Gute Arbeit unter dem Druck der Prekarisierung

"Machen wir uns nichts vor: Wer sich heute "Gute Arbeit" auf die Fahne schreibt meint eigentlich die schlechte Arbeit, gegen die es sich zu wehren gilt." (Sauer 2005)

"Machen wir uns nichts vor: Wer sich heute "Gute Arbeit" auf die Fahne schreibt meint eigentlich die schlechte Arbeit, gegen die es sich zu wehren gilt." (Sauer 2005) Diese Bemerkung Dieter Sauers auf der WSI-Konferenz "Gute Arbeit - schlechte Arbeit" im November 2004 war sicherlich auch auf das Projekt Gute Arbeit der IG Metall gemünzt, einer anspruchsvollen und im Jahre 2004 für drei Jahre gestarteten Initiative zur Revitalisierung gewerkschaftlicher Arbeitspolitik.
In der Tat haben sich gegenüber der Zeit, als die Humanisierung der Arbeit ein weithin akzeptiertes Projekt war, die Grundkonstellationen in mehrerer Hinsicht verändert:
Zum einen lassen Kurzfristökonomie sowie Standort- und Kostensenkungswettbewerb vielerorts die Qualität der Arbeit zu einer Restgröße schrumpfen. Symptomatisch hierfür sind die Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverlängerungen. Unter dem Slogan "Hauptsache Arbeit" werden zudem Qualitätsstandards durchlöchert und gesetzliche Schutzniveaus dereguliert mit der gewollten Folge, dass auch die Ansprüche der Menschen, die Arbeit haben oder in Arbeit wollen, weiter abgesenkt werden.
Zum anderen weitet sich prekäre Arbeit in Form befristeter und Leiharbeitsverhältnisse sowie Minijobs - politisch gefördert - stark aus. Bei den prekären Beschäftigtengruppen ist eine Kumulation von Belastungen und Gesundheitsrisiken feststellbar (INIFES 2003; Fuchs 2003). Dabei erweist sich, dass die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses selbst, also die Zurückdrängung prekärer Elemente wie Befristungen und Leiharbeit, wesentliche Voraussetzung und Bedingung humaner Arbeitsbedingungen ist.
Die von INQA initiierte Untersuchung "Was ist gute Arbeit?" zeigt, dass - aus der Sicht von abhängig Beschäftigten - ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis sowie ein regelmäßiges und festes Einkommen Kernaspekte von guter Arbeit darstellen. Keinem anderen Bereich wird bei den Befragungsergebnissen eine derart hohe Bedeutung zugemessen. Umgekehrt ist die Ablehnung der aktuellen betrieblichen Praxis, befristete und Leiharbeitsverhältnisse auszuweiten, sehr hoch: so stimmen 72% bzw. 78% dem Statement zu, dass der Einsatz von Zeitarbeit begrenzt bzw. die Befristung von Arbeitsverhältnissen grundsätzlich auf Ausnahmefälle beschränkt werden sollte (Fuchs 2006). Das Projekt Gute Arbeit der IG Metall wird in Kürze eine Arbeitsmappe zum Thema prekäre Arbeit veröffentlichen, in der die genannten und weitere Befunde zusammengetragen sind (vgl. www.igmetall.de/gutearbeit).
Die Ergebnisse sind auch insofern bemerkenswert, da die Ablehnung von Leiharbeit und Befristungen überwiegend auch von jenen Beschäftigten geteilt wird, die bislang nicht selbst mit diesen Formen unsicherer Beschäftigung konfrontiert wurden.
Die Befunde verweisen darauf, dass es unter den Beschäftigten - unabhängig von der eigenen Betroffenheit - ein tiefes Misstrauen gegenüber der zunehmenden Prekarisierung gibt. Dies ist - insbesondere vor dem Hintergrund der veröffentlichten Meinung - ein bemerkenswertes Ergebnis, das durchaus auf Solidarisierungspotentiale auch - oder gerade - in einer gespaltenen Gesellschaft hindeutet.
