Menschenrechte, Kuba und linke Politik

Anlass dieser Meinungsäußerung sind die Auseinandersetzungen um die Zustimmung von drei Abgeordneten der Linkspartei zur Kuba-Resolution des EU-Parlaments vom 2. Februar 2006...

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Zwar ist seitdem geraume Zeit vergangen und beide Seiten - Befürworter und Kritiker der Resolution - haben ihre Argumente vorgebracht 2, die Bedeutung der dabei aufgeworfenen politischen und theoretischen Grundfragen (Menschenrechte, Inhalt und Kriterien von Sozialismus, Glaubwürdigkeit linker Politik, Verhältnis von Kritik und Solidarität unter Linken) rechtfertigen jedoch eine weiterführende, sachliche Debatte, zumal nach wie vor dringender Klärungsbedarf besteht. Ausgehend von den jeweils vorgebrachten Argumenten soll hier ein Diskussionsangebot gemacht werden, das hoffentlich zur Versachlichung der Debatte beiträgt.

Deshalb seien an erster Stelle die Gemeinsamkeiten beider Seiten hervorgehoben, die auch den Grundkonsens linkssozialistischen Politikverständnisses bilden sollten:
a) Die Durchsetzung universeller und unteilbarer Menschrechte stellt das oberste Ziel linker Politik dar. Dazu ist der Übergang zu einer menschenwürdigen Gesellschaft notwendig, in der Sozialismus und Demokratie eine untrennbare Einheit bilden.
b) Glaubwürdigkeit und Konsequenz sind unverzichtbare Bestandteile linken Politikverständnisses. Dies sind nachvollziehbare und gerechtfertigte Argumente der Resolutionsbefürworter, denen das Recht auf freie Gewissensentscheidung zugestanden werden muss. Auch das von ihnen vorgebrachte Argument, mit der Zustimmung zur Resolution Sanktionen gegen Kuba und eine Eskalation der ohnehin schon gespannten Beziehungen zwischen der Karibikinsel und der EU verhindern zu wollen, verdient Beachtung.
c) Im Umgang der Linken miteinander bilden Solidarität und Kritik eine untrennbare Einheit, was auch und gerade gegenüber Kuba sowie für die Diskussion beider Seiten über die dortige Situation gilt. Dabei sollten folgende Prämissen Konsens sein:
- Kuba ist untrennbarer Teil des globalen linken Kräftespektrums und damit Freund und Verbündeter der europäischen Linken.
- Bei der Umsetzung sozialer Menschenrechte (Grundsicherung, Gesundheit, Bildung) sowohl im eigenen Land als auch im Rahmen der Hilfe für andere Länder des Südens hat Kuba vorbildliches geleistet.
- Blockade und Embargo durch die USA stellen das Haupthindernis für eine freie und demokratische Entwicklung Kubas dar.

Ein kritischer und umstrittener Punkt ist mit Sicherheit die Verletzung politischer Menschenrechte (Inhaftierung aus politischen Gründen, Todesstrafe, Einschränkung der Reisefreiheit) in Kuba. Sie sollten m. E. keineswegs geleugnet oder unter den Teppich gekehrt werden. Vielmehr halte ich es für angebracht, die Gründe für, die Bewertungen von und die Schlussfolgerungen aus diesen Verletzungen sachlich und offen zu diskutieren, wobei die kubanische Seite unbedingt als Dialog- und Diskussionspartner einzubeziehen ist. Damit ist zugleich deutlich geworden, dass die Meinungsunterschiede in diesen Punkten legitim sind und in produktiver Weise zum Gegenstand einer Debatte unter Linken gemacht werden sollten.

Für falsch halte ich allerdings gegenseitige Beschuldigungen und Unterstellungen wie "Verrat" oder "reaktionär" gegenüber den Resolutionsbefürwortern bzw. "Stalinismus" oder "unbelehrbar" gegenüber den Resolutionskritikern - und zwar, weil dies unproduktiv und unsachlich ist: anstatt Brücken zu schlagen und gemeinsam zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, werden nur Gräben aufgerissen, um sich darin zu verschanzen.

Was die konkrete Entscheidung - die Zustimmung zu besagter EUResolution - anbetrifft, so halte ich diese aus folgenden Gründen politisch für kontraproduktiv und falsch: erstens nimmt die Resolution nur auf einen Aspekt der Menschenrechtssituation auf Kuba (Ausreiseverbot für die "Damen in Weiß") Bezug, der zudem im Gesamtkontext von sekundärer Bedeutung sein dürfte; zweitens fehlt die politische Einordnung der Haltung der kubanischen Führung (Rolle der USA); drittens ist die Sprache der Resolution anmaßend; viertens ist die Gefahr der Instrumentalisierung der Befürworter durch kubafeindliche Kräfte enorm groß; fünftens führt die Entscheidung zur Verhärtung statt zur Verbesserung der Lage auf Kuba; sechstens wäre eine vorherige Diskussion mit der kubanischen Führung angebracht gewesen.

Im Weiteren soll auf Gegenstand und Argumente der durch die Zustimmung der drei Abgeordneten der Linkspartei zu besagter EU-Resolution ausgelösten Debatte näher eingegangen werden.

Menschenrechte: Voraussetzungen, Grenzen, Prioritäten
Unteilbarkeit und Universalität der Menschenrechte sind zwar nicht hintergehbarer Anspruch bzw. Zielstellung auch und gerade linker Politik, aber nirgends vollständig umgesetzte Realität, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichem Maße.

Daraus ergeben sich zwei grundsätzliche Fragen: Zum einen nach Voraussetzungen und Grenzen der Universalität von Menschenrechten und zum anderen nach Prioritäten und Wegen ihrer schrittweisen Durch- und Umsetzung.

