Ab in den Mülleimer?

Aufstieg und Fall der progressiven Provokation

in (01.12.2006)

Was wurde nur aus dem guten alten Tabubruch? Fast möchte man sagen: als antibürgerliches Stilmittel zur Verschreckung und Aufrüttelung hat er lange ausgedient.

Wo noch in den 1960er Jahren mit spektakulär schockierenden Provokationen, wie zum Beispiel in den Performances aktionistischer KünstlerInnen, die konservativen Grundwerte der Gesellschaft nachhaltig erschüttert und herausgefordert wurden, kann die seit den 1990ern durch Trash TV geschulte Öffentlichkeit beim Thema Grenzüberschreitung nur noch gähnen: Zu oft hat die massenmediale Vorführung jedweder erdenklicher "Perversion" bzw. Abweichung von der akzeptierten Norm in schrillen Unterschicht-Freak-Shows schon die gewünschte Quote gemacht. Wenn auch dadurch nicht die Bereitschaft zu höherer Toleranz gegenüber devianten Lebensentwürfen markiert wird, sondern schlicht ein Abnutzungseffekt bei tabuisierten Themen zu beobachten ist, ist die Empfänglichkeit für Kontroversielles spürbar gesunken.
Dazu kommt die paradoxe Situation, dass wir uns heute im Westen in einem gesellschaftlichen Klima bewegen, in dem es ein institutionelles Lippenbekenntnis zur rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau, und, mit Einschränkungen, marginalisierten Gruppen wie Homosexuellen, MigrantInnen und Behinderten, gibt und niemand unkritisiert wagen kann, öffentlich dagegen Stimmung zu machen. Das Wissen um die Gleichwertigkeit der dominanten und marginalisierten Gruppen ist common knowledge, das jederzeit abrufbar und verfügbar ist, dabei aber, und das ist der entscheidende Punkt, nicht in das Bewusstsein der Öffentlichkeit eingespeist ist. Hinter die legislativ verordnete Gleichstellung, die partiell natürlich stets unterminiert und durch z. B. mangelnde Betreuungsangebote für berufstätige Mütter torpediert wird, fällt die öffentliche Imagination von Geschlecht und identitären Entwürfen weit zurück. So sitzen beispielsweise Klischees zur Inferiorität der Frau noch bombenfest nicht nur rund um die Stammtische, sondern äußern sich auch tagtäglich in zahllosen Facetten: In "Expertenrunden" wie denen der deutschen TV-Hüterin des Status Quo, Sabine Christiansen, zu denen stets eine überwältigende Mehrzahl Männer geladen wird, in objektifizierenden Darstellungen weiblicher Körper als verkaufsförderndes Ornament oder auch in eindeutig pejorativ gemeinten Zuschreibungen wie "Frauenliteratur" oder "Frauenfilme". In einem Interview mit der sich immerhin gemäßigt progressiv gerierenden taz vom 30.10.2006 fragt Susanne Lang die Regisseurin Katinka Feistl, die ihren bereits dritten Film wieder der (freundschaftlichen) Beziehung von Frauen zueinander gewidmet hat, ob sie nicht befürchte, "dass Sie in die Schublade 'Frauenfilmerin' rutschen" - ein Mann, der drei Filme hintereinander Männer in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt, würde wohl kaum ausgehorcht, ob er nicht Angst habe, als "Männerfilmer" verschrien zu werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass in offiziellen Texten öffentlicher Einrichtungen in den meisten Fällen geschlechtergerechte Sprache verwendet wird, in publizistischen Organen, die sich selbst dem linken Spektrum zuordnen würden, diese aber ganz selbstverständlich nicht vorkommt, oder wenn, wie bei der bereits erwähnten taz, die sich ob ihrer Verwendung des Binnen-Is gerne auf die eigene Schulter klopft, nur in sehr selektiven Zusammenhängen à la "FrauenrechtlerInnen und KindergärtnerInnen".
Aufgrund dieses Auseinanderklaffens des institutionellen Anspruches und des öffentlichen Bewusstseinsstandes werden Provokationen, die auf Unterdrückungen aufmerksam machen, daher nur noch als schulmeisterliche Ermahnung zur "Korrektheit" und als Geißelung der "freien Meinungsäußerung" gelesen. Heute herrscht die groteske Situation, dass nur das als befreiender "Tabubruch" begriffen wird, was mit dem vorgeschobenen öffentlichen Diskurs von Gleichberechtigung nicht konform geht und dabei die vermeintliche "Terrorherrschaft der PC-Moralapostel und Gutmenschen" unterminieren soll, dabei aber doch genau die noch bestens konservierten Ressentiments gegen die viel geprügelte Political Correctness bedient.