Schon aus diesen Erwägungen heraus ergibt sich, dass ein arbeitspolitisches Projekt Prekarisierung als eine Bedrohung für Standards guter Arbeit thematisieren und darüber hinaus zum Ausgangspunkt von neuen Organisierungs- und Regulierungsansätzen aus gewerkschaftlicher Sicht machen muss.
Eine arbeitspolitische Initiative muss aus all diesen Gründen unter den heutigen Bedingungen inhaltlich neu entworfen werden, auch wenn sie an die gewerkschaftliche Tradition einer Humanisierung der Arbeit anknüpft und sich nach wie vor positiv auf staatliche Impulse sowohl der Forschungspolitik als auch der "Initiative Neue Qualität der Arbeit" bezieht. Denn aus dem Umbruch in der Arbeitsgesellschaft und aus einer arbeitspolitischen Bilanz der letzten Jahre ergeben sich veränderte Koordinaten und Themenfelder für gewerkschaftliche Arbeitspolitik.
Die neunziger Jahre können arbeitspolitisch als "verlorenes Jahrzehnt" bilanziert werden. Entgegen der Prophezeiung einer schönen neuen Arbeitswelt in der entstehenden "Wissensgesellschaft" haben sich die Arbeits- und Leistungsbedingungen verschärft, so dass sie vor allem für alternde Belegschaften immer schwerer zumutbar sind. Hier entwickelt sich ein neues demografisches Konfliktpotential. Aus beiden Entwicklungen lassen sich Schwerpunkte für das Projekt Gute Arbeit ableiten (vgl. Pickshaus 2005):
Erstens: Unter dem Motto "Der Arbeit ein gesundes Maß geben - Arbeitszeit und Leistungsdruck begrenzen" werden Handlungsansätze angesichts einer zunehmenden "Entgrenzung" von Arbeitszeit und Leistungsanforderungen im Rahmen neuer, marktzentrierter Steuerungsmodelle in den Unternehmen praktisch entwickelt. Gerade in diesem Handlungsfeld kann deutlich gemacht werden, dass gute Arbeit keineswegs ein Luxusthema für Schönwetterzeiten ist, sondern in den aktuellen Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverlängerung, Leistungsdruck und härteren Arbeitsbedingungen zusätzliche qualitative Argumente und Instrumente erschließen hilft.
Zweitens erfordert der demografische Wandel eigene Ansätze der alternsgerechten und lernförderlichen Arbeitsgestaltung, da schon heute nur jeder Fünfte das bisherige Rentenalter von 65 Jahren erreicht; davon wird über die Hälfte wegen vorzeitigem Gesundheitsverschleiß vorzeitig verrentet. In der Auseinandersetzung mit den Regierungsplänen einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die nur der Senkung von Rentenleistungen dient, wird der "demografische Handlungsbedarf" auf den Verursachungsort des Verschleißes von Arbeitskraft - die betriebliche Arbeitswelt - gerichtet.
Im dritten Schwerpunkt des Projektes "prekäre Beschäftigung eindämmen - Belastungen und Risiken verringern" gilt es in einem ersten Schritt, die betrieblichen Interessenvertretungen für dieses Problemfeld zu sensibilisieren - allein schon, um Spaltungen zwischen Stammbelegschaften und prekär Beschäftigten zu verhindern. Es sind weniger die gegenwärtigen statistischen Daten zu prekären Arbeitsverhältnissen (also in erster Linie der befristeten und Leiharbeitsverhältnisse) als deren expansive Dynamik, die die soziale Unsicherheit schon jetzt bis weit in die Zonen der Stammbelegschaften hineinträgt und zur Alltagserfahrung werden lässt. Hierdurch wird auch der Druck auf die Standards und die Arbeitsbedingungen der Festbeschäftigten verstärkt.
