Die Ausweitung der Konsumzone

Nichts ist derzeit angesagter als das "Zweite Leben". In den vergangenen Wochen schien es keine Zeitung zu geben, die nicht begeistert über die neue virtuelle Welt berichtet hätte.

Nichts ist derzeit angesagter als das "Zweite Leben". In den vergangenen Wochen schien es keine Zeitung zu geben, die nicht begeistert über die neue virtuelle Welt berichtet hätte. Im Zuge der aktuellen Diskussion über Web 2.0, das sogenannte soziale Internet, scheint das Browserspiel "Second Life" nach You Tube und MySpace zielsicher den Nerv der Zeit zu treffen.

Das Interesse der Medien richtet sich dabei vornehmlich auf die unzähligen Angebote, die Second Life seinen Besuchern eröffnet. Parties, Sonnenbaden, virtuellen Extremsport, Shopping und natürlich den unvermeidlichen Cybersex zwischen den "Avataren", jenen virtuellen Wiedergängern der menschlichen Besucher - es scheint, als gebe es im digitalen Paralleluniversum nichts, was es nicht gibt.

Tatsächlich wird bei Second-Life die real existierende Distanz zwischen zwei Nutzern, etwa in Tokio und Toronto, aufgehoben und virtuelle Face-toface- Kommunikation und Interaktion ermöglicht. Dass die Grafik von einer fotorealistischen Darstellung noch weit entfernt ist, weshalb vieles im "Zweiten Leben" bisher nicht über den Status schlechter Simulation und steriler Animation hinauskommt, steht auf einem anderen Blatt - und den kühnen Phantasien der Medienmacher offenbar nicht im Wege.

Immer mehr Journalisten berichten neuerdings nämlich nicht nur über Second Life, sondern auch das Neueste aus der virtuellen Welt. So gibt der Axel Springer Verlag seit Ende 2006 eine virtuelle Boulevard-Zeitung, den "AvaStar", heraus. Den Anfang machte kurz zuvor bereits die Nachrichtenagentur "Reuters", als sie einen eigenen Korrespondenten nach Second Life entsandte. Auch die Marketing-Abteilung von Spiegel-Online verfügt mittlerweile über ihren hauseigenen Avatar namens Sponto, der regelmäßig über seine Erlebnisse berichtet. Den absurden Höhepunkt dieser unterschiedlichen PR-Bemühungen stellte bisher die Bekanntgabe des schwedischen Außenministeriums dar, eine virtuelle Dependance in Second Life zu eröffnen. Kurz: Niemand, der auf sich hält, scheint sich vorwerfen lassen zu wollen, den aktuellen Trend der digitalen Massen-Reinkarnation verschlafen zu haben.

Den Machern von Second Life kommt diese kostenlose Bewerbung natürlich höchst gelegen. Vergingen zu Anfang über drei Jahre, bis sich im Oktober 2006 endlich eine Million Nutzer weltweit registriert hatten, wurde die Zwei- Millionen-Grenze binnen acht Wochen durchbrochen. Inzwischen haben sich mehr als 3,5 Millionen Nutzer zu ihrem zweiten Leben angemeldet. Nähme die euphorische Berichterstattung allerdings nicht nur die Neuregistrierungen, sondern auch die aktiven Nutzerzahlen in den Blick, würde sich recht schnell Ernüchterung breit machen. Denn selten sind mehr als 30 000 Besucher, also ein Prozent der registrierten Nutzer, gleichzeitig online.
Die virtuelle Utopie als realer Marktplatz

Umso mehr stellt sich die Frage, was eigentlich hinter diesem Medien-Hype um das "Zweite Leben" steckt. Ist Second Life nur ein weiteres jener unzählbaren Computerspiele? Oder vielleicht doch die alternativ-utopische Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, wie viele seiner Anhänger nicht müde werden zu behaupten? Oder ist es schließlich vor allem ein globales und virtuelles Kaufhaus, rund um die Uhr geöffnet?