Anhand der europäischen bzw. westlichen Erfahrungen lassen sich der Rechtsstaat als institutioneller Rahmen, Bourgeoisie und Arbeiterbewegung als Protagonisten sowie die auf kapitalistischer Produktivkraftentwicklung basierende Wohlstandsmehrung als materielle Voraussetzung der Durchsetzung von Menschenrechten benennen. Alle drei Voraussetzungen wurden zwar im Kampf um den Durchbruch zum Kapitalismus bzw. um dessen Ausgestaltung realisiert, dennoch setzt gerade der Kapitalismus der vollständigen Durchsetzung der Menschenrechte auch Grenzen in Umfang und Tiefe.

Dazu zählen: die einseitige Auslegung und Schwerpunktsetzung der Menschenrechte, wobei die Priorität auf den individuellen, politischen und Freiheitsrechten liegt; die Reversibilität der durchgesetzten Menschenrechte, deren Bestand an ein bestimmtes Kräfteverhältnis gebunden ist; die strukturell bedingte Ungleichheit in Bezug auf Macht und Ressourcen sowie der weitgehende Ausschluss der Wirtschaft aus dem realen Geltungsbereich von Menschenrechten.

Hinzu kommen neuartige Entwicklungen, die im Rahmen der neoliberalen Globalisierung gravierende negative Auswirkungen auf den Geltungsbereich von Menschenrechten haben. Zu nennen sind in erster Linie die Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen Staat und Kapital sowie zwischen Arbeit und Kapital zugunsten des global ausgreifenden und vor allem spekulativ ausgerichteten Finanzkapitals, die den Rechts- und Wohlfahrtsstaat aushebeln, die imperiale Hybris seitens der USA, die im eigenen Land die Grundrechte ihrer Bürger einschränken und sich außerhalb ihrer Grenzen nicht um Menschen- oder Völkerrecht scheren sowie die rasch zunehmende globale Ungleichheit als Ergebnis neoliberaler Dominanz.

Aus der historisch gegebenen Verklammerung von Menschenrechten und westlichem Kapitalismus ergeben sich zugleich zwei grundsätzliche Probleme für linke Politik:
a) Soll und kann die europäische Entwicklung in puncto Menschenrechten überhaupt wiederholt und damit universalisiert werden, wenn nicht nur die historischen Voraussetzungen fehlen, sondern im Zuge der neoliberalen Globalisierung zudem neue Belastungen und Hindernisse für ihre umfassende Durchsetzung entstehen?
b) Wie können die Grenzen des westlichen Verständnisses und der kapitalistischen Praxis bei der Umsetzung von Menschenrechten überwunden werden?

Beide Problemfelder implizieren die Möglichkeit und Notwendigkeit verschiedener Wege bei der Universalisierung von Menschenrechten. Neben der gleichrangigen Einbeziehung anderer kultureller, politischer und historischer Erfahrungen sowie der Berücksichtigung unterschiedlicher materieller und wirtschaftlicher Voraussetzungen kommt dabei der Bestimmung der Prioritäten bei der prozessualen Realisierung der Menschenrechte eine Schlüsselstellung zu.

In seinem Beitrag auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz vom 5. März 2005 geht Michael Brie, der sich darin über Menschenrechte und die Haltung zu Kuba äußert 3, ebenfalls von der schrittweisen Durchsetzung der Menschenrechte aus, wobei er den politischen Menschenrechten ein demokratisch wie sozialistisch begründetes Primat zuerkennt 4. Seiner Argumentation zufolge machen erst die politischen Rechte die sozialen und kulturellen Rechte zu solchen, andernfalls könne man bestenfalls von Gratifikationen und Zugeständnissen der Machthaber sprechen.

Diese Betrachtungsweise fordert in mehrfacher Hinsicht Widerspruch heraus. An dieser Stelle sollen zunächst Kriterien der Prioritätensetzung vorgestellt werden, die eine andere Primatbestimmung erlauben, um dann beim Thema Kuba die Berechtigung des Primats politischer Rechte und ihre Bedeutung für Sozialismus am konkreten Beispiel zu diskutieren.