Leiharbeit ist bislang vor allem ein Phänomen der Großbetriebe. Knapp 40 Prozent der Betriebe mit mindestens 500 Beschäftigten nutzen diese Möglichkeit der Arbeitnehmerüberlassung. Dabei wird in einem Viertel der Betriebe dadurch nachweislich reguläre Beschäftigung verdrängt (Fuchs 2006). Im Mittelpunkt des unternehmerischen Interesses an der Nutzung von Leiharbeit stehen nicht - wie immer behauptet - die erhöhten Anforderungen an eine Flexibilität. Diese wäre auch zu anderen Konditionen erreichbar. Zentrales Interesse ist vielmehr das Lohndumping.
Die Ausweitung von prekärer Arbeit wirkt sich auf alle Dimensionen der Interessenvertretung der Gewerkschaften aus. Deshalb ist Prekarisierung zu einer zentralen Herausforderung geworden, die zum Erhalt und zum Ausbau gewerkschaftlicher Gegenmacht ernster als bisher genommen werden muss. Ein genauerer Blick auf das Phänomen der Prekarität ist erforderlich.
Prekarität und Prekarisierungsangst
Die Begriffe "Prekarität" und "Prekarisierung" haben mittlerweile auch in Deutschland das Schattendasein soziologischer Fachtermini hinter sich gelassen und erfreuen sich in der politischen wie publizistischen Debatte zunehmender Verwendung. "Prekariat", "Prekäre Generation" oder "Homo precarius" sind nur einige der journalistischen Zuspitzungen, mit denen Wochen- und Tageszeitungen dieser Tage die neue soziale Frage moderner Arbeitsgesellschaften umschreiben.
Für eine systematischere Erschließung des vielschichtigen Phänomens prekärer Arbeit lohnt der Blick ins Wörterbuch. "Prekär" wird dort mit "widerruflich", "unsicher", "heikel" übersetzt - allesamt Adjektive, die die Grundzüge prekärer Arbeit treffend charakterisieren. Prekarität ist nicht identisch mit vollständiger Ausgrenzung aus dem Erwerbssystem, absoluter Armut, totaler sozialer Isolation, unwiderruflichem Kontrollverlust und absoluter Apathie, sondern kann nur, gleichsam relational, an gesellschaftlichen Normalitätsstandards gemessen werden. "Prekäre Beschäftigung" bezieht sich auf jene Normen, die unter dem Begriff des "Normalarbeitsverhältnisses", verstanden als "kontinuierliches, qualifiziertes Vollzeitarbeitsverhältnis" (Mückenberger 1990: 158), zusammengefasst werden.
Vom Normalarbeitsverhältnis abweichende prekäre Beschäftigung lässt sich anhand von fünf Dimensionen spezifizieren: In reproduktiv-materieller Hinsicht ist eine Erwerbsarbeit prekär, wenn deren Vergütung, die die Haupteinnahmequelle darstellt, nicht existenzsichernd ist und/oder das Einkommen es nicht ermöglicht, ein gesellschaftlich anerkanntes kulturelles Minimum nach oben zu überschreiten. In rechtlich-institutioneller Hinsicht gilt eine Erwerbsarbeit als prekär, wenn Beschäftigte von institutionell verankerten sozialen, tariflichen und Mitbestimmungsrechten ausgeschlossen werden. In sozial-kommunikativer Hinsicht kann von prekärer Erwerbsarbeit gesprochen werden, sofern eine über den Arbeitsplatz und die Arbeitstätigkeit vermittelte Integration in soziale Netze nicht gegeben ist. Ferner ist die Status- und Anerkennungsdimension zu berücksichtigen; in dieser Hinsicht ist eine Arbeit prekär, wenn sie den Arbeitenden eine anerkannte, gesellschaftliche Positionierung vorenthält. Schließlich ist bezogen auf die arbeitsinhaltliche Dimension eine Arbeit prekär, wenn die Berufstätigkeit von dauerhaftem Sinnverlust begleitet ist oder sie im Gegenteil zu einer krankhaften Überidentifikation mit Arbeit führt (vgl. Dörre u.a. 2006).
