Globaler Dialog - transversale Politik: Der

Ende Februar 2007 fanden sich in Bamako (Mali) rund 500 Delegierte aus fünf Kontinenten zum "Weltforum zur Ernährungssouveränität" unter dem Namen Nyéléni 2007 zusammen. Sie beabsichtigten, eine globale und kollektive Strategie zu entwickeln, die - unterstützt von allen Ländern der Erde und durch die Vereinten Nationen garantiert - eine gesicherte Nahrungsversorgung der jeweiligen lokalen Bevölkerung realisieren soll. Neben Via Campesina, einer internationalen Bewegung von LandarbeiterInnen, Landlosen- und Indigenenorganisationen, und Le Roppa (Réseau des Organisations Paysannes et des Producteurs de l'Afrique des L'Ouest), gehörte auch das 1998 ins Leben gerufene, transnationale feministische Aktionsnetzwerk "Frauenweltmarsch gegen Armut und Gewalt"(1) zu den OrganisatorInnen von Nyéléni 2007. Das Engagement für das "Weltforum für Ernährungssouveränität" in Mali gilt ihnen als eine weitere, konsequente Aktivität zur Artikulation und Bündnissuche für ihre feministischen Forderungen in vier zentralen Aktionsfeldern. Auf diese richtet der World March of Women (WMW) - so die Koordinatorin des "internationalen Sekretariats", Diane Matte (2006) - seine strategische Planung bis in das Jahr 2010. Diese Aktionsfelder, abgesteckt auf dem sechsten internationalen Treffen des WMW in Lima (Peru) im Sommer 2006, umfassen erstens Frieden und die Demilitarisierung des Planeten; zweitens Gewalt gegen Frauen, die dazu benutzt werde, das Patriarchat aufrechtzuerhalten; drittens Frauenarbeit im formellen wie informellen Sektor und viertens das "Gemeingut" (ebd.). Hierzu gehört für die weltweiten Aktivistinnen des WMW die Forderung der Kontrolle der Naturressourcen (Böden, Wasser, Saatgut), durch jene "die sie erschließen" sowie der "Respekt gegenüber den Rechten der Landarbeiterinnen, dem Recht von Frauen, Boden zu erben, ihrem Zugang zu Krediten, zu Produktionstechniken, Bildung und Ausbildung und der Teilnahme an Entscheidungsprozessen" (Verdière 2006: 3, eigene Übersetzung). Sich selbst als "unwiderrufliche Bewegung" verstehend, kann das feministische, globalisierungskritische Aktionsnetzwerk, das aktuell aus rund 6.000 Gruppen in 163 Ländern besteht, auf eine facettenreiche Kette von Kampagnen zurückblicken. Der erstmals im Jahr 2000 durchgeführte Frauenweltmarsch gegen Armut und Gewalt erreichte mit einer Vielzahl von lokalen, nationalen und regionalen Aktivitäten über mehrere Monate eine neue Mobilisierungsstufe der globalen Frauenbewegung. Deren Höhepunkt bildete die Übergabe von 4.736.000 weltweit gesammelten Unterschriften unter den Forderungskatalog des WMW in New York durch über 30.000 anwesende Frauen an die Vertreterin von Kofi Annan, des damaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen sowie an Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Und es blieb nicht bei dieser einen globalen Kampagne, die phantasievolle und gewaltfreie politische Aktionen im Kampf für globale Gerechtigkeit unter feministischen Vorzeichen organisierte. Fünf Jahre später führte das globale Aktionsbündnis einen zweiten Frauenweltmarsch durch und schickte eine im weltweiten kollektiven Diskussions- und Konsultationsprozess entstandene Women's Global Charter for Humanity rund um den Globus. Im Folgenden sollen diese weltweit vernetzt organisierten Akteurinnen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und ihre feministische Perspektive innerhalb der globalisierungskritischen Sozialbewegungen auf ihre politische Reichweite befragt werden. In einem ersten Schritt werden die zwei zentralen Achsen der Mobilisierung des Frauenweltmarschs - Armut und Gewalt - eingebettet in die