Die funktionale Bedeutung politischer Menschenrechte ist zwar richtig und wichtig, aber nicht hinreichend für die Zuerkennung eines Primats gegenüber allen anderen Rechten. Folgende Gegenargumente lassen sich zur Untermauerung dieser These anführen:
Erstens ist die Prioritätensetzung bei der schrittweisen Durchsetzung von Menschenrechten vom jeweiligen Kontext abhängig. Dazu zählen Ressourcenausstattung, institutionelle Voraussetzungen, Interessen und Werte der gesellschaftlichen und politischen Akteure sowie die subjektive Situation der Menschenrechte einfordernden Gruppen und Individuen. Beispielsweise erfordert die Durchsetzung von Menschenrechten in einem von Staatszerfall bedrohten Land zuerst das Funktionieren elementarer politischer Institutionen und die Sicherstellung der Grundsicherung der Bevölkerung. Das Menschenrecht auf Leben, also die pure Existenzsicherung, steht hier an erster Stelle. In dieser Situation, die immerhin auf eine Reihe afrikanischer und einige asiatische Länder zutrifft, ist die Realisierung sozialer Menschenrechte z. B. durch internationale NGOs notwendig, ohne dass bereits politische Menschenrechte durchsetzbar sind. In anderen Fällen differiert die Prioritätensetzung je nach individueller oder gruppenspezifischer Lebenssituation. Ein in relativer materieller und physischer Sicherheit lebender Freiberufler räumt anderen Menschenrechten Priorität ein als ein in Armut lebender Bauer, der zudem vielleicht noch von Dürre oder Bürgerkrieg bedroht ist. Meist stehen jene Menschenrechte auf der politischen Tagesordnung, die noch nicht durchgesetzt sind oder die in einer bestimmten Situation besondere Dringlichkeit besitzen. Das Primat von politischen Rechten ist Kennzeichen der besonderen Entwicklung des westlichen Kapitalismus und kann, muss aber nicht, auch für andere historische oder regionale Entwicklungen Gültigkeit haben. Bei den Menschenrechten gibt es, wie auf anderen Feldern von Entwicklung auch, in der nichtwestlichen Welt eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zwar nehmen politische Rechte im funktionalen Sinne eine Schlüsselstellung ein, aus der sich aber noch kein Primat ableiten lässt, wie im nächsten Punkt zu zeigen sein wird.
Zweitens ist eine andere Typisierung der Menschenrechte möglich, die eine andere Prioritätensetzung (Primatbestimmung) impliziert. Diese ergibt sich aus zwei Grundprämissen: Elementare Voraussetzung gesellschaftlichen und damit auch politischen Handelns ist die Sicherung der Existenz des Menschen. In diesem Sinne hat das Menschenrecht auf Leben Priorität. Letztes Ziel aller Menschenrechte ist die Herstellung und Wahrung der Würde des Menschen, das unter diesem Aspekt das Primat besitzt.5 In Anlehnung an die zentrale Bedeutung von Ressourcengerechtigkeit für die gesamte Menschenrechtsproblematik, wie sie vom Wuppertal Institut begründet wird 6, lassen sich drei unverzichtbare Aspekte von Würde bestimmen: die individuelle physische Existenz, die Identität, was Selbstachtung und Anerkennung durch andere einschließt, und die Entfaltung von Individuum und Gesellschaft. Damit geht also das Primat der Existenzsicherung im Primat der dignitiven Norm- und Zielsetzung auf. Mit der rapiden Zunahme existenzieller Gefährdungen und Unsicherheiten von globaler Dimension (Weltrisikogesellschaft) erlangt auch der untrennbare Zusammenhang von Existenz(sicherung) und Würde eine zusätzliche Aufwertung, die auch und gerade für die Menschenrechte gilt. Die Zentralität von Würde verlangt zugleich nach einer grundsätzlichen Infragestellung des Neoliberalismus, der imperial und autoritär ist 7, im speziellen und des Kapitalismus im allgemeinen.
Zwischen existenziellen Menschenrechten (Existenzrechten 8), die das Recht auf Leben sicherstellen, und dignitiver Zielsetzung, die die normative Messlatte aller Menschenrechte darstellt, liegen die funktionalen und die ausgestaltenden Menschenrechte. Sie haben gegenüber Lebenssicherung und Würde, denen aus jeweils unterschiedlicher Sicht das Primat zukommt, dienende Funktion. In dieser Typisierung wären die politischen Rechte als funktionale Menschenrechte und Reisefreiheit als ausgestaltende Rechte anzusehen.
Drittens erfordert Freiheit als Kernforderung politischer Menschenrechte 9 selbst Voraussetzungen, die zwar in Europa vorhanden waren bzw. sind, aber im Rest der Welt weitgehend fehlen. Freiheit existiert nicht im luftleeren Raum, sondern ist im spannungsreichen Dreieck von Macht, Ressourcenzugang und Wissen verortet. Zugleich bilden die Freiheit der anderen und die sich aus Freiheitsrechten ergebenden Pflichten Grenzlinien der eigenen Freiheit. Diese darf nicht zum Schaden anderer oder gar schwächerer ausgeübt werden. Legt man diese Kriterien zugrunde, dann ist gerade die Bevölkerungsmehrheit im Süden durch ein mehrfaches Machtgefälle zugunsten des Nordens und der einheimischen Elite, die Vertiefung der sozialen Spaltung und den fehlenden Zugang zu Wissen und Bildung von grundlegenden Freiheitsrechten abgeschnitten. Ein armer, analphabetischer, marginalisierter, unorganisierter oder/und nicht über die notwendigen amtlichen Papiere verfügender Mensch, der aufgrund seines Migrantenstatus vielleicht noch völlig rechtlos ist, kann seine Freiheitsrechte nicht oder nur sehr begrenzt wahrnehmen. Deshalb sind der freie Zugang zu ausreichender Bildung, die Überwindung von Armut, die volle Anerkennung als Staatsbürger und das Vorhandensein ausreichender Infrastruktur elementare Voraussetzungen für die Ausübung politischer Rechte, womit das dann immer noch vorhandene Machtgefälle keineswegs ausgeglichen ist. In dieser Situation, die im Süden für die Mehrheit der Bevölkerung Normalfall ist, kehrt sich die Primatsetzung sogar um: soziale Rechte (Grundsicherung, Bildung) haben das Primat gegenüber politischen Rechten. Damit soll die Bedeutung von Freiheit und anderen politischen Rechten keineswegs geschmälert werden. Sie sind unabdingbarer Bestandteil von Gerechtigkeit und Würde und haben bei ausreichenden Voraussetzungen eine unverzichtbare funktionale Bedeutung für die Durchsetzung und Ausweitung anderer Menschenrechte. Diese Bedeutung reicht jedoch nicht hin, um ihnen das Primat innerhalb der Menschenrechte zuzusprechen.

