Existenzgeld - Keine Alternative zum Mindestlohn

Reflexion einer Debatte

Das solidarischen Bürgergeld (SBG)soll ein soziokulturelles Existenzminimum für alle sichern. Was bringen solche Modelle?

Konkret heißt das nichts anderes, als Renten- und Arbeitslosenversicherung abzuschaffen und in der Kranken- und Pflegeversicherung eine Kopfpauschale einzuführen. Auch Sozialleistungen wie Bafög, Kindergeld, Freibeträge, Wohngeld u.v.a.m. fallen weg. Stattdessen erhielte jeder - vom Obdachlosen bis zum Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank - ein Bürgergeld von 800EUR. Es ist steuerfrei, allerdings müssen davon die Kopfpauschalen für Kranken- und Pflegeversicherung beglichen werden. Jeder kann zwischen einem Steuersatz von 25 % oder 50 % wählen - letzteres rentiert sich für diejenigen, die das Bürgergeld in voller Höhe von 800EUR in Anspruch nehmen wollen und nur wenig dazu verdienen.

Spannend ist der Vorschlag nicht zuletzt deshalb, weil ein ähnliches, wenn auch meines Wissens nicht so detailliert durchgerechnetes System unter dem Namen bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) von links, aus dem Umfeld von attac vorgeschlagen wird. Eine solche Übereinstimmung macht zumindest neugierig: Vielleicht verbirgt sich dahinter eine tragfähige Antwort darauf, dass man mit traditioneller Vollbeschäftigungspolitik der Massenarbeitslosigkeit nicht so recht beikommt? Was bringen solche Modelle, wenn sie umgesetzt werden? Wie wirken sie auf die Situation der Betroffenen, auf Tarif- und Sozialpolitik oder auf öffentliche Haushalte?

Im Vergleich zu geltenden Regelungen bringt das SBG für Arbeitslose in den ersten 12 Monaten der Arbeitslosigkeit und für Rentner, die vorher durchschnittlich bis gut verdient haben, drastische Einbußen mit sich, denn: wo bisher Systeme greifen, die sich auf das bisherige Arbeitseinkommen beziehen, würde dann die Mindestsicherung greifen und die bisherigen lebensstandardsichernden (oder annähernd lebensstandardsichernden) Renten bzw. das Arbeitslosengeld ablösen. Beschäftigte, die weiterhin an einer lebensstandardsichernden Absicherung im Alter und bei Arbeitslosigkeit interessiert wären, müssten diese Risiken selbst absichern - hier winkt ein neues Geschäftsfeld für die private Versicherungswirtschaft. Für Gewerkschaften wäre sowohl die damit verbundene Abkehr vom Äquivalenzprinzip in der Renten- und Arbeitslosenversicherung als auch die weitere Privatisierung der sozialen Sicherung eine Zumutung, dies umso mehr, als man Formen der Risikobeschränkung und der sozialen Einbettung, wie sie etwa mit der Riester-Rente verbunden sind, in beiden Konzepten vergeblich sucht.

Auch Menschen, die nach heutigem Recht Anspruch auf Sozialhilfe hätten, müssten deutliche Einbußen in Kauf nehmen, denn die Leistungshöhe ist nach oben begrenzt. Nicht so bei der Sozialhilfe: So lästig und unsensibel die Bedürftigkeitsprüfung manchmal sein mag - sie schafft doch Spielräume dafür, dass Sozialhilfe-Empfänger bei nachgewiesenem Bedarf auch über die Regelsätze hinaus Anspruch auf weitergehende Hilfen haben. Diese Möglichkeit entfällt in den standardisierten Mindestsicherungsmodellen.