feministische Diskussion über Geschlechtergerechtigkeit im Kontext der UN-Frauenkonferenzen und der dort supranational verhandelten Geschlechterpolitik. Diese können als Teil der nach 1989 etablierten global-governance-Regime unter Beteiligung von Akteurinnen nationaler und transnationaler Frauen(-bewegungs)-NGOs verstanden werden. Ein zweiter Schritt widmet sich der Rekonstruktion der Organisationsprinzipien und -formen sowie der Diskurse und kollektiven Handlungspraxis des Frauenweltmarsches und dessen 2005 präsentierter Women's Global Charter for Humanity. Somit soll verdeutlicht werden, wie diese weltweit agierenden Akteurinnen die zentralen Problemdimensionen der Identität sozialer Bewegungen, des politischen Raumes und des politischen Prozesses für ein globales ebenso wie lokales und nationales kollektives Handeln im Kampf für Gleichheit und Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität in ihren Diskursen reflektieren und in den Organisationsprinzipien und Handlungsformen zu entsprechen suchen. In einem dritten Schritt werden im Rückbezug auf die feministischen Kontroversen über eine Politik der Umverteilung oder eine Politik der Identität als Dimensionen von Gerechtigkeit (Fraser 2001) zunächst die politische Reichweite und das transformative Potential des WMW ausgelotet. Sodann wird im Rekurs auf das Konzept der "transversalen Politik" (Yuval-Davis 2006) abschließend die Frage aufgeworfen, ob es dem Frauenweltmarsch gelingt, der vielfach diskutierten Problematik einer Essentialisierung von Frauen zu begegnen, d.h. der Gefahr zu entgehen, ein einheitliches und somit ausschließendes Subjekt "Frau" als Handlungsprämisse von Frauenbewegungen zu unter- bzw. herzustellen. Um zu einer analytischen Darstellung der Organisationsprinzipien und -formen, Diskurse und kollektiven Handlungspraxis des WMW zu gelangen, steht das artikulierte Selbstverständnis des feministischen Aktionsnetzwerks im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, d.h. die von den kollektiven Akteurinnen selbst konstruierte Identität als soziale Bewegung. Für diesen Zugang erweist sich die Forschungsmethodologie des Soziologen Manuel Castells, die er seiner Analyse gegenwärtiger Sozialbewegungen in der "Netzwerkgesellschaft" zugrunde legt, als wegweisend. Denn für Castells gilt es, soziale Bewegungen in ihren eigenen Begriffen zu verstehen: "also, sie sind, was sie sagen, dass sie sind" (Castells 2002: 77, Hervorhebung im Original.). Mit Hilfe von drei Prinzipien typologisiert er die Praxen und Diskurse einer sozialen Bewegungen: erstens ihre jeweilige "Identität", sprich Selbstdefinition; zweitens ihren jeweiligen "Gegner", d.h. den Hauptkontrahenten, der ausdrücklich kenntlich gemacht wird; und drittens ihr "gesellschaftliches Ziel", sprich ihre Vision gesellschaftlicher Organisation, die sie im "historischen Horizont ihres kollektiven Handelns erreichen will" (ebd.). Diese Methodologie bewahrt Castells davor, bei der Rekonstruktion sozialer Bewegungen diesen aus einer spezifischen Perspektive heraus vorzuschreiben, was die AktivistInnen zu sein hätten bzw. tun sollten. Er weist somit einen wissenschaftlichen Zugriff auf kollektive AkteurInnen zurück, der ihre Diskurse und Praxen an den "'wirklichen' strukturellen Widersprüchen" (a.a.O.: 77) meint vermessen zu können, also ihnen von einer 'höheren Warte' aus die 'tatsächlich' zu führenden Kämpfe diktiert. Konkretisiert für die analytische Darstellung des Frauenweltmarsches bedeutet dies, nach Entstehungsgeschichte, Akteurinnen, Organisations- und Aktionsformen, Zielen und Forderungen, Visionen und Utopie der Bewegung zu fragen, also auf die Werte, Praxen und Diskurse zu fokussieren, mit welchen sich die weltweit vernetzten Aktivistinnen selbst definieren.(2)