Was bedeutet dies nun für linke Politik? Für erstrangig und zentral halte ich die Bekräftigung des über das linke Spektrum hinausgehenden Standpunktes, dass die Herstellung und Wahrung der Würde aller Menschen oberstes Ziel von Menschenrechtspolitik ist und dass die sich daraus ableitenden Menschenrechte ihrem grundsätzlichen Anspruch nach universell und unteilbar sind. Ausgehend davon besteht die Aufgabe linker Politik darin, die grundsätzlichen und konkreten Hindernisse für die Erreichung dieses Ziels zu benennen sowie Strategien vorzuschlagen, wie diese Hindernisse zu beseitigen oder zu überwinden sind. Spezifisch linkes Anliegen sollten dabei folgende Punkte sein:
Erstens sollte linke Politik den umfassenden, über das derzeit dominierende westliche Verständnis hinausgehenden Charakter der Menschenrechte immer wieder betonen, d. h. zum Kanon der Menschenrechte gehören politische Menschenrechte genauso wie soziale und ökonomische.
Zweitens sollte linke Politik die grundsätzlichen, systemimmanenten Hindernisse konkret benennen, die aus dem Kapitalismus resultieren und die verhindern, dass sich Menschenrechte universell, unteilbar und umfassend durchsetzen lassen. Würde und Selbstbestimmung für alle sind mit kapitalistisch bedingter Ausbeutung, Ausgrenzung und Fremdbestimmung prinzipiell unvereinbar.
Drittens sollte linke Politik im Ringen um die Durchsetzung der Menschenrechte im Kapitalismus eigene Prioritäten setzen, wobei exitenzielle Menschenrechte an oberster Stelle stehen sollten. Wenn im linken Selbstverständnis Menschenwürde und Selbstbestimmung Zielpunkt von Menschenrechtspolitik sind, dann impliziert dies natürlich, dass Bürger- und Freiheitsrechte unverzichtbarer Bestandteil dieser Politik sind. Die genannten Rechte sind in Ausübung und Umsetzung jedoch nicht abstrakt (kein Wert an sich), sondern darauf gerichtet, einen optimalen Beitrag zur Realisierung des obersten Ziels (Würde, Selbstbestimmung) und der obersten Priorität (Recht auf Leben) zu leisten.
Viertens sollte linker Menschenrechtspolitik immer die konkrete Analyse von Interessen, Kräfteverhältnissen, sozialer Lage und Gesellschaftsstrukturen zugrunde liegen.

In der politischen Praxis sind diese Prinzipien natürlich nicht eins zu eins umsetzbar, sie sollten aber ungeachtet dessen Richtschnur sein. Wie dies im konkreten Fall der EU-Resolution zu Kuba aussehen könnte, möchte ich deshalb im folgenden zu skizzieren versuchen.

Kuba: Revolution, Menschenrechte, Sozialismus
Jede realistische und sachliche Analyse und Bewertung der Situation auf und um Kuba hat von folgenden Prämissen auszugehen: Erstens ist Kuba ein Land des Südens bzw. der Dritten Welt; zweitens liegt das Land im Schatten der USA, die nicht nur unmittelbarer Nachbar sind, sondern deren imperiale Begehrlichkeiten spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts die größte Gefahr für eine eigenständige Entwicklung Kubas darstellen; drittens handelt es sich bei Kuba um eine (kleine) Insel im Belagerungszustand ohne Hinterland, mit wenigen natürlichen Ressourcen und ohne sicheren Schutz; viertens hat das kubanische Volk unter Führung einer linken Rebellenorganisation eine authentische und siegreiche Revolution (neben der mexikanischen Revolution von 1910 im 20. Jahrhundert die einzige auf dem lateinamerikanischen Subkontinent) durchgefochten, in deren Ergebnis erstmals in der kubanischen Geschichte das Selbstbestimmungsrecht des Volkes durchgesetzt und den entscheidenden Entwicklungshindernissen der konsequente Kampf angesagt wurde.10

Will man zu einer ehrlichen und ausgewogenen Einschätzung der Menschenrechtssituation gelangen, dann ist dies nur auf der Basis der vier oben angeführten Prämissen und über einen Vergleich möglich, der erstens die historischen Erfahrungen Kubas bis 1959 einbezieht und zweitens die konkreten Verhältnisse in Lateinamerika und im Süden berücksichtigt. Um diesen Vergleich abzurunden, kann dann auch der Bezug zu den Ländern des westlichen Kapitalismus hergestellt werden. Legt man im dritten Schritt noch die oben skizzierten Überlegungen zu Voraussetzungen, Grenzen und Prioritäten von Menschenrechten zugrunde, verfügt man über das geeignete Instrumentarium, um in der schwierigen, komplexen und kontrovers diskutierten Frage der Menschenrechte auf Kuba einer adäquaten Antwort nahezukommen.

Auf der Suche nach einer Antwort ist es sinnvoll, in zwei Schritten vorzugehen: Zunächst soll diskutiert werden, wie sich Kuba auf der Weltkarte der Menschenrechte einordnet, um anschließend der Frage nachzugehen, über welche Spielräume die kubanische Menschenrechtspolitik verfügt und durch welche Prioritäten sie charakterisiert wird.