Trotzdem sieht Werner Rätz, ein Vertreter des attac-Modells, auch Gewinner: Die Inhaber von bad jobs, weil sie endlich zu ihrem Arbeitgeber "nein" sagen können; Frauen, weil sie unabhängiger von ihren Ehemännern werden sowie all die, die kreativ sind und/oder gesellschaftlich sinnvolle und nötige Dinge tun, ohne Geld dafür zu bekommen. Zumindest in Bezug auf letztere dürften Fragezeichen angebracht sein: Untersuchungen zur Freiwilligenarbeit und zum bürgerschaftlichen Engagement zeigen, dass freiwillige Arbeiten und ehrenamtliches Engagement zum weit überwiegenden Teil von Menschen erbracht werden, die im Berufsleben stehen, die also ohnehin unabhängig von einem Grundeinkommen sind. Ob die anderen von Rätz genannten Gruppen sich tatsächlich als Nutznießer solcher Modelle sehen, dürfte nicht zuletzt von der Leistungshöhe abhängen: Die Konditionen des BGE sind nicht bekannt, die des Althaus-Modells laden jedenfalls sicher nicht dazu ein, selbstbewusst den bisherigen Bindungen - ob Ehemann oder Arbeitgeber - den Rücken zu kehren.

Aus tarifpolitischer Sicht würden beide Modelle wirken wie "Kombi-Lohn für alle". Vermutlich könnten sich Arbeitgeber relativ rasch darauf einstellen: Die Lohnspreizung im unteren Einkommenssegment würde sich verstärken, insbesondere bei Stellen, die nur geringe Anforderungen an Qualifikation und/oder Verlässlichkeit stellen. Dem Arbeitsentgelt käme dann zumindest im unteren Einkommenssegment allenfalls noch eine "aufstockende Wirkung" zu. Eine Begründung dafür, warum hier der Steuerzahler in Verantwortung genommen und die Arbeitgeber entlastet werden, wird in keinem der beiden Modelle geliefert. Klar ist jedoch die Wirkung: Wenn Arbeitsentgelte bloß noch einen die Grundsicherung ergänzenden Charakter haben, brauchen wir über einen Mindestlohn gar nicht mehr nach zu denken, weil das Arbeitsentgelt mit Existenzsicherung gar nichts mehr zu tun hat und ein Arbeitgeber selbst beim erbärmlichsten Hungerlohn darauf verweisen kann, dass die Existenz seiner Beschäftigten schließlich gesichert sei. Solange man der Auffassung zuneigt, dass ein existenzsicherndes Einkommen für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zu zahlen ist, muss man solche Modelle ablehnen.

Insgesamt würden beide Modelle die soziale Regulierung von Arbeit weiter lockern und zu individuelleren, weniger formalisierten, ja zu entstandardisierten und damit ungeschützten Arbeitsverhältnissen führen, die sich kollektiver Gestaltung und kollektivem Schutz weitgehend entziehen. So lassen sich - um nur ein Beispiel zu nennen - zumindest im unteren Einkommenssegment Arbeitszeitverkürzungsmodelle mit weitgehendem Einkommensausgleich über Mindestsicherungsmodelle organisieren. Sie basieren allerdings auf individuellen Entscheidungen, sind also nicht tariflich abgesichert. Diese individuellen Entscheidungsspielräume, die Werner Rätz von attac als Stärke der Mindestsicherungsmodelle rühmt, haben aber eine Kehrseite: bei asymmetrischen Machtverteilungen - und solche herrschen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern - werden Spielräume regelmäßig zugunsten der Stärkeren genutzt. Die bloße Existenzsicherung macht den Arbeitnehmer keineswegs so stark, dass er zu jeder Zumutung des Arbeitgebers selbstbewusst "nein" sagen kann.