Prekäre Erwerbsarbeit ist in einem weiten Spektrum atypischer Beschäftigungsformen anzutreffen, das Zeit- und Leiharbeit, Scheinselbständigkeit, Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung und Vollerwerbsarbeit im Niedriglohnsektor, Mini-/Midijobs sowie befristete Erwerbsarbeit auf Projekt- und Werkvertragsbasis umfasst. Der Anteil atypischer Beschäftigung hat sich in den letzten 30 Jahren von rund 15 % Anfang der siebziger Jahre auf rund 40 % heutzutage fast verdreifacht. Atypische Beschäftigungsformen an sich sind noch nicht prekär, beinhalten jedoch unabhängig davon, ob ihre Aufnahme gewollt oder erzwungen ist, "prekäres Potenzial" (Mayer-Ahuja 2003), das unter empirisch zu bestimmenden Bedingungen aktiviert wird. Beispielsweise wird das prekäre Potenzial einer geringfügigen Beschäftigung dann nicht geweckt, wenn diese Tätigkeit lediglich den Hinzuverdienst eines Familienhaushaltes ausmacht und dieser über ein Haupteinkommen abgesichert ist. Ändert sich jedoch die Erwerbskonstellation des Haushalts, vermag das schlummernde prekäre Potenzial einer atypischen Beschäftigung plötzlich aktiviert und diese zur möglichen Armutsfalle zu werden.
Im wesentlichen Unterschied zum Normalarbeitsverhältnis, das den Beschäftigten einen hohen Grad der Planbarkeit ihres Privat- und Arbeitslebens erlaubt, sehen sich prekär Beschäftigte jeglicher Möglichkeit zu einer längerfristig ausgerichteten Lebensplanung beraubt. An deren Stelle tritt ein von Arbeitsgelegenheiten geprägtes Dasein in einer für das neue "Prekariat" typischen "sozialen Schwebelage" (Kraemer/Speidel 2004), in der sich die prekär Beschäftigten gezwungen sehen, alle Kräfte darauf zu verwenden, um einerseits den Aufstieg in gesicherte Erwerbsarbeit vielleicht doch noch zu realisieren, andererseits den dauerhaften sozialen Ausschluss von Erwerbsarbeit abzuwenden. Das alte Versprechen des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, wonach ein Normalarbeitsverhältnis die Basis für langsam aber kontinuierlich wachsenden Wohlstand bildet, ist für die prekär Beschäftigten außer Kraft gesetzt (vgl. Vogel 2004).
Die Absturzängste der prekär Beschäftigten finden ihre Entsprechung in der Angst vieler Normalbeschäftigter, die sich in ihrem unmittelbaren Arbeitsumfeld zunehmend mit prekär oder atypisch Beschäftigten konfrontiert sehen, ihren gesicherten Beschäftigungsstatus über kurz oder lang einzubüßen. Prekarisierungsängste der noch über eine reguläre Vollzeitstelle verfügenden Beschäftigten sind in der betrieblichen Wirklichkeit in den unterschiedlichsten Ausprägungen anzutreffen: etwa als aufkeimende Befürchtung, dass der eigene Arbeitsplatz durch unternehmensexternes Personal ersetzt werden und der berufliche Werdegang in eine prekäre Befristungskarriere einmünden könnte; oder als Sorge, dass mit der Übernahme des Betriebes durch ein konkurrierendes Unternehmen die im Laufe der Unternehmenszugehörigkeit erworbenen Rechtsansprüche und Schutzregelungen unterminiert werden könnten; oder aber als latente/manifeste Angst, dass im Zuge von unternehmensinterner Reorganisation und Umstrukturierung die Position in der betrieblichen Statushierarchie geschwächt wird.