Innerhalb des globalen Südens im allgemeinen und innerhalb Lateinamerikas im speziellen steht Kuba - gemessen an seinen ökonomischen Möglichkeiten und seinen politischen Spielräumen - bei der Durchsetzung sozialer und kultureller Menschenrechte (Recht auf Arbeit, Gesundheit und Bildung) an vorderster Stelle und leistet darüber hinaus durch die Entsendung von Ärzten, die kostenlose Ausbildung von Studenten aus anderen Ländern des Südens und durch unentgeltliche Katastrophenhilfe einen wichtigen Beitrag zu Verbesserung der Menschenrechte in anderen Ländern. Gewalt und krasse Armut, die insbesondere in Lateinamerika die wichtigste Quelle von Menschenrechtsverletzungen darstellen, sind in Kuba weitgehend ausgetrocknet. Gerade in der Demokratiefrage ist der Bezug zu den übrigen Ländern Lateinamerikas, die einerseits im westlichen Verständnis gemeinhin als demokratisch gelten, andererseits demselben regionalen Umfeld angehören und mit Kuba am ehesten vergleichbar sind, sinnvoll. Auch in diesem für die Menschenrechtssituation wichtigen Punkt schneidet Kuba relativ gut ab. Zum einen zeigt eine nach wissenschaftlichen Kriterien vorgenommene Analyse, dass es sich bei den meisten lateinamerikanischen Republiken bestenfalls um "defekte" Demokratien oder Regimehybride 11 handelt, in denen der Rechtsstaat kaum existent ist, autoritäre Enklaven existieren, sich Demokratie größtenteils auf den Wahlakt reduziert und das Wahlrecht wegen mangelnder Ressourcen von einem großen Teil der Bevölkerung nicht wahrgenommen werden kann. Zum anderen räumt Kuba seinen Bürgern in partizipatorischer Hinsicht mehr Rechte ein als jedes andere Land der Region.

Auch in Hinblick auf die kubanische Vergangenheit gibt es unter Kennern der damaligen Verhältnisse weitgehend Konsens darüber, dass die Menschenrechtssituation nach der Revolution eine wesentlich bessere ist als unter der Batistadiktatur. Zwar gab es vor 1959 auch temporäre Demokratisierungsversuche, die aber alle an der neokolonialen Realität gescheitert sind, wofür die USA den Hauptteil der Schuld tragen.

Im Vergleich mit dem kapitalistischen Westen sind folgernde Punkte zu berücksichtigen: Erstens verfügt der Westen über weitaus bessere materielle und institutionelle Möglichkeiten als Kuba. Demokratie und Menschenrechte haben dort eine lange historische Tradition und den Protagonisten der Durchsetzung dieser zivilisatorischen Errungenschaften - Bourgeoisie und Arbeiterbewegung - ist es nach oft schmerzhaften Erfahrungen und Rückschlägen gelungen, sich in harten Auseinandersetzungen auf Demokratie, Menschenrechte und Teilhabe am Wohlstand als gemeinsamen Nenner zu einigen.

Zweitens setzt Kuba aufgrund seiner historischen Erfahrungen und materiell- institutionellen Möglichkeiten die Prioritäten bei der Umsetzung von Menschenrechten anders. Die kubanische Revolution nimmt für sich das Recht in Anspruch, einen alternativen Typus von Demokratie - die partizipative Demokratie - institutionalisieren zu wollen.

Drittens werden infolge der neoliberalen Globalisierung in den westlichen Ländern Demokratie und Sozialstaat zunehmend ausgehöhlt, ausgehebelt und unterlaufen, so dass auch dort Demokratiedefizite, soziale Schieflagen und erste Desintegrationserscheinungen zu verzeichnen sind.

Im direkten Vergleich zwischen Kuba und dem Westen kann durchaus von einer gleichrangigen Umsetzung der Menschenrechte ausgegangen werden. In beiden Fällen sind die existenziellen Menschenrechte im wesentlichen gesichert, bei den funktionalen Menschenrechten legt der Westen den Schwerpunkt auf die individuellen Freiheitsrechte, die jedoch im Zuge der Terrorismusbekämpfung zunehmend eingeschränkt werden, während Kuba den sozialen Menschenrechten Priorität einräumt und dort vorbildliches geleistet hat.12 Die Defizite bei den ausgestaltenden Menschenrechten sind wohl bei Kuba größer, was jedoch bei Einbeziehung der Menschenrechte von Langzeitarbeitslosen, Migranten und "Untergetauchten" im Westen stark zugunsten Kubas relativiert wird. Summa summarum nimmt Kuba auf der Weltkarte der Menschenrechte einen vorderen Platz ein, der nur dadurch geschmälert wird, dass bei der Durchsetzung der politischen Freiheitsrechte deutliche Einschränkungen bestehen. Diese werden gerade von Angehörigen der Generation, die einerseits die Batistadiktatur und die Revolution nicht mehr aus eigenem Erleben kennt, andererseits aber die sozialen Menschenrechte in Kuba als "normal" ansieht, zunehmend thematisiert. Welche Dilemmata für alle Akteure, besonders aber für die kubanische Führung, in der Menschenrechtsfrage bestehen, soll im folgenden umrissen werden.

Für die Kubaner selbst ist von zentraler Bedeutung, dass ihre Revolution ein Akt der Selbstbestimmung war und ist, der ihre Würde als Nation und als ehemals Subalterne hergestellt hat. Die kubanische Revolution stellt die größte Errungenschaft in der Geschichte des kubanischen Volkes dar und verleiht dem politischen System Kubas seine Legitimität.