Die wirklichen Gewinner werden von beiden Seiten schamhaft verschwiegen: Die Arbeitgeber etwa wären nicht nur von heute auf morgen die Lohnnebenkosten insgesamt los - auch das eigentliche Arbeitsentgelt hätte teilweise eher Zuverdienstcharakter, wäre gewissermaßen ein die staatliche Grundsicherung ergänzendes "Sahnehäubchen". Weitere Gewinner wären Gutverdiener und Teile der Mittelschicht: Sie würden durch die niedrigen Steuersätze und den Wegfall der Sozialversicherungsbeiträge entlastet - wie weit diese Entlastung in die Mittelschicht hinein reicht, hängt nicht zuletzt davon ab, auf wen die steuerlichen Mehrbelastungen, die das Modell mit sich bringt, verteilt würden. Die Entlastung der höheren Einkommen würde allenfalls dadurch relativiert, dass sie für eine dem jetzigen Zustand vergleichbare Altersversorgung oder Absicherung bei Arbeitslosigkeit gesondert und privat vorsorgen müssten.

Althaus nimmt für sein Modell in Anspruch, dass es die Spaltung von In-den-Arbeitsmarkt-Integrierten und Nicht-Integrierten aufheben würde. Ein plausibles Argument dafür bleibt er schuldig, muss er schuldig bleiben, denn das Gegenteil wäre der Fall: Durch den Wegfall von Beratungs- und Integrationsleistungen der Arbeitsverwaltung, durch falsche Anreize für Jugendliche beim Übergang Schule/Beruf, durch Resignation oder ein Sich-Abfinden mit der Situation und durch eine zunehmende Entfremdung vom Arbeitsmarkt würde diese Trennung vielmehr zementiert.

Da sind die linken Befürworter des Modells ehrlicher, wenn sie sagen: Genau das ist erwünscht, es geht um Befreiung vom Lohnarbeitszwang, das BGE soll "ein schönes Leben ohne den Zwang zur Lohnarbeit garantieren" (Stützle auf diesen Seiten). Rätz argumentiert, das bedingungslose Grundeinkommen würde das Versprechen, die Menschen seien "frei und gleich an Würde geboren", im realen Leben einlösen. Dabei wird m.E. verkannt, dass Arbeit für die meisten Menschen mehr ist Abhängigkeit, mehr auch als "nur" Einkommensquelle, es wird ausgeklammert, dass sie darüber hinaus auch das Selbstwertgefühl stärkt und gesellschaftliche Anerkennung vermittelt und dass ein Teil dieser Anerkennung im Arbeitsentgelt steckt: Die Arbeit ist "etwas wert" und wird gebraucht. Für viele hat es große Bedeutung, durch eigene Leistung den Lebensunterhalt zu sichern, und ihr Selbstwertgefühl leidet darunter, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Nicht zuletzt deshalb würde mit einem gesetzlichen Mindestlohn einem Leben in Würde sehr viel besser Rechnung getragen.

Letztlich steht und fällt jedes der beiden Modelle damit, ob die gesamte Volkswirtschaft genug erwirtschaftet, um das soziokulturelle Existenzminimum für die freiwillig und unfreiwillig Ausscheidenden zu finanzieren. Gerade das Wohlstandsniveau in Deutschland hängt jetzt und in der Zukunft in besonderem Ausmaß von Exporterträgen ab (und anschließend natürlich von ihrer Verteilung). Die Branchen, die diesen Exporterfolg tragen, sind, um konkurrenzfähig zu bleiben, einem immensen Zwang zur Produktivitätssteigerung ausgesetzt, der sich für die dort Beschäftigten in Arbeitsverdichtung und Druck auf ihre Arbeitsbedingungen äußert. In einer Spaltung von "In-den-Arbeitsmarkt-Integrierten" und "BGE-Befriedeten" würde vor diesem Hintergrund ein beachtliches Maß an sozialer Sprengkraft stecken, die mit der Formel "Befreiung vom Lohnarbeitszwang" nicht gerade entschärft wird. Für den politischen Umgang mit diesem Problem finden sich weder bei den Protagonisten des SBG noch in der Diskussion um das BGE Antworten: Beide scheinen sich auf einem gemütlichen nationalen Inselchen eingerichtet zu haben, zu dem Begriffe wie Europatauglichkeit oder Standort-Konkurrenz keinen Zutritt haben.

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Sabine Groner-Weber ist Mitglied der Ver.di-Bundesvorstandsverwaltung