Vom Zusammenspiel objektiver Prekarisierungsprozesse mit subjektiven Prekarisierungsängsten geht eine sozial desintegrierende Sogwirkung auf die Arbeitsgesellschaft aus. Die Herausbildung einer größer werdenden "Zone der Prekarität" (Castel 2000), in der sich die einen schon befinden und in die die anderen um keinen Preis abrutschen wollen, forciert die Umstellung auf einen äußerst problematischen gesellschaftlichen Integrationsmodus. An Bedeutung gewinnen Integrationsformen, in denen die subtile Wirkung marktförmiger Disziplinierungsmechanismen eine deutliche Aufwertung erfährt (vgl. Heitmeyer 1997). Weil vor allem die Gruppen der durch Normalarbeit Integrierten einiges zu verlieren haben, kann die Disziplinierung durch den Markt eine Vielzahl an Hoffnungen und Ängsten funktionalisieren.
Prekarisierung ist folglich kein Phänomen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft. Vielmehr stellt sie ein Macht- und Kontrollsystem dar, das in gespaltenen Arbeitsgesellschaften sowohl prekär Beschäftigte als auch Normalbeschäftigte erfasst. Mit Bourdieu (1998) gesprochen bewirkt Prekarisierung "eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht von ihr betroffen sind" (S. 97f.). Wenn die Gewerkschaften an ihrem Anspruch festhalten wollen, eine organisierte und einheitliche Interessenvertretung für alle Arbeitnehmergruppen zu gewährleisten, werden sie Strategien gegen die Ausweitung der Prekarisierung und zum Abbau von Angst und Unsicherheit entwickeln müssen.
Gewerkschaftliche Antworten
In den letzten Jahren hat zumindest das Problembewusstsein in einigen Gewerkschaften zugenommen. Auf der 5. tarifpolitischen Konferenz des Europäischen Metallarbeiterbundes (EMB) im Oktober 2005 in Rom wurde in einer Entschließung festgestellt, dass der EMB "jegliche Form von prekären und flexiblen Beschäftigungsverhältnissen ab(lehnt), die dem Arbeitnehmer einseitig auferlegt werden und keine angemessenen Gehalts- und Arbeitsbedingungen garantieren. Der derzeitige Trend zur Schaffung von prekären Arbeitsplätzen wird vom EMB grundsätzlich ablehnt." Deshalb gelte es, "Mindestbedingungen und -standards einzuführen, die alle Arbeitnehmer schützen Â… (und) die Absenkungsspirale der Arbeitsbedingungen zu stoppen."
In der gewerkschaftlichen Diskussion hierzulande sind unterschiedliche strategische Handlungsansätze entwickelt worden, um gegen Prekarität vorzugehen. Zum einen geht es um den Aufbau gemeinsamer Strategien, die Spaltungen zwischen Stamm- und Randbelegschaften verhindern sollen; zum anderen soll durch gezielte Einflussnahme auf die Personalpolitik betriebspolitisch versucht werden, Prekarisierung einzudämmen. Ein weiterer Handlungsansatz liegt in der Verteuerung prekärer Arbeit, und schließlich bemühen sich Gewerkschaften um die Organisierung prekär Beschäftigter. Jede der Strategien lässt sich anhand exemplarischer Problemverarbeitungen knapp umreißen.