Diese Legitimität ist zuförderst revolutionärer Natur und unterscheidet sich damit sowohl von der demokratischen Legitimation westlicher Staaten als auch von der Legitimität der realsozialistischen Länder Osteuropas, die sich maßgeblich aus dem sowjetischen Sieg über Hitlerdeutschland ergab, zugleich aber durch die von Moskau ausgehende Fremdbestimmung untergraben wurde. Als antidiktatorische und antiimperialistische Volksrevolution waren der Sieg von 1959 und die nachfolgenden Transformationsprozesse eine spezifische Form der Ausübung von Volkssouveränität und können in dieser Hinsicht als eine originäre Form demokratischen Handelns des kubanischen Volkes betrachtet werden. Die daraus resultierende Hegemonie der Revolutionsführung um Fidel Castro hat selbst den immensen Belastungen der Existenzkrise standgehalten, die die kubanische Revolution 30 Jahre nach dem Sieg von 1959 durchlitt und die ihre hauptsächliche Ursache im plötzlichen Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa hatte. Obwohl Kuba mit einem Schlag seiner bisherigen Schutzmacht, die sowohl den Hauptanteil des überlebenswichtigen Erdöls lieferte als auch wichtigster Abnehmer des Hauptexportproduktes Zuckerrohr war, verlustig ging, verlor das Revolutionsregime nicht die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit, konnte entgegen allen Zusammenbruchsprognosen überleben und sich ab Mitte der 1990er Jahre wieder stabilisieren.

Ausgehend von dieser Bewertung der kubanischen Revolution können sowohl der sozialistische Charakter der Revolution, die Spielräume der kubanischen Menschenrechtspolitik als auch die Bedeutung Kubas für linke Politik angemessen diskutiert werden.

M. Brie spricht in seinem vorn erwähnten Beitrag Kuba (der Revolution oder dem Regime?) den sozialistischen Charakter wegen des Mangels an Demokratie ab. Dieses Verdikt ist m. E. aus drei Gründen nicht gerechtfertigt: erstens lässt sich das Revolutionsregime aufgrund der oben angeführten Argumente nicht einfach als "antidemokratisch" abqualifizieren; zweitens gehören Sozialismus und Demokratie letztlich zusammen, der Weg dorthin kann aber gerade unter den Bedingungen, unter denen sich die kubanische Revolution zu bewähren hat, lang und widersprüchlich sein (Sozialismus wird ja auch im Programm der Linkspartei in der Dreieinigkeit von Idee, Bewegung und Ziel definiert); drittens ist Demokratie nicht das einzige oder allein entscheidende Kriterium für Sozialismus (Brechung der Profitdominanz und darauf zielende Veränderungen der Gesellschaftsstruktur sind gleichrangige Kriterien).

Für die Bewertung des sozialistischen Charakters der kubanischen Revolution gibt es neben den zuvor genannten Pro-Argumenten auch einschränkende Faktoren, die zugleich den Spielraum der kubanischen Menschenrechtspolitik mitbestimmen.

Erstens stellt der berechtigte Anspruch Kubas, eine alternative Gesellschaft, den Sozialismus, allein auf sich gestellt aufbauen zu wollen, einen Widerspruch in sich dar. Zweitens ist Kuba gezwungen, dies in einem extrem feindlichen Umfeld, mit geringen Ressourcen und einem hohen Maß an Verwundbarkeit zu versuchen. Im einzelnen wirkt sich das Zusammenwirken von US-Blockade, permanenter Invasionsgefahr, ökonomischer Verwundbarkeit (Zuckerrohr als anfällige Monokultur, Ölabhängigkeit, Insellage), Instrumentalisierung der Menschenrechtsfrage durch die westlichen Industrieländer, Dritte-Welt-Status und Nähe zu den USA äußerst ungünstig sowohl auf die Realisierung der Menschenrechte als auch auf die Umsetzung des sozialistischen Anspruchs aus. Ein dritter Faktor, der in erster Linie bei der Menschenrechtspolitik negativ zu Buche schlägt, aber auch die Realisierbarkeit des sozialistischen Anspruchs beeinflusst, ist der Umstand, dass die Regierung beim Umgang mit der Opposition vor einem schwerwiegenden Dilemma steht, was aber zugleich auch umgekehrt gilt. Das Dilemma beider Seiten liegt darin begründet, dass sich das Land de facto im Ausnahme- und Belagerungszustand befindet und sich jeder Oppositionsversuch der Gefahr einer Instrumentalisierung durch die USA ausgesetzt sieht. Die Opposition hat in dieser Situation schwerwiegende Legitimierungsprobleme und muss sich glaubwürdig von den USA und dem Exil in Miami abgrenzen, was ihr aber angesichts der objektiv sehr großen Instrumentalisierungsgefahr nur selten gelingt. Umgekehrt liegt für die Regierung genau in der jederzeit drohenden Instrumentalisierung ein unkalkulierbares Risiko, dem sie zumeist durch präventive Verbotsmaßnahmen und Festnahmen zu begegnen sucht. Massives Misstrauen auf beiden Seiten, Schwankungen in der Haltung der Regierung gegenüber der Opposition und ernsthafte Glaubwürdigkeitsprobleme seitens der Opposition sind die unvermeidliche Folge. Verschärft wird die Situation noch durch die intransigente Haltung des Exils in Miami, das unverhohlen mit Revanche und Restauration droht, und durch die Verschärfung der Anti-Kuba-Politik der USA, die schon unter Clinton begonnen hatte und von Bush II weiter forciert wurde. Nicht zuletzt der Verlauf der Rekapitalisierung in Osteuropa bestätigt die schlimmsten Befürchtungen der kubanischen Führung.

Alle beteiligten Akteure - die kubanische Regierung, das kubanische Volk, die kubanische Opposition, die Linken außerhalb Kubas, aber auch die äußeren Feinde der kubanischen Revolution - stehen vor jeweils anderen Dilemmata, die sie nur durch eine Kosten-Risiko-Nutzen-Abwägung zur Bestimmung des kleineren Übels für sich auflösen können. Dabei steht jeder dieser Akteure in Bezug auf die anderen und für sich vor der Aufgabe, die Prioritäten richtig zu setzen.

