Tatort deutsche Biowissenschaft

Anthropologie als Wegbereiter für NS-Vernichtungspolitik

"Physiognomie und Schädelform sprechen gegen eine Herkunft aus Mitteleuropa." Gerichtsmediziner Börne blickt auf die vor ihm aufgebahrte Leiche. Das Skript dieser Szene aus einer "Tatort"-Folge ...

... des Jahres 2005 geht tatsächlich davon aus, dass es eine unmittelbar diagnostizierbare Verbindung der körperlichen Erscheinung mit der Herkunft gäbe. Diese Annahme ist völlig ungebrochen der (post)kolonialen Geographie lebenswissenschaftlicher Rassismen entnommen; genauer der klassisch-metrischen Anthropologie. Um 1900 ist die Anthropologie die zentrale lebenswissenschaftliche Disziplin, die als wissenschaftliche Autorität bei der Definition von "Menschenrassen" angerufen wird. Methodisch hat sie sich zur Aufgabe gemacht, durch Vermessung von äußeren körperlichen Merkmalen Idealtypen von "Rassen" zu "identifizieren". Um die Jahrhundertwende stagnierten die wissenschaftsinternen anthropometrischen Diskurse, da sich immer klarer abzeichnete, dass solche Idealtypen durch das vorhandene Material empirisch nicht belegbar sind. Warum spukt die Anthropologie dennoch noch bis heute in schlechten deutschen Krimiserien herum? Ihre Legitimation hat die Anthropologie in erster Linie aus der gesellschaftlichen Funktion bezogen, die sie während des deutschen Kolonialismus (1884-1914) für die Etablierung einer nationalen Identität einnahm. Nach wie vor bildet der Kolonialismus in der deutschen Geschichtsschreibung wie auch in den Alltagsdiskursen eine Leerstelle und auch die deutsche Linke beschäftigt sich allenfalls marginal mit dem Thema.

Sonderweg der deutschen Anthropologie

Die Besonderheiten des deutschen Kolonialismus zeigen sich vielleicht am augenfälligsten zu Beginn des ersten Weltkriegs: das "Kaiserreich" entscheidet sich - im Gegensatz zu den anderen kriegsführenden Kolonialnationen - dagegen, Truppen aus der kolonialisierten Bevölkerung zu rekrutieren. Die öffentlichen Debatten um die Angehörigkeit zur "Wehrmacht" sind damals das entscheidende Feld, auf dem Nationalitätskonzeptionen verhandelt werden. Letztlich werden auch noch die wenigen kolonialisierten Soldaten aus der "Wehrmacht" ausgeschlossen. Parallel hierzu gibt es breite antisemitische Diskussionen um einen Ausschluss von "Juden". Dass der deutsche Kolonialismus erst mehr als hundert Jahre nach dem niederländischen, französischen und britischen an den Start gegangen ist, hat auch die deutsche Geschichtsschreibung zur Kenntnis genommen und in ihre Konzeption der "späten deutschen Nation" übernommen. Dabei wird aber zumeist Kolonialismus als einseitiges Verhältnis ausgehend von der jeweiligen Kolonialnation gewertet, was die Produktivität kolonialer Verhältnisse völlig verkennt. Theorieansätze im Kontext der postcolonial theory hingegen nehmen gerade diese in den Blick. Im Bezug auf niederländische, französische, britische Nationalitätskonzeptionen schlägt sich diese Produktivität darin nieder, dass sich um 1900 ein Übergang zu einem "new racism" (Ann Laura Stoler) bemerkbar macht. Eher über kulturelle als über biologische Rassismen geprägt, rücken Sprache und Bildung gegenüber biologischen Erscheinungsformen stärker in den Vordergrund. Die Ursache ist in der zum Teil Jahrhunderte langen Aushöhlung der kolonialen Segregationspolitik durch kulturelle Vermischungen zu suchen. Insbesondere die Sichtbarkeit von sog. "gemischten" Bevölkerungsgruppen macht Modifikationen der Strategien der Herrschaftserhaltung notwendig. Im deutschen Kontext kam es stattdessen zu einer Radikalisierung der Segregation (1). Maßgebliche Rolle spielte hierbei das Aufeinandertreffen der Kolonialpolitik mit neuen biopolitischen, bevölkerungshygienischen Diskursen; den neuen Machttechniken, die Foucault unter dem Begriff "Biomacht" zusammenfasst. Die Lebenswissenschaften spielen hierbei eine entscheidende Rolle. So institutionalisiert die Kolonialmedizin epidemiologische Diskurse, insbesondere um Geschlechtskrankheiten, Typhus und Lepra. Diese Diskurse sind stark gegendert; Sex als Ort der Reproduktion wird zum Hort potenzieller Vermischung.

