Telekom im freigelassenen Kapitalismus

in (02.06.2007)

Als am 3. September 1993 im Bundestag auch die damals noch oppositionelle SPD durch ihre Zustimmung zu einer weiteren Grundgesetzänderung mit entschied,

daß nach der Bahn auch die Deutsche Bundespost privatisiert und anschließend - zerlegt in Deutsche Post AG, Deutsche Postbank AG und Deutsche Telekom AG - den ungehinderten Marktkräften ausgeliefert werden konnte, ahnten wohl die wenigsten, was sie damit anrichteten.

Das heutige Desaster eines international agierenden, hochverschuldeten Großkonzerns, der sein hierzulande in zwölf Jahren fast halbiertes Personal dazu zwingen will, bis zu 40 Prozent Lohnkürzungen zu akzeptieren, und damit droht, ansonsten ein Übernahmekandidat für Hedgefonds zu werden, war vielleicht nicht absehbar, aber es gab auch damals schon genügend Stimmen, die davor warnten, öffentliche Dienste privaten Gewinninteressen auszusetzen und wesentliche Teile der nationalen Infrastruktur der demokratischen Willensbildung und Kontrolle zu entziehen.

Beim Start versprach das Telekom-Unternehmen eine unablässige Erfolgsgeschichte zu werden. In den Jahren zuvor war das Festnetz auf Kosten der Allgemeinheit auf modernsten technischen Stand gebracht worden. Getrieben von der neu zugelassenen Konkurrenz ließ die Telekom die Gebühren purzeln, was alle erfreute. Der Wettbewerb schien ihr gutzutun, der Geschäftsumfang wuchs. Sie investierte in neue Produkte und peppige Kundencenter, versprach in Werbespots, jeder bisherige "Teilnehmer" werde jetzt als "Kunde" behandelt und damit ein König. Zugute kam ihr auch, daß das Gros ihrer alten Klientel jahrelang den Wechsel scheute.

Und die Deutsche Telekom ging weltweit auf Einkaufstour. So wurde die EU-Osterweiterung zur Übernahme der meisten dortigen Telekommunikationsgesellschaften genutzt. Heute hat der Konzern Tochterfirmen und Beteiligungsgesellschaften auf allen Kontinenten. Das Geld für diese Umwandlung in einen Global Player liehen die Banken dem ehemaligen Staatsmonopolisten gern. Spektakulär war der Erwerb der US-amerikanischen Mobilfunkfirmen Voicestream und Powertel für 39,4 Milliarden DM (mehr als 20 Milliarden Euro) im Jahre 2001.

1997 hatte die Ausgabe der Telekom-Aktien für zunächst 14,57 Euro pro Stück auch viele Kleinsparer auf das Börsenparkett gelockt, die Zeit eines Volkskapitalismus schien eingeläutet: Der Kurs der Telekom-Aktie stieg und stieg, der Finanzminister konnte bei weiteren Ausgabeaktionen 1999 einen Stückpreis von 39,50 Euro und 2000 gar 66,50 Euro verlangen. Die mit viel Werbeaufwand aufgeheizte Nachfrage ließ den Kurs im März 2000 bis auf 104,90 Euro ansteigen - wer drei Jahre zuvor zum Einstiegspreis gekauft hatte, hätte jetzt eine Wertsteigerung von 720 Prozent erzielen können. Derart clever waren aber nur einige professionelle Anleger, das tumbe Volk wollte noch mehr und mußte erleben, wie der Stückpreis zeitweilig auf zehn Euro abstürzte; in letzter Zeit schwankt der Kurs zwischen 12 und 14 Euro.

Bald nach der Privatisierung begann die "Personalverschlankung". Dafür leisteten die Regierenden zunächst allerlei Hilfen. Lukrative Frühpensionierungen wurden aus dem Staatshaushalt bezahlt, überflüssig gemachte junge Telekombeamte konnten in andere staatliche Dienststellen wechseln. Mehr als 100.000 Arbeitsplätze fielen bei der Telekom den Rationalisierungen im Inland bisher zum Opfer, gut 40 Prozent. Die Arbeit, die inzwischen durch den Ausbau der Callcenter und Servicepoints und weitere Modeerscheinungen des sich überschlagenden Medien- und Kommunikationsmarktes nicht weniger geworden ist, muß jetzt von nur noch rund 150.000 Beschäftigten geleistet werden. Daß durch die Privatisierung der gesamten einstigen Deutschen Bundespost fast 300.000 Arbeitsplätze wegfielen, kümmert wohl keinen der Grundgesetzänderer von 1993.

Seit Jahren ist aus der anfänglichen Erfolgsgeschichte des rosa Riesen eine Chronik der Krisen und Skandale geworden - daß die lange Zeit zu Werbezwecken hochgepuschte Telekom-Rennradgruppe gerade im Doping-Sumpf versinkt, paßt ins Bild. Das Management mußte des Öfteren ausgewechselt werden, doch die angepeilten Gewinnmargen blieben aus - nicht zuletzt, weil die vielen Zukäufe die Schuldenlast bis auf 60 Milliarden Euro anwachsen ließen und die Zinsforderungen der Banken vorrangig bedient werden müssen. Die Schulden sind immer noch höher als der gegenwärtige Aktienwert von 58 Milliarden Euro. Um den Kurs zu halten, wurden zuletzt an die Aktionäre 3,1 Milliarden Euro ausgeschüttet, die aber zu 60 Prozent aus Rücklagen, also wiederum aus der Substanz, bezahlt werden mußten.

