Die Wüste lebt

Zehn Jahre Kyoto-Protokoll, EU-Ratspräsidentschaft und G8-Vorsitz der Bundesrepublik samt seinem Höhepunkt, dem Treffen der acht führenden Industrienationen in Heiligendamm...

Zehn Jahre Kyoto-Protokoll, EU-Ratspräsidentschaft und G8-Vorsitz der Bundesrepublik samt seinem Höhepunkt, dem Treffen der acht führenden Industrienationen in Heiligendamm: 2007 dürfte, gerade aus deutscher Sicht, zu einem entscheidenden Jahr für die Zukunft der Globalisierung, aber auch der globalisierungskritischen Bewegung werden.

Nicht zuletzt an der globalen Energie- und Klimafrage wird sich klären, ob die Zukunft der Welt noch eine friedliche sein kann oder ob wir neuen Ressourcenkriegen entgegengehen. Längst haben die Autokraten der Welt, von Ahmadinedschad bis Putin, aber auch die westlichen Demokratien, von Deutschland bis zu den Vereinigten Staaten, erkannt, dass sich die Energieversorgung zur entscheidenden Machtfrage der Zukunft entwickelt - und richten ihre Militärstrategien danach aus.1 Insofern ist die letzte Äußerung von UN-Generalsekretär Kofi Annan auf einem Weltgipfel sehr ernst und als dessen Vermächtnis zu nehmen: Man muss dem Klimawandel genauso viel Beachtung schenken wie der Vermeidung von Kriegen und dem Kampf gegen Massenvernichtungswaffen.2

Diese brandgefährliche Entwicklung dürfte noch dadurch forciert werden, dass die letzte Weltumweltkonferenz in Nairobi nur heiße Luft produzierte. Die versammelte Ministerschar verständigte sich darauf, sich über die Fortsetzung des Kyoto-Protokolls in Bälde erneut zu verständigen. Vor zehn Jahren hatten die Industriestaaten immerhin vereinbart, den Ausstoß des wichtigsten Treibhausgases CO2 um fünf Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Wenn der Kyoto-Prozess in diesem Jahr ausläuft, wird der Ausstoß jedoch um 40 Prozent höher liegen als 1990. Von einem Übergang zu einer weniger Ressourcen verschlingenden Zukunft kann also keine Rede sein, im Gegenteil: Experten gehen von einer Verdreifachung der CO2-Emissionen bis 2050 aus.

Hier von den europäischen Staatsführern und insbesondere von der deutschen Bundeskanzlerin eine Trendwende zum Besseren zu erwarten, geht allerdings an der eigentlichen Herausforderung vorbei - so viel hat die erfolglose Gipfeldiplomatie von Rio 1992 bis Nairobi 2006 gelehrt. In erster Linie bietet die Präsidentschaft in G8 und EU der ehemaligen Umweltministerin Merkel eine willkommene Bühne, um außenpolitisch Präsenz zu demonstrieren und von der innenpolitischen Konturlosigkeit der eigenen Politik abzulenken. Alles spricht deshalb dafür, dass 2007 vor allem das Jahr der roten Teppiche und abgeschrittenen Ehrenformationen werden wird.

Nachgerade naiv wäre es, von der Kanzlerin anzunehmen, sie werde - jenseits der willkommenen Symbolpolitik - das Menschheitsthema der Erwärmung der Erdatmosphäre mit neuem Leben beseelen. Weit mehr liegt ihr die Zukunft der deutschen Exportindustrie am Herzen. Darin unterscheidet sie sich in nichts von ihrem Vorgänger, der unlängst in seinen Memoiren eingestand, das Ökologie-Thema stets nachhaltig unterschätzt zu haben.
Die Krise von Attac

Fatalerweise besetzen aber auch die anderen Parteien das Feld der Umweltund Klimapolitik fast nur noch sporadisch, allen Wiederbelebungsversuchen "Grüner Radikalität" zum Trotz. Umso mehr ist die globalisierungskritische Bewegung um Attac gefordert, sich der internationalen Umweltpolitik anzunehmen. Zu Recht als die wohl wichtigste Bewegung des 21. Jahrhunderts bezeichnet, hat sie diesen Anspruch bisher jedoch noch nicht eingelöst - insbesondere was die Klimafrage anbelangt. Bis heute gibt es keine alternative Umweltpolitik auf globalem Niveau, operieren Drittwelt-, Friedensund Umweltbewegung vor allem aneinander vorbei.

