Arbeits- und Wachstumsgesellschaft alten Stils zur Wissensgesellschaft. Zweitens der demographische Wandel. Drittens das Ende des bundesdeutschen Wachstums- und Wohlfahrtsmodells und die Tendenz sozialer Differenzierung, Ausgrenzung und Polarisierung. Viertens die Zunahme regionaler Differenzierungen, wachsender Disparitäten, neuer Entwicklungs- und Schrumpfungsprozesse. Im Grunde, so die Autoren, befindet Ostdeutschland sich heute in einer "neuen Scheidewegsituation" (20). Möglich scheinen drei Entwicklungsszenarien: Ostdeutschland als strukturschwacher, abgehängter Raum mit einigen wenigen Wachstumskernen; Ostdeutschland als ein Raum, der durch eine "fragmentierte Entwicklung" (Rainer Land) gekennzeichnet ist und sich auf mittlerem Niveau stabilisiert; und Ostdeutschland als ein Raum, dem es gelingt, seine innovativen Entwicklungspotentiale zu entfalten und so den Weg zu einem "selbsttragenden und zukunftsfähigen Entwicklungspfad" zu öffnen (21). Es liegt auf der Hand, daß die Autoren das dritte Szenario favorisieren. Der weitere Text verfolgt mithin das Ziel, konkrete Wege aufzuzeigen, die in diese Richtung weisen, und Konzepte zu entwerfen, die diesen Weg als gangbar erscheinen lassen.
Dies beginnt mit der Wahrnehmung der Ausgangslage, wofür ein "Perspektivenwechsel" empfohlen wird. Der nächste Schritt ist ein "Strategiewechsel", ein "paradigmatisches Umdenken und gesellschaftliches Umsteuern" (22), um Ostdeutschland "nach vorn" zu bringen. Vor allem gilt: "Die Zukunft Ost kann [...] nicht mehr wie bislang als Vergangenheit West bestimmt werden." (23) Die strategische Vision vom Osten lautet "Bildungs-, Kultur- und soziale Innovationsregion" (24). Hierunter mag man sich einiges vorstellen, zum Beispiel eine ökologisch intakte Kulturlandschaft mit vielen Universitäten, Forschungsinstituten, Theatern, Museen usw. Ohne ökonomische Basis aber - und die fehlt hier -, ist das Ganze nicht mehr als ein Wolkenkuckucksheim, eine Vision eben, wie sie Philosophen und Kulturwissenschaftler gelegentlich entwerfen. Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun, und eine Gesellschaftsstrategie, die immer auch eine Wirtschaftsstrategie sein muß, läßt sich daraus auch nicht ableiten. Nichtsdestotrotz wird dies auf den nächsten Seiten versucht. Gefordert wird eine "gesamtdeutsche Reformpolitik", ein Förderkonzept, das statt auf Sachkapital auf "Human- und Sozialkapital" setzt, das heißt auf Bildung, Wissen und Forschung, ferner eine Strukturpolitik, welche die "innovativen Potentiale" stärkt, und eine Regionalpolitik, die sich am Leitbild der Regionalisierung orientiert. Hinzu kommt die Forderung nach einer "Akteurs- und Identitätspolitik", die gezielt "lokale Promotoren, regionale Entwicklungsallianzen und damit die Anwälte ostdeutscher Kommunen, Regionen und Länder" (28) stärkt. Statt staatlicher Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt-, Industrie-, Struktur- und Regionalpolitik setzt dieses Konzept auf Fantasie(n), Ideen und Innovationen "von unten", auf eine "Vielfalt zivilgesellschaftlicher Aktivitäten". Die regionalen und lokalen Räume werden damit zu den entscheidenden Handlungsebenen erklärt, das Wort "Laßt alle Blumen blühen!" wird zur gesellschaftspolitischen Maxime. Ob das funktioniert, weiß heute niemand zu sagen. Unstrittig ist, daß das Großexperiment "Aufbau Ost" viel gekostet, aber wenig bewirkt hat. Insofern scheint der Vorschlag, nunmehr von der "Makrotransformation" zur "Regionalisierung" überzugehen und damit einen neuen Weg auszuprobieren, legitim. Daß dieser