Spaltungen verhindern - gemeinsame Handlungsansätze ausbauen
Für betrieblichen Handlungsdruck sorgt seit mehreren Jahren der im Rahmen einer allgemein zunehmenden Rekommodifizierung von Arbeit immer flexiblere Personaleinsatz, in dessen Verlauf sich, wie oben gesehen, der - politisch geförderte - Einsatz von befristet Beschäftigten, Leiharbeitnehmern und Minijobbern überproportional ausgeweitet hat. Gewerkschaften stehen in diesem Fall vor der doppelten Herausforderung, schutzpolitische Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die gleichermaßen die Interessen der prekären Randbelegschaften wie die der "alten" Stammbelegschaften berücksichtigen, um so einer "Klassenspaltung" innerhalb der Arbeitnehmerschaft in "Arbeitnehmer erster und zweiter Klasse" (vgl. Dörre 2006) zuvorkommen. Insbesondere in Unternehmen aus der Metall- und Elektroindustrie, in denen Auftragsspitzen während der letzten Jahre vermehrt mit Leiharbeitnehmern abgedeckt wurden, finden sich erste Beispiele dafür, dass sich Gewerkschaften und Betriebsräte mittels tradierter wie auch aktivierender, beteiligungsorientierter Ansätze in der Tarif- und Betriebspolitik erfolgreich für die Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen prekärer Beschäftigtengruppen einsetzen.
Einen beteiligungsorientierten Ansatz zur Regulierung von Leiharbeit hat die IG Metall Ingolstadt verfolgt. Aus den Reihen mehrerer hundert ostdeutscher Leiharbeiter, die vom Autobauer Audi entliehen wurden, stieß die IG Metall 2003 die Wahl einer Tarifkommission an, die mit dem Verleihunternehmen Adecco bessere Wohnbedingungen "vor Ort", die Zahlung einer Auslöse sowie die Übernahme der Fahrtkosten für monatliche Heimfahrten aushandelten. Da für diese Forderungen glaubhaft eine Streikbereitschaft demonstriert und der Organisationsgrad unter den Leiharbeitern erheblich erhöht werden konnte, lenkte Adecco ein. Den entsprechenden Tarifvertrag kommentierend, sprach der zuständige Projektmanager von Adecco von einem ungewöhnlichen Einsatz von "Zeitarbeitern auf Facharbeiterlohnniveau", die betroffenen Leiharbeiter unisono von einem "Topverdienst".
In der Tarifbewegung 2006 in der Metall- und Elektroindustrie konnte erstmals eine gemeinsame Beteiligung von Stammbelegschaften und Leiharbeitern in mehr als zehn Betrieben erreicht werden. Ein gemeinsamer Streikaufruf war deshalb möglich, weil auch der Tarifvertrag für Zeitarbeit mit dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen gekündigt war. Ein solches demonstratives synchronisiertes Vorgehen hat für künftige Tarifbewegungen exemplarischen Charakter.
Personalpolitik beeinflussen, um Prekarisierung einzudämmen
Eine strategische Schlüsselfrage zur Eindämmung von Prekarisierung besteht darin, wie in den Unternehmen die Ausrichtung der Personalpolitik beeinflusst werden kann. In vielen Großunternehmen geht es beim Einsatz von Leiharbeit längst nicht mehr um die Abdeckung von Auftragsspitzen oder den Ausgleich saisonaler Auftragsschwankungen sondern um systematische Kostensenkung durch Lohndumping. In vielen Betrieben wird der Personalbestand an der unteren Grenze gehalten und je nach Bedarf dann mit dem Einsatz von Leiharbeit aufgefüllt. Dabei sind in einigen Unternehmen sogar zig unterschiedliche Zeitarbeitsfirmen eingesetzt, so dass eine oft nicht mehr überschaubare Vielfalt an unterschiedlichen Tarif- und Entlohnungsbedingungen nebeneinander existieren.
Durch die offensive Wahrnehmung aller betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsrechte ist es für den Betriebsrat der Stammbelegschaft durchaus möglich, einen solchen Wildwuchs einzudämmen und die Arbeitsbedingungen auch der Leiharbeiter mit zu beeinflussen. Ideal wäre es, wenn Betriebsräte des Verleihers und des Entleihbetriebs dabei zusammenarbeiten würden. Es gibt allerdings bisher nur in wenigen Leiharbeitsfirmen eine Arbeitnehmervertretung. Insgesamt ist die Sensibilisierung für eine solche strategische Vorgehensweise noch sehr unterentwickelt.
