Gesundheitsreform 2006 - ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit?

Die Entscheidung für eine Stärkung der sozialen Gerechtigkeit im deutschen Gesundheitssystem ist - wieder einmal - vertagt worden.

Im Sommer 2003 legte die sog. Rürup-Kommission ihren Bericht zur Reform der Finanzierung der Sozialen Sicherungssystem vor. In Ermangelung eines Konsenses mündeten die Vorschläge zur Reform der Krankenversicherung in dem bekannten "Y-Modell", welches der Politik nahe legte, sich entweder für eine Bürgerversicherung oder eine Kopfpauschale zu entscheiden. Drei Jahre danach nun hat sich die Bundesregierung der großen Koalition aus CDU, CSU und SPD vorgenommen, eine Finanzierungsreform auf den Weg zu bringen. Das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV (GKV-WSG) zielt auf viele gesundheitspolitisch wichtige Steuerungsprobleme. Wir wollen uns hier jedoch auf die Finanzierungsseite beschränken. Ist die Gesundheitsreform 2006 ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit?

Gesundheitsfonds: Erosion des Solidaritätsprinzips

Ab dem 1. Januar 2009 soll ein Gesundheitsfonds die Finanzströme der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bündeln. Die Sozialversicherungsbeiträge (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag) und der allein vom Arbeitnehmer zu tragende Sonderbeitrag, werden von den Krankenkassen eingezogen und an den Fonds weitergeleitet. Ihre Höhe wird bundesweit durch eine Rechtsverordnung bestimmt - analog dem Verfahren in der Renten- und Pflegeversicherung.
Im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise werden die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds zukünftig nur noch einen einheitlichen Pauschalbetrag für jeden Versicherten bekommen. Dieser soll durch eine Erneuerung des Risikostrukturausgleichs die unterschiedlichen Versichertenstrukturen zwischen den Krankenkassen nach den Merkmalen Alter, Geschlecht und bestimmten Krankheitsmerkmalen ausgleichen. So werden Krankenkassen, die einen höheren Anteil chronisch Kranker und damit "teuere" Versicherte aufweisen, einen höheren Betrag aus dem Gesundheitsfonds bekommen.
Erwirtschaftet eine Krankenkasse einen Überschuss, so kann sie diesen in Form eines Geldbetrages an ihre Versicherten ausschütten oder zusätzliche Leistung gewähren. Übersteigen die Ausgaben hingegen die Einnahmen einer Krankenkasse aus dem Gesundheitsfonds, so muss eine Kasse einen Zusatzbeitrag von den Versicherten erheben oder Satzungsleistungen streichen. Diesen Zusatzbeitrag kann die Krankenkasse entweder in prozentualer Abhängigkeit vom Einkommen oder auch als einkommensunabhängige Pauschale erheben, letzteres ist eine Art "kleine" Kopfpauschale.
Neben den Sozialversicherungsbeiträgen soll ab 2008 ein aus dem Bundeshaushalt aufzubringender Steuerzuschuss von anfänglich 1,5 Milliarden EUR in den Fonds eingezahlt werden. Die Mittel des Fonds sollen zu seinem Startzeitpunkt die Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zu 100 Prozent decken. Danach müssen sich die Ausgaben zu mindestens 95 Prozent aus dem Gesundheitsfonds finanzieren, was umgekehrt betrachtet bedeutet, dass die Zusatzbeiträge der Versicherten auf bis zu fünf Prozent der GKV-Ausgaben ansteigen können. Die Erhöhung des Anteils der Zusatzbeiträge an den GKV-Ausgaben ist in Zukunft daher per Gesetz möglich. Die kleine Kopfpauschale kann schnell zur großen werden.
Der beschlossene Gesundheitsfonds dürfte die Verwirklichung des Solidaritätsprinzips in der GKV (weiter) schwächen. Einkommensschwache Haushalte werden durch den Zusatzbeitrag potenziell am stärksten belastet. Die Höhe dieses zusätzlichen Beitrages ist zwar auf ein Prozent des Bruttoeinkommens begrenzt, es kann jedoch ein pauschaler Zusatzbeitrag in Höhe von bis zu acht Euro erhoben werden. Für die Empfänger von Sozialhilfe oder Grundsicherung in der Rente übernimmt der Träger diesen Zusatzbeitrag, für Empfänger von Arbeitslosengeld II übernimmt der Bund den Zusatzbeitrag für die Dauer der Kündigungsfrist. Die Vermeidung der zusätzlichen Belastung durch den kassenindividuellen Zusatzbeitrag für ALG II-Empfänger hängt davon ab, ob sie über die entsprechenden Informationen verfügen können und ob es Kassen gibt, die keinen Zusatzbeitrag erheben. Bei Einkommen von weniger als 800 Euro kann die Belastung mit einem pauschalen Zusatzbeitrag schnell über 1 Prozent des Einkommens liegen, reguläre Zuzahlungen sind hierbei noch gar nicht eingerechnet.