GeschlechterGerechtigkeit(3) im global-governance-Regime

Ob die aktuellen statistischen Zahlen des UN-Forschungsinstitutes für Soziale Entwicklung, des UN-Wirtschafts- und Sozialrates oder der Internationalen Arbeitsorganisation zugrunde gelegt werden - eine Aussage lässt sich durch alle diese Erhebungen und Berichte hindurch stets aufs Neue festhalten: Weder sind Frauen dieser Welt dem Ziel der Gleichstellung der Geschlechter noch dem der Geschlechtergerechtigkeit in einem Maß näher gekommen, wie es 1995 das Abschlussdokument der UN-Weltfrauenkonferenz in Beijing, die "Aktionsplattform", programmatisch formulierte. So definiert deren erstes Kapitel im expliziten Rekurs auf Frauen- als Menschenrechte das Ziel der "Gleichberechtigung von Frau und Mann als Vorbedingung für soziale Gerechtigkeit" (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1996: 11). Auch die Kernempfehlungen der "Strategischen Ziele und Maßnahmen" zu Armut, Bildung- und Ausbildung, Gesundheit, Gewalt, bewaffneten Konflikten, Wirtschaft, politischer Partizipation, Mechanismen der Frauenförderung, Frauen- als Menschenrechte, Medien, Umwelt und Mädchen spiegeln wider, dass Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern als Leitplanken in das völkerrechtliche Dokument eingezogen wurden, für deren Realisierung die ratifizierenden Regierungen garantieren sollen. Insbesondere die USA und die Weltbank hatten die Verringerung des Gefälles zwischen den Geschlechtern hinsichtlich Gleichheit und Gerechtigkeit im Zuge der hoch kontroversen Diskussionen über die "Aktionsplattform" gefordert. Jedoch fehlte in dem Dokument, nicht zuletzt aufgrund des Widerstandes dieser mächtigen Akteure, eine konsistente Analyse der weltweit durchgesetzten kapitalistischen Markt- und Herrschaftsverhältnisse als einer zentralen Ursache bestehender Ungleichheit und Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern. So wurde etwa die Feminisierung der Armut beklagt, doch ermangelte es einer systematischen Auseinandersetzung mit den "wirtschaftlichen Strukturen, die verantwortlich sind für die wachsende Armut von Frauen, für nur geringe Fortschritte oder gar Rückschritte im Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung und auch zum Teil für zunehmende Gewalt gegen Frauen" (Wichterich 1996: 89). Demgegenüber hatten sich Aktivistinnen im parallel stattfindenden NGO-Forum in Huairou aus einer geschlechterreflektierten Perspektive der Frage wirtschaftlicher Gerechtigkeit zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden zugewandt. Sie forderten die Anerkennung der Nicht-Teilbarkeit von individuellen bürgerlichen und politischen sowie sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten und die Bekämpfung der Ursachen statt der Folgenverwaltung von Gewalt und Umweltzerstörung (vgl. Ruf 1996). Diese Position repräsentierend, kritisierte die prominente indische Ökofeministin Vandana Shiva die ihrer Meinung nach US-amerikanisch inspirierten, euphorisch gestimmten Reden und Presseberichte zur Weltfrauenkonferenz in Beijing. Sie konstruierten einen verengten Menschenrechtsbegriff, der diejenigen Rechte ausschließe, die auf "ökonomischer, ökologischer und sozialer Gerechtigkeit basieren" (Shiva 1996: 137). Shiva deklarierte Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern als "leeren Slogan in einer Zeit, wo es keine Gerechtigkeit zwischen den Armen und Reichen gibt, zwischen den Mächtigen und den Schwachen, zwischen Menschen und Nationen" (ebd.). Shiva wandte sich gegen die verengte Perspektive des mainstreaming von Frauen in diese sukzessive an Macht