Darin liegt eine Ursache dafür, warum sich Attac derzeit in der Krise befindet.3 Gewiss kann man dafür, jedenfalls zu einem Teil, das abgeklungene Medieninteresse verantwortlich machen. Hier liegt aber auch eigenes Versagen gerade dieses vielleicht prominentesten Teils der Bewegung. Nach einer anfänglichen Hochphase hat sich Attac in den letzten Jahren das Globalisierungsthema zwar nicht aus der Hand nehmen lassen, aber schon seit geraumer Zeit ist es erstaunlich ruhig um diese Frage geworden. Zum einen rückten nationale Themen, insbesondere der Kampf gegen Hartz IV, stark in den Vordergrund. Zum anderen fehlt es der Bewegung aber auch an inhaltlichthematischer und konstruktiver Fundierung, insbesondere hinsichtlich der Klimafrage.

Seit Jahren, spätestens seit dem 11. September 2001, betreibt die globalisierungskritische Bewegung vor allem eine Politik des "Anti". Die Menschheit gegen Bush, lautete in den letzten fünf Jahren die Devise. Gerade in der Umweltpolitik geht diese Rechnung jedoch nicht auf - insbesondere weil sich Staaten wie die Bundesrepublik allzu gern hinter dem Umweltsünder USA verstecken, der bis heute das Kyoto-Protokoll nicht unterzeichnet hat. Dabei ist auch Deutschland, der vorgebliche ökologische Musterknabe, noch immer weit von Vorbildlichkeit entfernt. Heute beträgt der CO2-Ausstoß eines Bundesbürgers mit im Durchschnitt zehn Tonnen pro Jahr das Zwanzigfache eines Inders,4 und ganz Afrikas CO2-Ausstoß entspricht derzeit dem der Bundesrepublik.

Hier zeigt sich: Viel komplexer und schwieriger als die Politik des simplen "Stoppt Bush" wird es zukünftig sein, Politik für etwas zu machen, nämlich für einen fundamentalen Kultur- und Lebensstilwandel auf ökologisch-nachhaltiger Grundlage - jenseits der allenthalben propagierten, wohlfeilen "ökologischen Modernisierung". Gewiss greift Attac als Bewegung für die Tobin- Tax die Devisenspekulation als die avancierteste Form des Turbokapitalismus an und schlägt damit ein eigenes Regulierungsmittel vor. Von einem umfassenden Alternativmodell zum fossilistischen Kapitalismus ist die Bewegung jedoch noch weit entfernt. Dafür bedürfte es eines Ansatzes, der jeden Lebensbereich erfasst und auf seine Zukunftstauglichkeit hin durchleuchtet: von der Wirtschafts- und Arbeitsüber die Ernährungs- bis zur Mobilitätspolitik. Davon kann augenblicklich keine Rede sein.
Der Messias aus der Weltbank

Umso besser trifft es sich, dass jüngst ein neuer Verbündeter auf den Plan getreten ist, nämlich das "Establishment" in Gestalt des ehemaligen Weltbank- Chefs Nicholas Stern.5 Bisher galt, dass Umweltschutz über keine Lobby verfügt. Seit der Stern-Studie für die britische Regierung erscheinen jedoch selbst in der FAZ Artikel (leider nur im Feuilleton),6 die zur "Revolution" im Namen des Klimaschutzes aufrufen. Handelt es sich bei Stern also tatsächlich um ein Trojanisches Pferd für ein radikal anderes, das System der herkömmlichen Ökonomie sprengendes Gedankengut? Leider nur sehr bedingt, nämlich allenfalls auf der Ebene der Problemanalyse. Die Stern-Studie macht deutlich, dass gegen die Umwelt mittelfristig keine Gewinne zu erzielen sind. Vielmehr könnte durch den Klimawandel ein wirtschaftlicher Schaden von bis zu 20 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts eintreten.

Auf der Ebene der erforderlichen Gegenrezepte kann der ehemalige Weltbank-Chef jedoch nicht aus seiner Haut, wenn er lediglich empfiehlt, rechtzeitig ökonomisch vorzusorgen - zwecks Umleitung von einem Prozent des globalen Bruttosozialprodukts in Umweltschutzmaßnahmen.

So wichtig und richtig die Sternsche Feststellung ist, dass die globale Erwärmung das größte Marktversagen der Geschichte bedeutet, so naiv und falsch ist es, gleichzeitig die Illusion zu wecken, ausgerechnet der Markt könne dieses Marktversagen verhindern - obwohl es offensichtlich um grundsätzliche Interventionen der Politik geht. Stern schürt dagegen die Illusion, mit dem Teufel Kapitalismus den kapitalistischen Beelzebub austreiben zu können.