Ein Ausstellungstitel des sich in der Rolle des konservativen Provokateurs gefallenden norwegischen Künstlers und Schriftstellers Matias Faldbakken, der in seinem äußerst positiv rezipierten Anti-PC-Roman Die Cocka-Hola Company eine "Abrechnung" mit den Werten der 68er vorlegte, bringt dieses Zurückschlagen der sich bedroht fühlenden dominanten Gruppe auf den Punkt: Unter der Überschrift "Upping the anti" beweinen die Worte "The biggest problem you can have is of course being mainstream: being white, male, and heterosexual" die vermeintliche neue Paria-Stellung des weißen Heteromannes im Kulturbetrieb. Ungeachtet des Faktums, dass die Feststellung des feministischen Aktions-Kollektivs Guerrilla Girls zu einer 1997er Ausstellung im NewYorker Moma ("3 white women, 1 woman of color and no men of color - out of 71 artists?") immer noch ziemlich repräsentativ für den Überproporz der weißen Heteros sein dürfte, werden solche Äußerungen als freche, notwendige Tabubrüche bejubelt.
Während früher der Tabubruch ein Angriff auf die dominanten gesellschaftlichen Werte war, kann man nun also, in Zeiten wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit, die stets einen reichen Nährboden für den Wunsch nach autoritären Strukturen bietet, eine interessante Umkehrung beobachten: den neo(konservativen) Tabubruch, der sich vor einer Hegemonie diffuser "linker" Post-68er-Werte fürchtet und mit seinen Angriffen die eigentlich dominanten, halbherzig zugedeckten Strömungen wieder ans Licht zerrt: wahlweise Sexismus, Rassismus, Faschismus und Homophobie - oder alle gemeinsam. Als prominenter Vorreiter dieser Strategie kann Michel Houellebecq gelten, der seine Angst vor einer ethnisch diversifizierten Gesellschaft, der Emanzipation der Frau und den Überbleibseln der 68er-Generation als höchst sexistischen und rassistischen, destruktiv verbumsten Swinger-Reigen inszenierte. Homophobe und sexistische Brachial-Rapper wie Kool Savas, Sido oder Bushido wurden vom bürgerlichen Feuilleton begeistert als entfesselte Stimme des Lumpenproletariats begrüßt - denn mit ihnen ist da nun endlich wer, der in lachhaft ungelenken Reimen über kindlich-fäkale Allmachtsfantasien das rauspoltert, was man in den Bastionen des gepflegten Bildungsbürgertums zwar gerne denkt, aber sich nicht mehr laut zu sagen traut.
Beinahe wehmütig erinnert man sich der Zeit, in der den Provokationen sowohl künstlerischer wie gesellschaftspolitischer Sprengstoff innewohnte, der eine Radikalisierung der Öffentlichkeit zu gerechteren Lebensformen statt nur eines belämmerten, regressiven Angriffs auf diese vermeintlichen Errungenschaften zum Ziel hatte. Gerade im Bereich feministischer Agitation waren aufrüttelnde Aktionen mit Schock-Potenzial essenziell zur drastischen Sichtbarmachung anhaltender Diskriminierung. Die Besetzung der US-amerikanischen Zeitschriften Ladies Home Journal und RAT durch US-amerikanische Feministinnen Anfang der 1970er Jahre, die auf sexistische Strukturen und Inhalte aufmerksam machen sollten, waren bewusst verstörende Sit-ins in einer Zeit, in der man auf liberaler Seite noch über die neue, zweite Frauenbewegung dachte, dass "the whole thing was a minor upper-class discontent that could be solved by importing more maids from Jamaica", wie die Gründerin des feministischen Ms Magazines, Gloria Steinem, in ihrer Essay-Sammlung Outrageous Acts & Everyday Rebellions schreibt. Die Selbstbezichtigungsstrategie auf der Titelseite des Stern im Juni 1971, in dem 374 Frauen erklärten "Wir haben abgetrieben", war mit ihrem Kinnladenöffner ob der vielen beteiligten prominenten Frauen ein wichtiges Instrument zur (immer noch nicht vollständig erfolgten!) Legalisierung von Abtreibungen. Schon