Eindeutig für letzteres spricht die zunehmende Omnipräsenz der Großunternehmen in der parallelen Welt. Adidas, American Apparal, IBM oder Toyota - um nur einige zu nennen - sind alle bereits mit digitalen Kopien ihrer Produkte im Netz vertreten. Mit der Eröffnung virtueller Filialen versprechen sie sich eine zusätzliche Werbe- und Verkaufsfläche. Mit einem einfachen Klick lassen sich heute in der virtuellen Welt von Second Life Computer der Firma Dell oder Bücher des Internet-Buchhandels Amazon direkt in die wirkliche Welt nach Hause liefern.

Doch die Ausweitung der Konsumzone mit Hilfe von Second Life geht weit über die Konsumgüter des realen Lebens hinaus. Die eigentliche Strategie ist gleichermaßen einfach wie genial: Während sich Konsum und Produktion in der realen Welt immer mehr mit den dramatischen Folgen ihres Handelns - Stichwort Klimawandel - konfrontiert sehen und das Wachstum industrieller Volkswirtschaften damit an seine ökonomischen wie ökologischen Grenzen stößt, winken im World Wide Web neue und nahezu unbegrenzte Märkte. Was liegt da näher, als die Kundenzahl einfach zu verdoppeln? Schließlich muss der zu jedem realen Menschen gehörende virtuelle Doppelgänger ebenso konsumieren, um sein virtuelles Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Und ob es sich dabei um die aktuelle Mode, die neueste Stereoanlage oder den 230-PS-starken Geländewagen handelt: Alles lässt sich in der Welt von Second Life in virtueller Kopie an den Avatar bringen.

Gegenwärtig setzen die aktiven Nutzer in Second Life täglich bereits umgerechnet etwa 1,2 Mio. US-Dollar in der digitalen Währung Linden-Dollar um (benannt nach der Betreiberfirma Linden Lab mit Sitz in Kalifornien). So wächst die drei Jahre junge Wirtschaft derzeit um bis zu 20 Prozent pro Jahr - eine Zunahme, die in der realen Ökonomie undenkbar ist.

Die virtuellen Unternehmensvertretungen haben dabei allerdings stets auch den Verkauf der realen Produkte im Auge. Gerade in der Verschmelzung von On- und Offline-Märkten erkennen sie eine überaus interessante Perspektive. So erhalten Käufer digitaler Kleidung einer bekannten amerikanischen Bekleidungskette bereits einen 15prozentigen Rabatt auf Textilien in den "echten" Filialen. Konsum im virtuellen und im realen Leben gehen - und gedeihen - auf diese Weise Hand in Hand.
Chatten im E-Kapitalismus

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die bloße Teilnahme an Second Life im Rahmen einer Basis-Mitgliedschaft kostenlos ist. Denn recht bald erkennt der Nutzer, dass ohne Kapital auch in der virtuellen Welt wenig Aussicht auf Amüsement und Unterhaltung besteht. Unter den unzähligen Angeboten lassen sich nämlich nur wenige finden, die dem Avataren tatsächlich frei zur Verfügung stehen.

Erst mit einer Premium-Mitgliedschaft, monatlich für 9,95 US-Dollar zu haben, erhält der Nutzer nicht nur ein wöchentliches Taschengeld in Höhe von 300 Linden-Dollar ausgezahlt, sondern auch die Möglichkeit, virtuelles Land (in Form von Serverkapazitäten) zu kaufen und zu bebauen. Damit besitzt der Nutzer einen eigenen Teil der virtuellen Welt und kann somit auch bestimmen, wer sein privatisiertes Grundstück betreten darf.

Die Preise der künstlich knapp gehaltenen Besiedlungsflächen unterliegen dabei starken Schwankungen, da virtuelle Immobilienfirmen riesige Landflächen günstig aufkaufen, aufwerten und teuer wieder verkaufen. So brachte es Ailin Gräf, die mit ihrem ersten Namen Anshe Chung heißt und in der Nähe von Frankfurt am Main lebt, mit der Spekulation virtueller Grundstücke zur ersten Dollar-Millionärin in Second Life. In ihrem Fall hat sich der virtuelle Reichtum also längst materialisiert: Seit Anfang 2006 beschäftigt die gebürtige Chinesin zusammen mit ihrem Ehemann im chinesischen Wuhan bereits 30 Beschäftigte, die bei der Aufwertung des virtuellen Landes behilflich sind, um dieses anschließend lukrativ an Neusiedler zu verkaufen.