In der IG Metall sind seit einiger Zeit mehrere Initiativen - darunter auch das Projekt gute Arbeit - gestartet worden, um durch Information und Handlungshilfen eine solche betriebspolitische Vorgehensweise zu unterstützen.
Prekäre Arbeit verteuern
Den Gewerkschaften ist es gelungen, dass in das im Zuge der Hartz-Gesetze erneuerte Arbeitnehmerüberlassungsgesetz der so genannte Gleichbehandlungsgrundsatz "Equal Pay & Equal Treatment" aufgenommen wurde. Dieser besagt, dass Verleihunternehmer ihren Beschäftigten für die Zeit der Überlassung an einen Entleiher mindestens diejenigen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgeltes gewähren müssen, die für einen vergleichbaren Stammbeschäftigten des Entleihers gelten.
Das vorläufige Fazit zur Realisierung des Equal-Pay-Grundsatzes fällt zwiespältig aus:
Zwar gilt nun generell, dass Leiharbeiter dasselbe Entgelt erhalten sollen wie Stammbeschäftigte. Dies wird allerdings dann eingeschränkt, wenn in der Branche Tarifverträge gelten, wie die zwischen der DGB-Tarifgemeinschaft und dem Bundesverband Zeitarbeit (BZA) sowie dem Interessenverband deutscher Zeitarbeitnehmer (IGZ). Diese Tarifverträge kamen auch deshalb zustande, um den noch niedriger liegenden Dumping-Tarifverträgen des sogenannten Christlichen Gewerkschaftsbundes (CGB) zu begegnen. Aus den Reihen gewerkschaftlich organisierter Leiharbeiter und ihren Betriebsräten gibt es auch Kritik an den niedrigen Einkommensniveaus der DGB-Tarifverträge.
Auf einzelbetrieblicher Ebene konnten beispielsweise bei Airbus oder DaimlerChrysler in Wörth der Equal-Pay-Grundsatz in Tarifverträgen durchgesetzt werden. Im DaimlerChrysler Werk Wörth konnte ein Tarifvertrag mit der gemeinnützigen Zeitarbeitsfirma GABIS abgeschlossen werden. Danach sind die Einkommen gleich, nur Jahresleistung und Urlaubstage sind für Leiharbeiter geringer. Die Zusammenarbeit mit GABIS war Ergebnis eines breiten lokalen Bündnisses zwischen den Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen, das zunächst Arbeitsplatzabbau als kommunales Problem skandalisiert und daraufhin die Gründung einer gemeinnützigen Zeitarbeitsfirma in die Wege geleitet hat. Die GABIS-Zeitarbeiter sind mittlerweile fest übernommen worden. Im Airbus-Konzern konnte durch einen Ergänzungstarifvertrag ebenfalls Equal-Pay für die eingesetzten Leiharbeiter durchgesetzt werden.
Prekäre organisieren
Im Bereich der gewerkschaftlichen Organisierung prekär Beschäftigter existieren in Deutschland zwar vereinzelt positive Ansätze, nicht jedoch eine umfassende strategische Vorgehensweise. Zumindest eine vorübergehende gewerkschaftliche Anbindung prekär Beschäftigter - dieses zeigt die bisherige Erfahrung - hat immer dann stattgefunden, wenn es den Gewerkschaften gelang, auf vorhandene Missstände der Arbeits- und Lebensbedingungen der Prekären mit effektiven Problemlösungen zu reagieren. So war hinsichtlich des erwähnten Audi-Falles die Verbesserung der Wohnbedingungen durch die IG Metall der entscheidende Antrieb für die Leiharbeitnehmer, aus den eigenen Reihen eine Tarifkommission zu wählen, die mit dem Verleihunternehmen erfolgreich bessere Konditionen aushandelte. Immerhin gelang es, bis zu 70 Prozent der Leiharbeiter in der IG Metall zu organisieren.