verlierenden politischen Arenen. Diese Perspektive ist eingelassen in ihre Analyse der Schwächung der Vereinten Nationen durch deren Unterordnung unter die Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank, der Marginalisierung von demokratisch legitimierten Regierungen und Gremien durch Entscheidungen der internationalen Bürokratien von Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) und der Erosion nationaler Gestaltungsräume im Rahmen der "Neuen Weltordnung", die auf deregulierter Privatwirtschaft und freiem Handel basiere. Nicht Mitmacht in den politischen Herrschaftsinstitutionen identifiziert sie als Ziel der an der Durchsetzung globaler Gerechtigkeit beteiligten frauenbewegungspolitischen Akteurinnen, sondern die Orientierung an einem umfassenden herrschaftskritischen Handlungsrahmen: "Anstelle von Herrschaft wollen Frauen Solidarität. Anstelle von Gewalt wollen sie Frieden. Anstelle von Ungerechtigkeit wollen sie Gerechtigkeit. Allerdings wollen sie eine Geschlechtergerechtigkeit, die nicht abgetrennt ist von anderen Formen der Gerechtigkeit. Für Frauenbewegungen sind Gerechtigkeit und Gleichheit untrennbar. Geschlechtergerechtigkeit schließt Umweltgerechtigkeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit ein" (a.a.O.: 138). Fünf Jahre nach Beijing versuchte der Frauenweltmarsch gegen Armut und Gewalt auf Basis weltweit organisierter kollektiver Aktionen diesen von Shiva im Anschluss an die 4. UN-Weltfrauenkonferenz für das Kollektivsubjekt "Frauenbewegungen" formulierten programmatischen Handlungshorizont einer umfassenden GeschlechterGerechtigkeit mit Leben zu füllen. Für das Aktionsnetzwerk, das sich ausdrücklich auf die Menschenrechtskonventionen beruft, stellt die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit neben Gleichheit, Freiheit, Frieden und Solidarität das gemeinsame ethisch-normative Dach einer transnationalen Frauenbewegung dar, die kapitalistische und patriarchale Herrschaft unter dem Signum einer neoliberalen Globalisierung gleichermaßen anklagt und weltweit aufheben möchte. Als "globaler Protest von unten" stellt der Frauenweltmarsch zugleich eine kollektive politische Handlungsalternative dar zu der Partizipationsstrategie von Lobbyistinnen und flying experts nationaler und transnational vernetzt agierender Frauen(bewegungs)-NGOs am global-governance-Regime der Vereinten Nationen (vgl. Altvater & Brunnengräber 2002; Meyer & Prügl 1999). Denn mit ihren konfrontativen und dezentralen Graswurzel-Aktivitäten setzen die Frauenweltmärsche ein Gegengewicht zu der von ExpertInnen und DiplomatInnen geführten Verhandlungskultur der UN-Konferenzen, da sie Themen, Zeiten und Orte selbst bestimmen; und zugleich stellten sie eine Alternative zu den Energien und Geld absorbierenden Vor- und Nachbereitungsmarathons für das Jet-Set der an ihnen beteiligten Frauen(bewegungs)politikerinnen dar (Wichterich 2005). Dies geschieht vor dem Hintergrund der seit Ende der 1990er Jahre immer nachdrücklicher artikulierten Desillusionierung der NGO-Akteurinnen darüber, wie eingeschränkt sich ihnen die Chancen darstellen, dass bei der 4. Weltfrauenkonferenz in Beijing Erreichte zu sichern und geschlechterpolitische Problemdimensionen auf der Agenda der supranationalen und internationalen Verhandlungsarenen zu bewahren (Borthfeldt 2005; Brabandt 2005). Zugleich eroberten die Frauenweltmärsche "die Straße als öffentlichen Raum für Frauenpolitik zurück" (Wichterich 2004: 183) und mobilisierten in einem ungeahntem Ausmaß weltweit Frauen für einen öffentlich sicht- und hörbaren Kampf für die Durchsetzung ihrer Forderungen und Ziele. Somit relativiert der WMW zum einen die vielfach konstatierten Krisen