Raum der prozessierten Relationen

Mit den Effekten der Globalisierung und der Neo-Liberalisierung hat das Raum-Paradigma spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Soziale Abschottungen und Ausgrenzungen, politische Entdemokratisierungstendenzen und ökonomisierende Aneignungen von Kritik haben Raumgefüge, ihre Begrenzungen und die sie jeweils generierende Prozesse nachdrücklich sowohl in den Blick der künstlerischen und kunsttheoretischen Diskurse, als auch der Politologie, Philosophie und Soziologie gerückt. Ästhetische und kulturpolitische Überlegungen sehen sich hier analytisch und strategisch auf engste miteinander verbunden. Mit Prozessen der Subjektivierung, Konditionen der Sichtbarkeit, der Teilhabe an definitorischer Macht sowie Strategien des Widerstands finden sich Ansätze der Genderstudies in postkolonialer Perspektive erweitert.

Gerade vor dem Hintergrund, dass das moderne Raum-Paradigma derzeit erneut einer Revision unterzogen und seine Überwindung geprobt wird, soll mit dem Ziel, weitere kritische Potentiale des Paradigma zu öffnen, der Blick auf temporäre Aspekte des Raums, die ihn generieren, strukturieren und flexibilisieren, fokussiert werden - ein Blick, der vom Akt des Eingreifens über die Aufführung zur Dynamisierung führt und aus kunstbezogener Warte zugleich auch Etappen der Geschichte der Institutionskritik entwirft.

In ihr steht am Anfang das Moment der Rückeroberung von Räumen, der Öffnung, Transparenz, Sichtbarkeit und Partizipation. In ihrem Zeichen stand um 1970 in gesellschaftlichem Zusammenhang die Kritik an der Ausgrenzung aus Gründen des Geschlechts, der Klasse und Religion ebenso wie im Kunstfeld diejenige an den Konditionen, die innerhalb der Kunstinstitutionen herrschten. Hans Haackes, Daniel Burens oder Michael Ashers Arbeiten beschäftigten sich dementsprechend mit den Bedingungen, unter denen Wertschöpfung und Bedeutungsproduktion mit ihren sozialen Ausschlüssen und Hierarchisierungen im Kunstfeld stattfindet. Sie zielten auf die Erweiterung des architektonischen Raums des Museums in Richtung Außenraum, auf poröse und transparente Begrenzungen, auf die Möglichkeit des Zugangs zum Museum und der Teilhabe an den Entscheidungen, die über seinen Inhalt bestimmten, für breitere, heterogener Gesellschaftsgruppen und -kreise.

Die nachdrücklichere Verzeitlichung von Raum mit kritischer Perspektive setzte hier an. Und zwar mit zweifach abgrenzender Motivation: Zum einen haftete den Verfahren der räumlichen Rückeroberung - ganz ähnlich wie denen der Grenzverletzung oder -überschreitung - noch der Charakter des Heroischen an. In ihm treten die (vor allem männlichen) Künstlersubjekte als Helden auf, als Streiter für die gerechte Sache, nehmen als Handelnde nicht selten einen Status des Außerordentlichen an, hinter dem die Begründung ihres Einsatzes zurücktritt. Zum anderen handelt es sich bei solchen Verfahren um zeitlich bestimmbare Akte, die Eingriffe in ein bestehendes System oder Feld aus Konditionen, Regeln und Normen vornehmen und für den Zeitraum ihrer Dauer Alternativen zum Bestehenden sichtbar werden lassen. Ist ihr Ziel auch eine längerfristige Verschiebung oder Änderung der Verhältnisse, so erweisen sich diese Setzungen rückblickend doch als in besonderem Maße der Aneignung durch die Institutionen ausgesetzt und damit neutralisierbar. Daniel Burens Streifen, die noch auf der documenta 5 ein höchst komplexes Gefüge von Referenzen und Kontextualisierungen herstellen konnten, das dem Kurator der Großausstellung, Harald Szeemann, seine Autorität und bedeutungsstiftende Macht streitig machte, können stellvertretend stehen für einen zunehmend in ihrem kritischen Ausgangston entschärften, versatzstückhaften Einsatz.