Neben diesem betrieblichen Positivbeispiel können noch weitere Initiativen auf Branchen- und Regionalebene genannt werden, bei denen Gewerkschaften mittels gezielter Kampagnen und neuen Organisationsformen das weite Feld prekärer Beschäftigung zu erschließen begonnen haben. Erwähnt seien Kampagnen von Ver.di, der IG Bau oder auch des DGB Köln. Im Bereich des IG-Metall-Bezirks Berlin/Brandenburg/Sachsen gibt es mehrere Arbeitskreise "Menschen in Zeitarbeit", die Formen der Selbstorganisation darstellen und konkrete Dienstleistungsangebote für die Interessenvertretung anbieten. Zum Thema Leih-/Zeitarbeit sei ferner das IG Metall-Internetportal ZOOM (ZeitarbeiterInnen Ohne Organisation Machtlos: www.igmetall-zoom.de) erwähnt, das prekär Beschäftigten wie auch Betriebsräten eine Kommunikations- und Informationsplattform bietet, zu der Basisinformationen wie rechtliche und tarifliche Grundlagentexte ebenso wie aktuelle Meinungsaustauschbörsen gehören.
Insgesamt weisen die deutschen Gewerkschaften in der Organisierung prekär Beschäftigter im internationalen Vergleich einen Rückstand auf. In den angelsächsischen und einigen südeuropäischen Ländern, wo atypische und prekäre Arbeit schon länger die Beschäftigtenstruktur prägt, bemühen sich seit längerem Gewerkschaften mit Strategien des aktiven "Organizing" um die neuen Beschäftigtengruppen. Insbesondere US-amerikanische Gewerkschaften, die in Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen, Kirchen und Selbsthilfeorganisationen Organisationserfolge unter Prekären verbuchen können, liefern Ansätze "guter Praxis", die auch hierzulande greifen könnten.
In der IG Metall wächst die Erkenntnis, dass prekäre Beschäftigung als eine strategische Herausforderung für die Betriebräte und Gesamtorganisation begriffen werden muss. Die ersten Ansätze, dies praktisch zu bearbeiten, werden unter anderem durch das Projekt Gute Arbeit der IG Metall koordiniert.

Literaturverzeichnis
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Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz.
Dörre, Klaus (2006): Arbeitnehmer zweiter Klasse? Politik der Entprekarisierung statt Klassenkampf zwischen Arbeitnehmern, in: spw 148, Dortmund.
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Fuchs, Tatjana u.a. (2006): Was ist gute Arbeit? Anforderungen aus der Sicht von Erwerbstätigen. Eine Untersuchung im Auftrag der BAuA im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit, Stadtbergen.
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Kraemer, Klaus;Speidel, Frederic (2004): Prekäre Leiharbeit. Zur Integrationsproblematik einer atypischen Beschäftigungsform, in: Vogel, Berthold (Hrsg.): Leiharbeit. Neue sozialwissenschaftliche Befunde zu einer prekären Beschäftigungsform, Hamburg, S. 119-153.
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Pickshaus, Klaus (2005): "Gute Arbeit" als neuer strategischer Ansatz, in: Detje, Richard/Pickshaus, Klaus/Urban, Hans-Jürgen (Hrsg.), Arbeitspolitik kontrovers, Hamburg, S. 137 ff.
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Klaus Pickshaus leitet das Projekt Gute Arbeit und das Ressort Arbeits- und Gesundheitsschutz beim Vorstand der IG Metall. Dr. Frederic Speidel arbeitete mehrere Jahre am Forschungsinstitut Arbeit-Bildung-Partizipation in Recklinghausen und nimmt derzeit am Traineeprogramm der IG Metall teil.

Quelle: spw 149 (Mai/Juni 2006)