SPD: Die Avantgarde der Eugenik

Während es in den meisten Kolonialgebieten durch die Dominanz privater Unternehmen insgesamt eher zu einer Duldung von Beziehungen zwischen "weißen" Männern und kolonisierten Frauen gekommen war, gelingt den deutschen Kolonialverwaltungen unter Hegemonie staatlicher und lebenswissenschaftlicher Einflussnahme die Durchsetzung radikaler Segregation. Ein Beispiel hierfür ist die Biopolitik in der deutschen Kolonie in China, "Kiautschou". "Weiße" Sexualität findet hier fast ausschließlich im behördlich streng reglementierten Rahmen von Prostitution statt. Sexworkerinnen wie auch die deutsche Bevölkerung (fast ausschließlich männlich und Soldaten) müssen sich regelmäßigen Untersuchungen gegen Geschlechtskrankheiten unterziehen. Sex wird in dieser medizinischen Konstellation zum Ort potenzieller Ansteckung. Die Problematik der Ansteckung installiert einen segregationistischen Imperativ in fast jeder Alltagsituation. Die Rückwirkung dieser kolonialen Segregation schlägt sich nicht nur in den kontinuierlichen Debatten um koloniale "Mischehen", um die kolonialen Vernichtungskriege in China und "Deutsch-Südwestafrika" nieder. Die Anthropologie hatte ihre Impulse schon seit ihrer Begründung aus den kolonialen "Laboratorien" bezogen, nun soll ihr auch diesmal die koloniale Forschung aus der Krise helfen. Der Anthropologe Eugen Fischer führt 1908 in "Deutsch-Südwestafrika" anthropometrische, genealogische und ethnologische Untersuchungen durch. Auch sein empirisches Material kann keine "Rassen" belegen. Dennoch werden seine Arbeiten als wissenschaftliche Innovation aufgenommen, weil er die Konzeption der Erblichkeit körperlicher und geistiger Merkmale einführt. Die anthropologischen Diskurse verlagern sich von der Phäno-Ebene (Aussehen, Sichtbares, Äußeres) auf eine Geno-Ebene (vermeintliche Erblichkeiten). Die "Rassenkunde" ist damit begründet und setzt sich bis Ende der 1920er Jahre als feste wissenschaftlich-politische Instanz durch. Wir haben es hier mit einem "Sonderweg der deutschen Anthropologie" (Benoit Massin) zu tun, der international seines Gleichen sucht. Wie groß der koloniale Einfluss auf die "Rassenkunde" war, zeigt sich vor allem daran, dass Fischer und andere ihre rassistischen Konzeptionen kaum aus dem gesellschaftlich viel virulenteren antisemitischen Diskurs speisten. Auch wenn die "Rassenkunde" keineswegs frei von antisemitischen Stereotypen war, gab sich der Mainstream der Anthropologen nicht explizit antisemitisch und kann im Kontext der diskursiven Kräfteverhältnisse mitunter sogar eher als philosemitisch eingestuft werden. Das ist auch der Grund, weshalb mit der Machtübernahme zunächst Konflikte zwischen den Nationalsozialisten und den Anthropologen auftraten. Die Einarbeitung des Antisemitismus in den Rassismus als ideologische Gesamtformation wird eher von Populärwissenschaftlern wie dem Schriftsteller Hans F.K. Günther vorgenommen, der von den Nazis dafür einen Lehrstuhl geschenkt bekommt. Aber auch Hitler selbst popularisiert Fischer und verwendet für "Mein Kampf" das Standardwerk der "Rassenkunde", das nach den Autoren "Baur-Fischer-Lenz" benannt ist.