einige Jahre zuvor, 1968 und 1969, hatte Valie Export mit ihrem Tapp- und Tastkino und ihrer Aktionshose Genitalpanik auf die Kommodifizierung des Frauenkörpers hingewiesen. Beim Tapp- und Tastkino konnten Passanten in einer um Exports geschnallten Box ihre Brüste befühlen, womit der Objektcharakter der dem männlichen Blick unterworfenen weiblichen Physis drastisch erfahrbar gemacht wurde. Die im Schritt ausgeschnittene Aktionshose Genitalpanik kam in einem Münchener Pornokino zum Einsatz, in dem die Künstlerin in Lederjacke und mit gezogener Pistole durch die Reihen lief und klar machte, dass das weibliche Geschlechtsorgan nur als willfährige Ware auf dem Bildschirm, nicht aber in Zusammenhang mit einer aggressiv und selbstbestimmt agierenden Persönlichkeit attraktiv war. Elke Krystufek nimmt fast 30 Jahre später die Taktik der Entblößung der Umstände durch Selbstentblößung auf - bei der Vernissage zur Ausstellung Jetztzeit in der Wiener Kunsthalle 1994 steigt sie für ihre Performance Satisfaction nackt in eine Badewanne, um danach vor den Augen der perplexen BesucherInnen zu masturbieren. An der amerikanischen Westküste fangen zu Beginn der 1990er Jahre die Protagonistinnen der dort gerade entstehenden Riot-Grrrl-Szene an, auf im Musikunderground bis dato vernachlässigte Issues wie Missbrauch, Schönheitswahn und Frauensolidarität hinzuweisen. Einige der jungen, vom DIY-Ethos des Punk beeinflussten Frauen schreiben sich in einem Akt der Selbstbezichtigung denunzierende Worte wie "Slut" oder "Bitch" auf den nackten Bauch, um durch diese Eigenzuschreibungen auf die Malträtierung und Veräußerung des weiblichen Körpers hinzuweisen. Doch schon wenige Jahre später konstatiert Kathleen Hanna, die bekannteste Vertreterin der medienkritischen Bewegung, diese Selbstbeschriftungen seien ein wenig so gewesen, als habe man sich selbst ins Gesicht geschlagen - denn die Verletzungen, mit denen auf die Verletzungen des Systems aufmerksam gemacht werden sollen, sind letztlich doch immer Versehrungen des eigenen Frauenkörpers und replizieren damit die Ungerechtigkeit.
Trotz dieser Problematik sind diese Provokationen völlig konträr zu dem, was heute als System-erhaltende Transgression de rigeur ist. Die Karrierefrau Eva Herman schreibt ein Buch darüber, dass Frauen sich danach sehnen, als unterwürfige Bruthennen ein Dasein in der häuslichen Sphäre zu fristen, und Popintellektuelle wie Thomas Meinecke erobern das letzte große Tabu der Linken, den Katholizismus, mit einem diskursverbrämten Papismus für sich: "Es scheint das Privateste, Intimste, das denkbar Obszönste zu sein, einem anderen zu eröffnen, man glaube an Gott" schreibt Meinecke in dem von ihm mitherausgegebenen Band Ratzinger-Funktion. Nun, in Meineckes Wahlheimat Bayern ist sicherlich das Gegenteil der Fall. Vielleicht ist es angesichts dieser erdrückenden Beweislage wirklich an der Zeit, das Rebellion verheißende Paradigma "Tabubruch" endgültig in den Mülleimer zu verschieben. Denn ist das brutale Schockmoment der Übertretung nicht vielleicht auch ein hegemonialer Akt, den es grundsätzlich zu hinterfragen gälte? Vermutlich. Und dennoch betrachtet man mit einem Funkeln diebischer Freude im Augenwinkel die Performances unerschrockener junger Elektronik-Musikerinnen wie Peaches, Kevin Blechdom, Chicks on Speed, Scream Club oder Planningtorock, die sich weigern, ihre Bühnenkörper heteronormativen Schönheitsvorstellungen anzupassen und das Publikum mit sprießender Körperbehaarung, nackten Wabbelbrüsten und -bäuchen und generell unfemininem Verhalten ordentlich vor den Kopf stoßen. Vielleicht geht da ja doch noch was.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Populäre Provokationen", Winter 2006/2007.