Die Bedeutung Kubas für linke Politik kann man wie folgt umreißen:
Erstens stellt Kuba aus historischer Sicht einen Restposten des sozialistischen Lagers dar, der trotz extrem ungünstiger Bedingungen überlebt und an seiner antikapitalistischen Orientierung festgehalten hat. Kuba belegt, dass die Implosion des Sozialismus nicht zwangsläufig war.
Zweitens besteht die aktuelle Bedeutung Kubas darin, dass es schon allein durch seine Existenz den Spielraum für alternative Entwicklung in Lateinamerika erweitert.
Drittens besteht seine in die Zukunft reichende Bedeutung darin, dass es zwar nicht mehr Modell ist, aber dennoch ein wichtiger Aktivposten im Kampf gegen die neoliberale Globalisierung ist. Kuba ist der lebendige Beweis, dass Alternativen selbst im peripheren "Hinterhof" trotz neoliberaler Hegemonie und imperialer Politik seitens der einzigen Weltmacht USA möglich sind. Auf der Suche nach antikapitalistischen Alternativen hat Kuba in freier Entscheidung und unter schwierigen Bedingungen einen originären Weg beschritten, auf dem sich ein embryonaler Sozialismus ausgeformt hat, dessen wichtigste Errungenschaft die Sicherung sozialer Menschenrechte ist und der sich machtpolitisch in einer sich von westlichen Vorgaben abgrenzenden partizipativen Demokratie manifestiert. Die Anerkennung der bisherigen Ergebnisse des spezifisch kubanischen Weges zum Sozialismus impliziert zugleich zwei Einschränkungen: Der weitere Weg ist noch lang und das bisher Erreichte noch keineswegs gesichert. Es bleibt zu hoffen, dass die kubanische Revolution wie bisher aus ihren negativen wie positiven Erfahrungen lernen wird und fest genug verwurzelt ist, künftige Gefährdungen zu überstehen. Als äußerer Faktor sind dabei die Beziehungen zu den übrigen Ländern Lateinamerikas entscheidend. Die jüngste Linksentwicklung auf dem Halbkontinent, die Kuba aus der Isolierung der 1990er Jahre herausgeholt hat, gibt Anlass zur Hoffnung.13

Peter Gärtner, Jg. 1957, Dr. phil. habil., Politikwissenschaftler, Leipzig; Arbeits- und Forschungsgebiete: Nord-Süd-Beziehungen, Demokratisierung, Entwicklungstheorie- und -politik, Staatlichkeit und Globalisierung, regionaler Schwerpunkt: Lateinamerika.

1 Zum Text der EPResolution vgl. http://www.europarl.eu.int/omk/sipade3?TYPE-DOC=TA&REF=P6-TA-2006-0042&MODE=SIP&L=DE&LSTDOC=N.

2 Zur den Argumenten der Resolutionsbefürworter und der beiden Abgeordneten, die sich der Stimme enthalten haben, vgl. www.sylvia-yvonne-kaufmann.de/presse/pe/200602091600.html sowie die Erklärung von André Brie vom 15. 2. 2006. Zur Haltung und zu den Argumenten der Kritiker vgl. Interview mit Tobias Pflüger in: junge welt, 10. 2. 2006 sowie "Resolution aus Kuba" vom 10. 2. 2006 unter: http://linkszeitung.de. Die Meinung des Vorsitzenden der Linkspartei, Lothar Bisky, kann man im ND v. 4. 4. 2006 nachlesen. Zur Diskussion über Grundsatzfragen in Zusammenhang mit der Debatte über die EP-Resolution vgl. die Beiträge von Michael Brie und Uwe-Jens Heuer in: junge Welt v. 4. und 5. April 2006. Der Text von M. Brie findet sich auch auf der Homepage der RLS. Diese Version wird im folgenden als Quelle verwendet.

3 Vgl. Michael Brie: Was hätte Rosa gesagt? Beitrag auf der Rosa-Luxemburg- Konferenz der RSL, 5. März 2006, S. 5 der PDF-Version unter: www.rosalux.de/cms/index.php?id=11218.

4 Vgl. ebenda, S. 6.

5 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als auch die aufständischen Zapatisten in Chiapas (Mexiko), die sich hauptsächlich aus Indígenas zusammensetzen, der Wahrung bzw. Durchsetzung der Würde des Menschen oberste Priorität einräumen. Zur Position der Zapatisten vgl. Luz Kerkeling: La lucha sigue! Der Kampf geht weiter, Unrast-Verlag, Münster 2006, S. 276 f.

6 Vgl. Wuppertal Institut (Hrsg.): Fair Future. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit, Bonn 2006, S. 133.

7 So auch die Einschätzung von M. Brie, vgl. Derselbe: a. a. O., S. 1.

8 Den Begriff "Existenzrechte " verwendet das Wuppertal Institut in seiner Studie, vgl. Wuppertal Institut, a.a.O., S. 136 ff.

9 Zugleich wird Freiheit meist, so auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 in Artikel 1 ("Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.") und Artikel 3 ("Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person."), als Bestandteil einer Gesamtheit gleichwertiger Menschenrechte (Gleichheit, Leben, Sicherheit) verstanden. Selbst in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, in der erstmals allgemeine Menschenrechte postuliert wurden, wird zunächst als Grundbedingung die Rechtsgleichheit aller Menschen vor Gott deklariert. Unter den dort genannten fundamentalen Menschenrechten ist Freiheit ebenfalls mit Leben und dem Streben nach Wohlstand gleichgestellt. Gerade die USA sind zugleich ein Beispiel, wie weit Anspruch und Realität von Menschenrechten auseinanderklaffen können, denkt man nur an das Schicksal der indianischen Urbevölkerung und der Afroamerikaner, die zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung als minderwertig angesehen, von Ausrottung durch die weißen Siedler bedroht waren (Indianer) oder als Sklaven gehalten wurden (Afroamerikaner). Zu den angeführten Dokumenten vgl. Office of High Commissioner of Human Rights (1948), Resoution 217 (III) sowie Wikipedia (http://de.wikipedia.org).