Der eigentlichen Ursache der fortgesetzten Zerstörung (die mit dem Begriff "Umweltzerstörung" noch nie treffend bezeichnet wurde), geht diese Therapie nicht an die Wurzel - nämlich dem fossilistischen Kapitalismus und seinem rasenden Verbrauch all dessen, was in Millionen von Jahren energetisch aggregiert wurde. Um dieser erdgeschichtlichen Revolution, die der Kapitalismus bedeutet, wirksam Einhalt zu gebieten, wäre tatsächlich ein völlig anderes Denken vonnöten, das radikale Fragen und Alternativen aufwirft.
Chance zur ökologischen Renaissance

Immerhin kommt der Stern-Studie das Verdienst zu, einen Anstoß gegeben zu haben, wieder in grundlegenderen Alternativen zu denken. Zudem bietet das neue Jahr, gerade hierzulande, die große Chance zu umfangreicher Politisierung und Mobilisierung. Im Mittelpunkt wird der G8-Gipfel vom 6. bis 8. Juni im Ostseebad Heiligendamm stehen. Gewiss dürfte dabei vor allem noch einmal gegen das liebste Feindbild, George W. Bush, getrommelt werden. Schon das Datum weist jedoch auf darüber hinausgehende Potentiale.

Der geschichtliche Zufall will es, dass fast auf den Tag 40 Jahre zuvor, am 2. Juni 1967, mit der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg die eigentliche Geburtsstunde jener großen Demokratisierungsbewegung in der Bundesrepublik schlug, die (für Deutschland fälschlicherweise) die Bezeichnung "68" trägt.

Einerseits war dies eine zutiefst nationale Bewegung, die unter dem Motto "Heute Ohnesorg, morgen wir" der "Generation von Auschwitz" wie auch dem als post-faschistisch imaginierten "System" den Kampf ansagte. Auf der anderen Seite fanden zeitgleich in ganz Europa und den USA Revolten gegen das bürgerliche "Establishment" statt, die schließlich in das mündeten, was in den 70er Jahren in der gesamten westlichen Hemisphäre zur silent revolution, zur Revolution des Postmaterialismus, gerann: zur tiefgreifenden Veränderung des Mentalitätshaushalts der Gesellschaft, weg von den materiellen Werten der Produktion und des Konsums hin zu Fragen nach Sinn und Verträglichkeit der kapitalistisch-individualistischen Lebensweise.

Heute wäre eine derartige transnationale, primär postmaterialistische Politik unbedingt erforderlich. Aber immer noch ist Europa, ist auch die Bewegung nicht auf der Höhe des Notwendigen. Dabei müsste gerade der mit natürlichen Ressourcen nicht gerade gesegnete Westen, müsste insbesondere das kleine Europa begreifen, dass das eigene Überleben von der Entwicklung eines zukunftstauglichen oder, um das abgenutzte Wort zu verwenden, nachhaltigen global way of life abhängt, der weltweit verallgemeinerbar ist.

Gewiss, noch ist Europa Trittbrettfahrer der globalen Klima-Erwärmung. Noch toben sich die Umweltkatastrophen in den ohnehin benachteiligten südlichen Regionen aus, scheint Europa mit seinen neuerdings immer milderen Wintern noch immer Profiteur der Klimakatastrophe zu sein.

Aber der Eindruck täuscht: Schon lange ist auch Europa kein Kontinent der Seligen mehr. Bereits heute verliert Spanien, derzeit noch Europas größter Obst- und Gemüselieferant, Jahr für Jahr wachsende Teile seines wertvollen Bodens durch die fortschreitende Verwüstung. Ein Viertel des Landes hat sich bereits in eine Halbwüste verwandelt. Und während die iberische Halbinsel zu einer europäischen Sahara werden könnte, droht auch in Deutschland die Versteppung ganzer Landstriche.

Trotz alledem ist Europa noch immer nicht aufgewacht, schläft der alte Kontinent weiter den Schlaf der Sorglosen. Allenfalls die regelmäßigen Anlandungen der Armuts- und Klima-Flüchtlinge an Spaniens Küste machen deutlich, dass Europa kein unberührbares Eiland ist. Doch fatalerweise verstärken sie auf diese Weise noch den Eindruck, dass es innerhalb der "Festung Europa" so schlimm schon nicht werden wird.

