Für eine modere Politik gegen soziale Ausgrenzung

Die so genannte Unterschichten-Debatte hat die SPD und noch vielmehr die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Was eigentlich keine Neuigkeit darstellte, ist für die Berliner Politszene offenbar Neuland.

Die so genannte Unterschichten-Debatte hat die SPD und noch vielmehr die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Was für den interessierten Beobachter keine Neuigkeit darstellte, ist für die Berliner Politszene offenbar Neuland. Die Studie "Gesellschaft im Reformprozess" der Friedrich-Ebert-Stiftung hat eine gesellschaftliche Wirklichkeit zutage kommen lassen, die für Sozialdemokraten aus dreierlei Sicht besorgniserregend ist. So ist erstens die Unsicherheit in der Bevölkerung und die individuelle Angst vor sozialem Abstieg ein Massenphänomen geworden. Dies ist der Nährboden für eine zunehmende Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und einer Entfremdung von der Demokratie. Zweitens offenbart die Studie, dass die SPD immer weniger das untere Drittel der Bevölkerung erreicht und damit eine wichtige strategische Wählerressource ins politische Abseits entlassen hat. Drittens verdeutlicht die Studie den Bedarf einer neuen sozialstaatlichen Perspektive, die auf die Abwehr sozialer Ausgrenzung ebenso setzt wie die Sicherheit in einer veränderten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Antworten statt folgenloser Unterschichten-Debatten sind gefragt
Laut der FES-Studie machen 63 Prozent der Bevölkerung die gesellschaftlichen Veränderungen Angst, 46 Prozent empfinden ihr Leben als ständigen Kampf und knapp 50 Prozent befürchten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können. Mittlerweile sehen sich 14 Prozent der Befragten, in jeglicher Hinsicht als Verlierer und gesellschaftlich ins Abseits abgeschoben.
Auf der anderen Seite derselben Medaille erwarten aber auch 13 Prozent der deutschen Bevölkerung ein Erbe, das ihnen ein abgesichertes Leben ermöglicht und knapp 40 Prozent gehen davon aus, dass sie in finanziellen Notlagen durch ihre Familie abgesichert sind. Nicht erst seit dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht wissen wir, dass die Schere zwischen Arm und Reich, die Ungleichheit in der Gesellschaft zugenommen hat. Leider ist die politische Debatte über die notwendigen Folgen von Schuldzuweisungen statt von Lösungskonzepten geprägt. Die Ursachen diese Entwicklung sind vielfältig. Sie der Regierung Schröder zuzuweisen ist unreflektiert und falsch. Wohl aber zeigen die Ergebnisse, dass es sozialstaatlicher Politik in all den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, Armut abzubauen, Potenziale für inklusive Strategien zu entfalten sowie die Anforderungen an Flexibilität und Sicherheit zu erfüllen. Folgerichtig führen zwei Lager in der SPD einen Phantomkonflikt um die Deutungshoheit über die Zukunft des Sozialstaats. Beide sind sie in ihrer Einseitigkeit schief beladen und würden den Tanker SPD notwendigerweise zum Sinken bringen.
"Politik zwischen "Agendisten" und "Retros"
Das erste Lager orientiert sich - rhetorisch und modernistisch hoch aufgeladen - an den New-Labour-Ideen der auslaufenden 90er Jahre des letzten Jahrtausends. Wir nennen sie die "Agendisten". Die "Agendisten" setzen auf die Bildungspolitik als alleinigen Motor sozialer Inklusion und als Schlüssel zur Bekämpfung von Ausgrenzung und Armut. Da die Unternehmen sich im globalen Wettbewerb befinden, sei eine Regulation der Wirtschaftsweise und der Produktionsbedingungen ebenso wie eine gerechte Verteilung des Vermögens außerhalb des politischen Entscheidungsraums angelangt. Der Wandel der Arbeitswelt ist in dieser Sicht nicht aufzuhalten und von der Politik nicht mehr gestaltbar. In diesem Zusammenhang wird der Sozialstaat auf seine Funktion der Chancengerechtigkeit reduziert. Umverteilung wird als unrealistisch betrachtet. Allein die Befähigung der Menschen den Wandel individuell zu verarbeiten, steht im Mittelpunkt einer solchen Sichtweise. Die "Agendisten" stellen darüber hinaus immer wieder als unumstößliche Tatsache in den Raum, dass der Sozialstaat in heutigem Umfang nicht mehr finanzierbar sei. Eine