10 Vgl. zur kubanischen Revolution, ihrer historischen Einordnung und ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart besonders Michael Zeuske: Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert, Zürich 2004 sowie Derselbe: Kleine Geschichte Kubas. München 2000. M. E. handelt es sich in der Summe beider um die kenntnisreichste Darstellung der kubanischen Geschichte. Vgl. dazu auch meine Rezensionen unter: www.quetzal-leipzig.de

11 Zur Konzeption der "defekten" Demokratie vgl. Wolfgang Merkel et al.: Defekte Demokratie, Band 1: Theorie, Opladen 2003; zur Konzeption hybrider Regimes vgl. Heidrun Zinecker: Regime-Hybridität in Entwicklungsländern, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 11 (2004) 2, S. 239-272. Zur Demokratieproblematik als universelles Problem im allgemeinen und zur Typologisierung der politischen Regimes in Lateinamerika im speziellen vgl. Peter Gärtner: Demokratie - Ausnahme oder Regel? Zentralamerikanische Antworten auf ein universelles Problem, Teil 1-3, in: Berichte der IWVWW, April-Juni 2005, bes. S. 75-82 im Juni-Heft.

12 An dieser Stelle sei nochmals auf das Argument von M. Brie eingegangen, dass soziale Menschenrechte beim Fehlen politischer Rechte lediglich Gratifikationen der Herrschenden seien. Sollte dies auch auf Kuba gemünzt sein, was vom Kontext her nahe liegt, so sei folgender grundsätzlicher Einwand angeführt: Die sozialen Menschenrechte sind dem kubanischen Volk nicht von oben geschenkt worden, sondern sie sind von ihm selbst in einem opferreichen Kampf erstritten worden. Ohne die Revolution, die wie gesagt ein originärer Akt der Selbstbestimmung des Volkes war, gäbe es sie auf diesem hohen Niveau überhaupt nicht. Zudem kann im Falle des revolutionären Kubas auch nicht vom völligen Fehlen politischer Freiheit die Rede sein. Immerhin hat sich das kubanische Volk von zahlreichen Fesseln befreit: von der Batistadiktatur, von der neokolonialen Dominanz der USA, von der Mafia, von einer korrupten und arroganten Oberschicht etc. Es hat sich damit bestimmte Freiheiten (nicht alle) erkämpft. Außerdem kann man von einem kleinen Land im Belagerungszustand, das sich in einem Jahrzehnte dauernden Krieg mit der einzigen globalen Supermacht befindet (so auch M. Brie, a. a. O., S. 7), kaum ernsthaft erwarten, dass es ein Hort politischer Freiheit ist. Sollten die USA ihren Krieg gegen Kuba einstellen, dann steht auch die Freiheitsfrage in Kuba neu, weil erst dann das kubanische Volk frei entscheiden kann und wird. Von einer "dauerhafte(n) strukturelle(n) Außerkraftsetzung aller wesentlichen politischen Freiheitsrechte" (Michael Brie, a. a. O., S. 8) würde ich aus all diesen Gründen nicht sprechen. Wohl gibt es nach wie vor ein Machtungleichgewicht innerhalb Kubas, aber das gilt für alle Gesellschaften, solange es den Unterschied zwischen Regierten und Regierenden oder arm und reich gibt. Die Breiten- und Tiefenwirkung der kubanischen Volksrevolution ist zugleich der gravierende Unterschied gegenüber den ehemals "sozialistischen" Ländern Osteuropas einschließlich der DDR, weshalb ich auch der Auffassung von M. Brie, dass es "keinen grundsätzlichen Unterschied" (a. a. O., S. 7) gebe, nicht zustimmen kann.

13 Vgl. dazu besonders die kürzlich publizierten Artkel von Albert Sterr in: iz3w, Nr. 292, April-Mai 2002 sowie in: ak - analyse & kritik, Nr. 506, 19. 5. 2006. Dort ist auch weiterführende Literatur angegeben.

in: UTOPIE kreativ, H. 192 (Oktober 2006), S. 940-949

 

aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay HELMUT BOCK: Altpreußens Götterdämmerung. Tragikomische Impressionen; Hannah Arendt 100 HANNAH ARENDT: Rosa Luxemburg. 1871-1919; TANJA STORLØKKEN: Frauen in finsteren Zeiten. Rosa Luxemburg und Hannah Arendt; Gesellschaft - Analysen & Alternativen JOACHIM TESCH: Soziale Aspekte des Stadtumbaus; DDR historisch RONALD LÖTZSCH: Die SED-beherrschte DDR. Ein Arbeiter-und-Bauern-Staat, frei von Ausbeutung? Standorte ISABEL ERDEM: Anti-deutsche Linke oder anti-linke Deutsche? Eine sachliche Betrachtung; PETER GÄRTNER: Menschenrechte, Kuba und linke Politik; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Andreas Diers: Arbeiterbewegung - Demokratie - Staat. Wolfgang Abendroth. Leben und Werk 1906-1948 (MARCEL BOIS) Andrea Griesebner: Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung (BERND HÜTTNER) Werner Rätz, Dagmar Paternoga, Werner Steinbach: Grundeinkommen: bedingungslos (ARNDT HOPFMANN) Andrès Solimano (Hrsg.): Vanishing Growth in Latin America. The Late Twentieth Century Experience (JÖRG ROESLER) Summaries