Da nur ein Teil des sog. Morbiditätsrisikos zwischen den Krankenkassen umverteilt werden soll, besteht für solche Kassen, die eine Versichertenstruktur mit einem großen Anteil an chronisch Erkrankten aufweisen, weiterhin das Risiko, dass sie im Wettbewerb um Versicherte zunehmend junge, gesunde und (relativ) wohlhabende Versicherte verlieren, wenn es ihnen nicht gelingt, die Höhe des Zusatzbeitrages zu begrenzen. Ob der entstehende finanzielle Druck dahingehend wirkt, eine effizientere Versorgung zu organisieren, freiwillige Satzungsleistungen zurückzunehmen oder betroffene Kassen in den finanziellen Kollaps und damit in den Konkurs mit anschließender Fusion zu zwingen, bleibt offen. "Kassensterben" ist zwar politisch gewollt, führt jedoch für die betroffenen Versicherten wiederum zu erheblichen Verunsicherungen. Denn es werden vor allem Versicherte mit einem "schlechteren Risiko", d.h. kranke Versicherte sein, welche bei einer Kasse mit Finanzierungsengpässen verbleiben.
Die geplante Erhöhung des Steuerzuschusses an die Gesetzliche Krankenversicherung schließlich wird zwar vor allem aus der Einkommens- und Mehrwertsteuer aufgebracht, die auch höhere Einkommen betrifft. Aber der Einbezug der Privaten Krankenversicherung (PKV) würde die solidarische Umverteilung innerhalb der GKV nachhaltiger machen, weil sich sowohl höhere Einkommensklassen der Zahlung ihres Beitrages nicht durch Steuervermeidung entziehen können und die Finanzierungsmittel nicht direkt von haushaltspolitischen Kalkülen abhängig wären. Daher ist es nicht einzusehen, warum die PKV nicht in die Finanzierung des Gesundheitsfonds einbezogen wird.
Die Trennlinie zwischen GKV und PKV bleibt
Das deutsche Finanzierungssystem, in dem die Gesetzliche und die Private Krankenvollversicherung nebeneinander existieren, räumt den Privatversicherungen große Privilegien ein. Im Vergleich der (alten) EU-Mitglieder gibt es kein anderes Land, in dem private Krankenversicherer ohne Kontrahierungszwang ihre (Voll-)Versicherten aussuchen können, und in dem die PKV-Unternehmen gleichzeitig weitgehend vor dem Wettbewerb untereinander geschützt sind. Ergebnis ist das schon oft kritisierte Zwei-Klassen-Versicherungssystem, in dem sich Beamte, Selbständige und Gutverdiener der solidarischen Finanzierung des Gesundheitssystems entziehen können. Gleichzeitig besitzt die PKV die Möglichkeit, sich die "guten Risiken" auszusuchen, d.h. junge, gesunde und besserverdienende Versicherte ("Rosinenpicken"), während (chronisch) Kranke und Geringverdiener der GKV zugewiesen werden. Diese Gerechtigkeitslücke im Finanzierungsmodus ließe sich nur durch eine Integration aller Versicherten in ein einheitliches, solidarisch gestaltetes System schließen, wie dies z.B. im Konzept der Bürgerversicherung vorgesehen ist.
Das GKV-WSG wird dieser Forderung allerdings nicht gerecht. Es bleibt bei der Trennung von GKV und PKV. Allerdings werden die Bedingungen der Tarifgestaltung der PKV modifiziert. Die privaten Versicherungen sollen künftig dazu verpflichtet werden, einen Basistarif anzubieten, dessen Leistungsumfang dem der GKV entspricht. Eine individuelle Risikoprüfung des Gesundheitszustands der Versicherten ist in diesem Tarif nicht gestattet (Kontrahierungszwang). Die Prämien können jedoch weiterhin nach Alter und Geschlecht des/der Versicherten differenziert werden. Der Beitrag für den Basistarif, der für alle freiwillig in der GKV Versicherten geöffnet wird, darf den Höchstbetrag des GKV-Beitrages (derzeit etwa 500 Euro) nicht überschreiten. Bei finanzieller Überforderung des Versicherten soll der Tarif reduziert und ein staatlicher Zuschuss gewährt werden.