Begründung erfolgt mit Verweis auf die demografische Entwicklung. Trotz unbestrittener Veränderungsnotwendigkeiten insbesondere hin zu einer ergänzenden Steuerfinanzierung der beitragsbasierten Sozialsysteme in Deutschland ist die Finanzierung sozialer Leistungen immer eine ökonomischen und verteilungspolitische Frage, die gestaltbar ist. Ein kurzer Blick auf die Situation in Europa bestätigt: Deutschland liegt mit seiner Steuer- und Abgabenquote im unteren Drittel der EU-Staaten. Mit einer solchen Quote wird der Sozialstaat aber mittelfristig in der Tat nicht zu finanzieren sein, besonders nicht, wenn wir neue Anforderung an die soziale Sicherung beispielsweise in Bezug auf die Kinderbetreuung formulieren.
Das andere sozialdemokratische Lager begreift sozialstaatliche Politik als Addition von Geld- und Transferströmen. Wir nennen sie die "Retros". Als klassische Sozialpolitik sollen die Sozialversicherungssysteme erhalten und gegen Widerstände in und außerhalb der Partei verteidigt werden. Politik gegen soziale Ausgrenzung wird auf Verteilungsfragen reduziert. Der Wandel der Arbeitsgesellschaft ist in dieser Sichtweise eine politisch induzierte Gefahr, der durch eine Politik des klassischen Normalarbeitsverhältnisses begegnet werden soll. Umverteilung und Sekundärverteilung stehen im Mittelpunkt einer solchen Sozialstaatspolitik, Fragen demokratische Teilhabe und Partizipation bleiben seltsam unerwähnt. Deshalb halten wir die plumpe Umverteilungsrhetorik der "Retros" für zu kurz gegriffen. Inklusion und Integration in einer Gesellschaft sind niemals nur materielle Fragen. Es kann kein zukunftsfähiges Prinzip sein, die Funktion des Sozialstaats auf die Zahlung von Transferleistungen zu reduzieren. Genauso wenig ist die reine Höhe der Transferzahlungen ein hinreichender Indikator für die Zielgenauigkeit und sozialpolitisch erwünschte Funktionsfähigkeit des Sozialstaates.
Die soziale Inklusion ausgegrenzter Bevölkerungsschichten muss auf einer gut ausgebauten sozialen Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur gründen. Deshalb ist es richtig, den Sozialstaat bisheriger Prägung um die Bildungs- und Familienpolitik zu ergänzen. Frühkindliche Bildung und der Ausbau der Betreuungsplätze hat zu Recht einen gehobenen Stellenwert in der sozialdemokratischen Debatte erhalten. Ein primäres Ziel unserer sozialstaatlichen Politik muss es sein, weniger die individuelle Transferleistung und viel mehr die soziale Dienstleistungsinfrastruktur im Blick zu haben. Vor diesem Hintergrund stimmen wir absolut darin überein, auf weitere Erhöhungen des Kindergeldes zu verzichten und stattdessen die Kinderbetreuung unter drei Jahren massiv auszubauen. Wir wissen heute, dass das Kindergeld nicht nur ungerecht verteilt ist, sondern auch noch wenig zielgerecht eingesetzt wird. Ähnliche Fehlsteuerungen erkennen wir beim Ehegattensplitting, das nach wie vor den Ehevertrag steuerlich begünstigt, Familien mit Kindern aber ebenso wenig wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Beide Lager - " Agendisten" wie "Retros" - stehen sich seit dem Gipfel der Auseinandersetzung um die Agenda 2010 unversöhnlich gegenüber. In Wahrheit sind jedoch beide Ansätze sehr verschränkt: In der Praxis sind sowohl Verteilungspolitik als auch Inklusionspolitik in höchstem Maße miteinander verbunden. Beispielsweise ist eine chancengleiche Bildungspolitik nur durch den Abbau der Unterfinanzierung des Bildungssystems zu erreichen. Ebenso muss ein Sozialstaat der neue Anforderungen der Bildungs- und Familienpolitik sicherstellen soll, ausreichend finanziert sein. Klassische Verteilungsfragen und soziale Chancen sind also eng verwandt.
Sozialpolitik ist eben nicht nur eine Frage der Verteilung oder nur eine Frage der Bildungspolitik. Es gilt also die Dialektik zwischen Vor- und Nachsorge zu erkennen und daraus die Idee einer Gesellschaft des sozialen und ökonomischen Fortschritts zu entwickeln. Die SPD sollte eine Synthese aus diesen Ansätzen bilden.

aus: Vorwort zu "Unterschichten? Prekariat? Klassen? Moderne Politik gegen soziale Ausgrenzung". herausgegeben von Björn Böhning, Klaus Dörre und Andrea Nahles im spw-Verlag, Dortmund 2006.