Nicht ganz zu Unrecht macht die Telekom-Führung für diese Misere die Regierung mit verantwortlich. Die vom Staat eingerichtete Regulierungsbehörde hat einen immer brutaler werdenden Wettbewerb auf dem Telekommunikationsmarkt erzwungen. Die Telekom ist nach wie vor zur flächendeckenden Versorgung verpflichtet - Arcor, Vodafone und andere dürfen sich die Rosinen herauspicken. Außerdem hat die Schröder-Regierung mit Hartz-Gesetzen und Deregulierung des Arbeitsmarktes dafür gesorgt, daß sich die Konkurrenz mit Minijobs und Dumpinglöhnen Kostenvorteile verschaffen kann.

Also schmilzt die treue Stammkundschaft der Telekom allmählich dahin. Warum sollte der Telefon- und Internetkunde auch weiterhin den Billiganbietern widerstehen? Es spricht sich herum, daß die Telekom schon lange kein Staatsunternehmen mit sozialen Standards mehr ist. Die dort noch Beschäftigten werden inzwischen ähnlich schikanös behandelt wie sonst in der freien Wirtschaft. 50.000 von ihnen sollen jetzt in eine zu gründende Tochtergesellschaft überführt werden, wo sie vier Stunden mehr in der Woche arbeiten müssen und neun Prozent weniger Lohn bekommen. Außerdem soll die Arbeitszeit erst vom Einloggen ins System an gerechnet und bezahlt werden. Insgesamt würde dadurch der Stundenlohn um 40 Prozent sinken. Daß die Mitarbeiter gegen derartige Zumutungen zu über 90 Prozent für Streik votiert haben, war absolut notwendig, auch die Bevölkerung sieht das so.

Die Manager wollen durch den Lohnraub 900 Millionen Euro jährlich einsparen. Sie behaupten, nur so bleibe gewährleistet, daß der Aktienkurs nicht wieder absacke. In einem Spitzengespräch im Finanzministerium in Berlin soll Telekomchef René Obermann die Gefahr an die Wand gemalt haben, das Unternehmen könne sonst einer "feindlichen Übernahme" auf dem Kapitalmarkt nicht widerstehen. Ver.di-Chef Bsirske, der auch geladen war, soll sich davon nicht beeindruckt gezeigt haben. Der Streik verschiedener Sparten bei Telekom wurde intensiviert. Da besonders der Kundendienst und der Netzservice betroffen sind, bekommen dies alle anderen Anbieter auch zu spüren. Aus der übrigen Privatwirtschaft kommen Rufe, den Arbeitskampf schnell zu beenden, um ihre normalen Geschäfte nicht weiter zu beeinträchtigen. Die Politiker aber dringen auf Einhaltung der Sparziele; Obermann müsse jetzt beweisen, ob er etwas tauge. Der Bund hält immer noch knapp 32 Prozent der Aktien, 64 Prozent sind in Streubesitz, aber 4,5 Prozent besitzt schon die Finanzierungsgesellschaft "Blackstone Group", eine von Münteferings "Heuschrecken".

Das Telekom-Management agiert wie alle anderen. Die großen Konzernchefs - ob bei Siemens, VW oder der Deutschen Bank - brüsten sich damit, wie sie durch radikale Lohnkostensenkungen ihre Bilanzen und Aktienkurse in den letzten zwei, drei Jahren in Ordnung gebracht haben: Schröder und seinen "Reform"-Gesetzen sei Dank, der Aufschwung für die Gewinne ist da! Die Löhne mußten in den Keller gefahren werden, damit es so kam, und Merkel und Müntefering müssen an diesen Profitstellschrauben weiter drehen, damit es so bleibt. Es gibt noch ein paar Nachzügler, die jetzt doppelte Ergebnisse bringen müssen: Bei Karstadt-Quelle in Nürnberg oder Leipzig wird gerade dieses verschärfte Kürzungsprogramm mit Ausgliederung in Tochterfirmen und drastischer Lohnsenkung versucht - exakt wie bei der Telekom. Auch dort wird gestreikt.

Die Streikenden brauchen Durchhaltevermögen und Solidarität von uns allen. Wenn sie schließlich zähneknirschend irgendwelchen Kompromissen zustimmen, sollen sie nicht vergessen, wer der Kapitalseite derart viel Spielraum und Durchsetzungsvermögen verschafft hat. Diejenigen Politiker, die, statt den Kapitalismus zu bändigen, ihn freilassen und sich für seine Geschäfte instrumentalisieren lassen, sollen sich nicht wundern, wenn die große Masse derer, die auf Arbeitseinkommen angewiesen sind, sie nicht mehr als ihre Sachwalter, sondern als Gegner wahrnimmt.