Neu ist auch, dass die PKV-Versicherten bei einem Versicherungswechsel zu einer anderen Privatversicherung künftig einen Großteil ihrer Altersrückstellungen mitnehmen. Die bislang fehlende Portabilität verhinderte den Wettbewerb der Unternehmen um bereits in der PKV Versicherte weitgehend. Die PKV konzentrierte ihre Bemühungen in der Vergangenheit daher weitgehend auf die Erstversicherung.
Die Annäherung des PKV-Basistarifs an die Versorgungsprinzipien der GKV soll den Wettbewerb zwischen den beiden Systemen verstärken. Gleichzeitig wird die Tarifgestaltung der GKV um privatwirtschaftliche Kalkulationsprinzipien erweitert. Künftig wird allen GKV-Versicherten die Option eingeräumt, einen Selbstbehalttarif zu wählen. Dies konnten bislang nur freiwillig Versicherte. Die Möglichkeit, die Behandlungskosten bis zu einer bestimmten Höhe selbst zu tragen, und dafür einen Beitragsnachlass zu erhalten, ist insbesondere für junge und gesunde Versicherte finanziell attraktiv. Diese können davon ausgehen, dass ihr Beitragsnachlass höher ausfällt als der tatsächlich zu zahlende Selbstbehalt. Die solidarische Umverteilung finanzieller Lasten zwischen gesunden und kranken Versicherten im GKV-System wird durch diese tarifliche Gestaltungsoption eingeschränkt.
Vertreter der PKV kritisieren den Gesetzentwurf als unzumutbaren Eingriff in ihre Geschäftsgrundlagen. Allerdings gehen die Neuerungen im Wesentlichen nicht über das hinaus, was die PKV selbst im Jahr 2005 angeboten hatte. Und sie sind weit davon entfernt, die PKV umfassend in die solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems einzubeziehen. Zwar wird der Wechsel von der GKV in die PKV für abhängig Beschäftigte mit einem Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze etwas erschwert, da die Grenze künftig an drei aufeinander folgenden Jahren überschritten werden muss. Dies entspricht jedoch in keiner Weise der im Konzept der Bürgerversicherung vorgesehenen Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze. Darüber hinaus wurde kein Konsens über einen Finanztransfer von der PKV zur GKV erzielt.
Ein Kritikpunkt der PKV am Gesetzentwurf macht jedoch tatsächlich auf ein gravierendes Defizit aufmerksam. Die PKV befürchtet ein "Vorteilshopping" von potenziellen Versicherten im Basistarif, die solange im Zustand der Nicht-Versicherung verbleiben, bis sich ein Behandlungsbedarf abzeichnet, um dann in den Basistarif zurückzukehren. Das Problem liegt allerdings nicht im Basistarif selbst begründet, sondern im Fehlen einer allgemeinen Versicherungspflicht für die gesamte Bevölkerung. Damit würde nicht nur ein "Vorteilshopping" verhindert, sondern auch das Problem der Nichtversicherung aufgrund finanzieller Notlagen gelöst. Die Zahl der Personen ohne Krankenversicherungsschutz in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich angestiegen. Voraussetzung für eine allgemeine Versicherungspflicht wäre allerdings ein einheitliches Versicherungssystem.
Bürgerversicherung, Kopfpauschale und soziale Gerechtigkeit
Während die Rürup-Kommission die endgültige Entscheidung an die Politik weiterleitete, entschied sich die Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD für den kleinsten gemeinsamen Nenner. Der späte Start des Gesundheitsfonds zum 01.01.2009 hat nicht nur rein technischen Charakter. Vielmehr konnten sich die Befürworter von Bürgerversicherung (SPD) und solidarischer Gesundheitsprämie (CDU/CSU) nicht auf ein einheitliches Modell einigen. Mit dem Gesundheitsfonds ist lediglich eine institutionelle Basis geschaffen worden, um später eine Bürgerversicherung oder ein Kopfpauschalensystem (mit oder ohne Einbezug der PKV) einführen zu können. Das hängt von den kommenden politischen Kräfteverhältnissen ab. Herausgekommen ist daher ein institutionelles Patt (Gesundheitsfonds, PKV-Beibehaltung), mit Schieflage zum Kopfpauschalenmodell ("kleine Kopfpauschale"). Die Entscheidung für eine Stärkung der sozialen Gerechtigkeit im deutschen Gesundheitssystem ist - wieder einmal - vertagt worden.