Koloniales Erbe wirkt bis heute

Während der "Weimarer Republik" wirkt sich der theoretische Widerspruch zwischen antisemitischen Alltagsdiskursen und (post-)kolonialen Lebenswissenschaften strukturell noch zu Gunsten der Durchsetzung "Rassen"-politischer Zielsetzungen aus. So ist die Verabschiedung von eindeutig antisemitischen Gesetzesvorhaben zu diesem Zeitpunkt für den parlamentarischen Mainstream nicht opportun. Ganz anders sieht es bei eugenischen Gesetzesvorhaben aus. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte hierbei die SPD, die sich nach dem ersten Weltkrieg zur Avantgarde der Eugenik wandelte und dafür beinahe auch ein Bündnis mit der NSDAP eingegangen wäre. Durch das Einbringen eugenischer Gesetzesvorlagen in die parlamentarische Debatte und die Gründung verschiedener "bevölkerungshygienischer" und anderer (semi-)staatlicher Institutionen eröffnete sich der "Rassenkunde" bereits vor 1933 ein umfassender Bereich staatlicher Biopolitik, der dann von den Nationalsozialisten erweitert und radikalisiert wurde. Die Lebenswissenschaften hatten darüber hinaus im Nationalsozialismus auch einen erheblichen Anteil an der staatlichen Vernichtungspolitik, ohne je dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Im Vergleich zu anderen Kolonialregimen ist der deutsche Kolonialismus "phasenverschoben" und fällt mit der Durchsetzung einer umfangreichen staatlichen Biopolitik zusammen. Durch die damit verbundene Radikalisierung der Segregation wird die deutschen Nationalitätsdebatte vorrangig durch biologische "Rasse"-Konzeptionen bestimmt. Die Lebenswissenschaften nahmen bei der Etablierung des Rassismus als einer ideologischen Gesamtformation eine entscheidende Rolle ein. Die rassistischen Diskurse innerhalb der Lebenswissenschaften haben offenbar vom "Kaiserreich" bis zum Antisemitismus/Antiziganismus des Nationalsozialismus einen "Umweg" über koloniale Rassismen genommen. Die "Rassenkunde" schaffte es bereits während der "Weimarer Republik" zu einer beständigen Größe innerhalb der staatlichen Bevölkerungspolitik zu werden, so dass die Nationalsozialisten sowohl auf ideologischer als auch auf staatlich-struktureller Ebene ein bereitetes Feld vorfanden, das sie nur noch gesamtgesellschaftlich einbetten und radikalisieren mussten. Die eingangs zitierte "Tatort"-Folge verweist aber nicht nur auf Tradierungslinien innerhalb der Lebenswissenschaften, sondern auch auf die Besonderheiten der deutschen Postkolonialität: Die nach wie vor gültige Verknüpfung von bestimmten Merkmalen menschlicher Erscheinungsbilder (insbesondere der Hautfarbe) mit der Herkunft. Der nationalen Ordnung des Sichtbaren liegt in der BRD immer noch die Prämisse deutsch = "weiß" zu Grunde. Eine solche Verknüpfung hätte beispielsweise in der US-amerikanischen Krimiserie "CSI" einfach keinen Sinn ergeben. Timm Ebner Anmerkung: 1) Absonderung einer Bevölkerungsgruppe nach Hautfarbe oder Religion. aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 513/19.1.2007