Doch damit sind den konsumistischen Möglichkeiten in Second Life noch lange keine Grenzen gesetzt: Die Avatare kaufen sich, neben Luxusgütern jeder Art, das Aussehen von Hollywood-Stars oder neue Bewegungsabläufe, darunter schwierige Tanzschritte, Kamasutra- Stellungen und außergewöhnlich Mimiken. Insofern arbeitet Second Life an der permanenten Selbstperfektionierung bzw. Schöpfung des idealen Avatars. Da sich jedoch auch in Second Life, ganz dem Ersten Leben entsprechend, der eigene Status vorrangig über den Besitz von Luxusgütern und das eigene Aussehen aufwerten lässt, zielt es vor allem auf eines ab: den permanenten Export der angesagten Trends der wirklichen Welt in den grenzenlosen Chat-Room des zweiten Lebens, damit sie dort ein weiteres Mal unter das Avatarenvolk gebracht werden können.
Konsum statt Utopie

Der rauschende Konsum in Second Life mag überraschen - ist es doch grundsätzlich durchaus möglich, sämtliche Produkte innerhalb der virtuellen Welt selbst herzustellen. Die Betreiberfirma hat mit der Eröffnung der digitalen Spielwiese nur wenig mehr als die virtuelle Gravitation und einige Hintergrundfunktionen zur Verfügung gestellt. Alles aber, was das Leben in Second Life ausmacht - Kleidung, Körperformen, Haut und Haare, Gebäude, Möbel, Bewegungen und Animationen -, besteht aus Texturen und Programmiercodes. Die erforderliche Geduld bzw. das notwendige Wissen, für die Erstellung des Codes, bringen jedoch längst nicht alleNutzer mit. Allerdings können sie sich dieses Wissen in speziellen Kursen aneignen - in der Regel aber auch das nur gegen Bares.

Wer seinen Doppelgänger also glücklich und beliebt machen möchte, muss somit entweder eine monatliche Gebühr an die Betreiber der digitalen Parallelwelt entrichten - oder aber seinen Avatar zu einer der virtuellen Arbeitsämter schicken, ganz wie im wirklichen Leben. Hier werden Tänzerinnen, Stripper, Hostessen oder virtuelle Verkäufer vermittelt. Für den Nutzer bedeutet dies Zweischichtbetrieb: Nach Feierabend im realen Leben kann er sich im Netz weiter abrackern - dieses Mal für den virtuellen Erfolg des Avatars. Bekommt dieser dann sein Gehalt ausgezahlt, kann er sein virtuelles Leben genießen, indem er sich all das kauft, was er für seinen erfolgreichen sozialen Aufstieg benötigt.

Und auch hier kennt das Netz keine Grenzen: Im Gegensatz zu seinem Nutzer vermag die eigene Figur weder körperliche Müdigkeit, Hunger oder Durst zu verspüren, noch kann sie altern oder getötet werden. Zudem bleiben die realen Nebenwirkungen der alten Welt außen vor: Unwetter brechen nicht aus,Klimaveränderungen, Massenkarambolagen oder Epidemien sind ebenso wenig möglich. Kurzum: Es gibt kein "Game Over" in Second Life.1

Somit herrschen wirklich perfekte Bedingungen für einen lupenreinen Markt-Kapitalismus, der die schädlichen Folgen seines Handelns nicht in Betracht ziehen muss. Niemand kommt in Second Life auf die Idee, über Lohnzuwächse zu diskutieren; keiner droht mit der Verlagerung der Produktionsstätten auf andere Server; und gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen, Umweltschäden oder die Knappheit von Ressourcen stehen auch nicht auf der Agenda.

Die ökonomischen Rahmenbedingungen könnten aus Sicht der Unternehmen also nicht besser sein. Sie brauchen nur abzuwarten, dass die Nutzer in Scharen in die andere Welt übersiedeln und das konsumistische Spiel mitspielen. Die Idee jenes virtuellen Raums jedoch, der frei ist von den Eingriffen einer übermäßig kommerzialisierten Warenwelt, bleibt dabei auf der Strecke und damit tatsächlich - Utopie.
1 Vgl. den Beitrag von Thorsten Oye in diesem Heft.
Blätter für deutsche und internationale Politik © 2007