Die Erweiterung ortspezifischer Verfahren auf den "funktionalen" Raum seit Beginn der 90er Jahre bezog dessen verschiedene Gebrauchsweisen mit ihren Vorgaben und Diktaten mit ein. Wesentliches Kennzeichen war, dass die Momente, in denen räumliche Aneignungen, Hierarchisierungen oder Ausgrenzungen stattfinden, sichtbar wurden, indem sie auf die Bühne gebracht wurden. Andrea Frasers Museumsführungen oder ihre Eröffnungsperformances spielen die Verfahren vor, mit denen sich die verschiedenen Akteure im Kunstfeld Teilräume zu Eigen machen und in ihnen und von ihnen aus Macht ausüben. Sie bringt diese Akte als zeitliche zur Aufführung, die in ihren Effekten gebunden sind an ihre tatsächliche Ausübung. Im Sprechen vollzieht Fraser die Verwandlung - folgt man Pierre Bourdieu - von physischem Raum in "angeeigneten physischen" oder "objektivierten sozialen" Raum. In ihm manifestiert sich sowohl die Verteilung unterschiedlicher Arten von Gütern als auch von Akteuren und Gruppen, deren Verhältnisse wiederum über den differentiellen Wert der unterschiedlichen Regionen innerhalb des Raums entscheiden. "Die Fähigkeit, den angeeigneten Raum zu dominieren, und zwar durch (materielle oder symbolische) Aneignung der in ihm verteilten (öffentlichen oder privaten) seltenen Güter, hängt ab vom jeweiligen Kapital. (Â…) Kapital - in seinen grundlegenden Formen: ökonomisches, kulturelles, soziales - ermöglicht gleichermaßen, sich die unerwünschten Personen und Dinge vom Leib zu halten wie sich den begehrten Personen und Dingen zu nähern".

Von den performativen Effekten der Praxis Frasers ausgehend ließe sich - um nicht erneut als okkupierbares Einzelereignis verwertet zu werden - eine Perspektive weiterentwickeln, die die hier aufgeführten Verhältnisse der Akteure und Güter untereinander selbst dynamisiert. Michel de Certeaus "verbrecherische" Erzählung bietet einen Ansatz dafür, insofern als sie Raum erzeugt, in dem sie Bewegungen zwischen Orten, "in den Zwischenräumen der Codes" vollzieht. Raum ist für de Certeau ein Geflecht von beweglichen Elementen, eine Resultat von Aktivitäten, "die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren." Das politische Potential dieser raumgenerierenden Bewegung, die Codes verändern und außer Kraft setzen kann, sieht de Certeau dort, "wo eine Gesellschaft den Subjekten und Gruppen keine symbolischen Auswege und Raumerwartungen mehr bietet, also dort, wo es nur noch die Alternative von disziplinierter Anpassung oder illegaler Abweichung gibt, das heißt die eine oder andere Form von Gefängnis oder des draußen Umherirrens."

De Certeau entwirft einen Artikulationsraum von Differenz, der an der Neubestimmung der Bedingungen innerhalb der an ihn angrenzenden Räume beteiligt sein kann. Er kann die konstruktiv-verändernden Perspektiven ins Visier nehmen, die Homi Bhabha dem "Dritten Raum", einem Verhandlungsort für kulturelle Differenzen, zuspricht. Der "Dritte Raum" konstituiert, nach Bhabha, "die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, dass die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von Anfang an einheitlich und festgelegt sind und dass selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können." Sein Akzent auf Bewegungsmotive ist dabei spezifisch auf Abläufe der Interaktion, der Übersetzung, des Aushandelns gerichtet, die sich nicht notwendiger Weise im kontinuierlichen Rekurs auf vorgefasste Polaritäten, sondern zwischen und neben oder außerhalb von ihnen abspielen.

Eine Perspektive des "Zwischenraum" ließe sich hier ergänzen, die die eigene Position als konstitutives Element mit im Blick behält. Entscheidend für seinen kontinuierlichen Neuentwurf ist, dass er sämtliche Relationen unter den Akteuren und Gütern zu einander in Beziehung setzen kann, diese ebenso wie sich selbst reflektiert und zur Debatte stellt. Ein Pendeln zwischen Kritik und Selbstkritik vollzieht sich in ihm, für das Gerald Raunig in seiner Untersuchung zu "Kunst und Revolution" Foucaults Konzept der "Parrhesia" herangezogen hat. "Parrhesia" besteht zum einen darin, gegenüber hierarchisch höher Stehenden "alles zu sagen", wahrzusprechen, auch oder gerade dann, wenn es riskant ist, wofür Diogenes das Paradebeispiel abgibt; zum zweiten aber siedelt sie in einer Austauschbewegung zwischen der Kritik, dem Wahrsprechen, und der durch sie initiierten Selbstkritik. In der entstehenden Dynamik erscheint auch die eigene Position, mit ihren Subjektivierungen, Privilegien, Hierarchisierungen und Machteffekten im Verhältnis zu den übrigen im Raum eingenommenen Positionen als prozessierbar und die Verhandlungsprozesse als konstitutiv für den Raum. Von der Zusammenschau auf temporalisierte, selbstreflexive und kritische Bewegungen zwischen den Positionen aus ließe sich die Frage nach einer widerständigen Praxis neu stellen.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Raum greifen", Winter 2005/2006.