Ansatz bislang aber ein ökonomisches Defizit aufweist, was sich auch beim "Regionalen Entwicklungskonzept für Sachsen" (Rolf Reißig/Frank Berg) zeigt, ist unübersehbar. Das läßt diesen Ansatz als strategisches Konzept als noch nicht ausgereift erscheinen. Die Verfasser halten sich jedoch mit derartigen Bedenken nicht auf, sondern gehen gleich zu praktischen Beispielen über: zur Brandenburger Niederlausitz als "exemplarischem Fall" einer Problemregion, einer strukturschwachen peripheren Region, deren Entwicklungschance in der Regionalisierung liegt.
Der Beitrag von Frank Berg schließt hier an, indem er die institutionellen Rahmenbedingungen regionaler Handlungsfähigkeit in Brandenburg mit denen in Sachsen vergleicht. Danach folgt eine Innovationsstudie über die Lausitz (Mirko Klich). Der Versuch, anknüpfend an sozialwissenschaftliche Konzepte eine Heuristik regionaler Handlungszusammenhänge zu erarbeiten, scheint erfolgversprechend, ist aber bislang ergebnisoffen.
Einen Aspekt dieses Ansatzes herausgreifend untersucht Sylvi Mauermeister am Beispiel Lauchhammers, welche Chancen soziales Kapital für die Regionalentwicklung bietet. Sie gelangt zu dem Ergebnis, daß dort, wo die Wirtschaft schwach entwickelt ist, auch das soziale Kapital "niedrig ausgeprägt" ist (206). Mithin erweist sich das Sozialkapital-Konzept als wenig geeignet, in wirtschaftlich schwachen Räumen Regionalentwicklung voranzutreiben. Die Wirkungen für strukturschwache Regionen sind eher kontraproduktiv, so der Befund. Etwas anders akzentuiert ist der Aufsatz von Michael Thomas über Ansätze und Blockaden regionaler Handlungsfähigkeit. Hier wird die Frage nach regionaler Governance im Sinne einer Kooperation und Koordination verschiedener Akteure gestellt und für die Region Niederlausitz beantwortet. Dabei wird deutlich, daß die Fähigkeiten regionaler Akteure, "gegebene Spielräume kreativ auszulegen und zu erweitern, nicht ausreichen, um institutionelle Defizite und ungünstige Rahmenbedingungen vollständig zu kompensieren" (179). Mit anderen Worten: Man kann sich nicht selbst aus dem Sumpf ziehen! Dies bestätigt auch der Aufsatz von Rudolf Woderich: "Regionen, die nicht auf exponierte Wachstumskerne verweisen können, aber über Wachstumspotentiale verfügen, sind [...] mehr denn je auf sich selbst zurückgeworfen" (337). Ein Baron von Münchhausen kommt nicht!
Drei Bücher, ein Thema: Wie läßt sich in Ostdeutschland Entwicklung generieren? Dazu gibt es unterschiedliche Fragestellungen, aber durchaus ähnliche Prämissen sowie verschiedene, aber einander ergänzende Antworten und Schlußfolgerungen. Die Lektüre zeigt, Ostdeutschland ist nach wie vor ein lohnendes Forschungsgebiet mit vielen offenen Fragen und noch so mancher Überraschung.

Anmerkungen
1 U. Müller: Supergau Deutsche Einheit. Berlin 2005.
2 Vgl. M. Brie: Die ostdeutsche Teilgesellschaft. In: M. Kaase/ G. Schmid (Hg.), Die lernende Demokratie. 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. WZB Jahrbuch 1999. Berlin 1999, 201-236.
3 Vgl. z.B. R. Albertz: Im Visier die DDR. Eine Chronik. Berlin 2003.

Jens Bisky: Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet. Berlin: Rowohlt 2005, 222 Seiten
Raj Kollmorgen: Ostdeutschland. Beobachtungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 324 Seiten
Rolf Reißig, Michael Thomas (Hg.): Neue Chancen für alte Regionen? Fallbeispiele aus Ostdeutschland und Polen. Münster: Lit Verlag 2005, 344 Seiten

Dr. Ulrich Busch, Wirtschaftswissenschaftler, TU Berlin

aus: Berliner Debatte INITIAL 17 (2006) 1/2, S. 181-185