Das "alte Europa" ist also längst gehalten, sich ernsthafte Gedanken um die eigene Zukunftstauglichkeit zu machen. Zumal es tatsächlich zum globalen Vorreiter werden könnte. Anders als der rasant nachholende asiatische Kontinent hat Europa seine materialistischproduktivistische Phase ersichtlich bereits hinter sich - so sehr es sich auch in den letzten Jahren nostalgisch auf den einstigen Produktivismus und Konsumismus der vergangen Jahrzehnte besinnt, nicht zuletzt die Bundesrepublik auf ihr vermeintlich identitätsstiftendes Wirtschaftswunder der 50er Jahre.
Politik nach dem Materialismus

Heute wird es dagegen darauf ankommen, die Phase des Postmaterialismus neu zu beleben, um dem Konsum- und Wachstumsrausch der asiatischen Staaten eine global nachhaltige Alternative entgegenzusetzen. Dabei kann die bisherige Fixierung der Bewegung auf George W. Bush nur schaden. Dagegen könnte es sich als heilsam erweisen, dass sie sich in den nächsten beiden Jahren ohnehin davon wird lösen müssen - bis zu Bushs Abschied aus dem Weißen Haus. Noch ist allerdings keineswegs ausgemacht, ob der Bewegung aus Amerika neue Verbündete in Form der gestärkten Demokraten erwachsen. Viel wird davon abhängen, inwieweit sich Positionen wie jene des einstigen Vizepräsidenten Al Gore werden durchsetzen können. Im besten Fall könnte eine Politik zur "Erhaltung der Schöpfung" (respektive: der natürlichen Grundlagen der Welt) zum neuen Bindemittel eines reflexiv aufgeklärten Westens als post-materialistischer Avantgarde werden.

Vom Westen nahm die industrielle Revolution des fossilistischen Kapitalismus ihren welterobernden Ausgang. Gäbe es ein politisches Verursacherprinzip, wäre es somit auch die Pflicht des westlichen Zaubermeisters, seine eifrigen asiatischen Zauberlehrlinge zum Einhalt zu bewegen.

Noch allerdings gibt es wenig Indizien für eine postmaterialistische Revolution, sprechen alle Anzeichen gegen den erforderlichen radikalen Bewusstseinswandel zur Abwendung der Katastrophe. Die zur Verfügung stehende Zeit wird derweil immer geringer. Denn tragischerweise wirkt die ökologische Zerstörung wie eine Zeitbombe, sprich: mit Zeitverzögerung. Die jetzt bereits erzeugten Gifte zeitigen also "erst" in einigen, allerdings immer wenigeren Jahren ihre ganze Wirkung - ohne dass wir sie heute bereits spüren würden. Experten geben deshalb der Welt, positiv geschätzt, nur noch ein Zeitfenster von 20 Jahren, um den dramatischsten Folgen der ökologischen Zerstörung zu entgehen - allerdings nur, wenn umgehend weitreichende Maßnahmen eingeleitet werden.7

Die Bombe, deren Zünder wir heute bereits scharf machen, wird also in wenigen Jahren hochgehen - dann allerdings unwiderruflich. All das macht es umso dringlicher, bereits heute in grundlegenden Alternativen zum fossilistischen Kapitalismus zu denken - wenn die Welt nicht tatsächlich in der Barbarei enden soll. Sollten nämlich keine ökologischen Innovationen greifen und alternative Ansätze weiter ausbleiben, dürfte bald nur noch eine fatalistische Devise gelten: Ist die Welt erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Immer getreu dem Motto: Vor uns die Wüste und nach uns die Sintflut.
1 Vgl. Rolf Uesseler, Weißbuch 2006: Interessenpolitik weißgewaschen, in: "Blätter" 12/2006, S. 1423-1426.
2 Vgl. die Dokumentation in diesem Heft.
3 Dass Greenpeace aus Mangel an Spenden jede achte Stelle streichen will, macht deutlich, wie stark die Krise inzwischen auch auf die etablierten Organisationen übergreift.
4 Und die Hälfte eines US-Amerikaners.
5 Dokumentiert in: "Blätter" 12/2006, S. 1513- 1516.
6 Guillaume Paoli, Wir sind die Verbrecher. Klimaschutz braucht Revolution, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 22.11.2006.
7 "Fortschrittchen" zur Klimawende, Presseerklärung des WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen) vom 17.11.2006.
Blätter für deutsche und internationale Politik © 2007