und Defizite der Frauenbewegungen, zum anderen weist er die formulierte Kritik an deren Passivität bzw. Reaktivität sowie fehlender Mobilisierungsfähigkeit gerade auch hinsichtlich des Themas sozialer Gerechtigkeit zurück (vgl. Holland-Cunz 2003; Unmüßig 2005). Anders als die Protestereignisse der Globalisierungskritiker seit 1999 in Davos, Seattle, Genua und Prag, also anders als die medientauglichen, weil auch militanten, Aktionen der "Gipfelstürmer und Straßenkämpfer" (Brunnengräber 2005), wurden die Frauenweltmärsche weder in den bundesdeutschen Medien bzw. in der politischen Öffentlichkeit noch in der Globalisierungs- und Bewegungsforschung nennenswert zur Kenntnis genommen. Selbst in den hiesigen frauen- und geschlechterpolitischen Zusammenhängen sowie in der sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung sind die zwei Frauenweltmärsche und die Women's Global Charter for Humanity weitgehend unbemerkt geblieben. Doch bedarf es für eine geschlechterreflektierte Empirie und Theorie globalisierungskritischer Sozialbewegungen der Auseinandersetzung mit den Akteurinnen dieses Netzwerkes, ihren Organisations- und Handlungsformen, Diskursen und ihrer feministischen Vision.

Organisations- und Handlungsformen, Diskurse und normativer Horizont des "Frauenweltmarsch gegen Armut und Gewalt"

Die Idee für einen Frauenweltmarsch gegen Armut und Gewalt geht auf die Kampagne der "Föderation der Frauen von Québec" (Fédération des femmes du Québec, FFQ) unter dem Titel "Brot und Rosen: Québec Frauenmarsch gegen Armut" zurück. Insgesamt vierzig lokale und provinzweite Frauengruppen und -zentren, soziale Einrichtungen und Gewerkschaften organisierten in der frankophonen kanadischen Provinz Québec im Jahr 1995 einen zehn Tage dauernden Frauenmarsch. Sie forderten vor dem Hintergrund breiter öffentlicher Unterstützung und unter Teilnahme von Vertreterinnen von Frauenorganisationen aus Kamerun, Nikaragua und den Philippinen soziale Veränderungen unter Berücksichtigung der ökonomischen Bedürfnisse von Frauen, konkret: "Gleichbewertung von Frauenarbeit, eine Erhöhung des Mindestlohns, Einwanderungsrechte für Frauen, die Schaffung von neuen Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen, verbesserte soziale Dienste und Arbeitstrainingsprogramme" (Staggenborg & Lecomte 2001: 48). Auf dem NGO-Forum zur UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Huairou stellten Vertreterinnen der FFQ ihre Kampagne vor und stießen mit der Idee eines Frauenweltmarsches auf das Echo von Frauenbewegungsaktivistinnen des Südens, die für den Kampf von Frauen um Gleichheit, Entwicklung und Frieden die Notwendigkeit betonten, globale Solidarität und Allianzen zu schaffen. Diese Begegnung bildete den Ausgangspunkt für eine transnationale Frauenbewegungs-Koalition, die im Oktober 1998 bei einem Treffen von Frauen aus allen Weltregionen in Montreal (Québec) einen Frauenweltmarsch gegen Armut und Gewalt für das Jahr 2000 plante, eine Aktionsplattform formulierte und die monatelangen Aktivitäten der Kampagne organisierte. Zur Koordinierung der transnationalen und zur Informationsvermittlung über die nationalen und lokalen Gruppen und Aktionen wurde ein internationales Sekretariat mit Sitz in Montreal eingerichtet, das mit Hilfe des Internet bis heute als zentrale elektronische Anlaufstelle des WMW fungiert. Von Beginn an umfassten die Organisationsprinzipien des WMW fünf Punkte: Erstens liegt die Führung der Organisation "in den Händen von Frauen"; zweitens sind alle Regionen der Welt an der Führung zu beteiligen; drittens müssen partizipierende Gruppen die Ziele und den Aktionsplan des Frauenweltmarsches teilen, während die Entscheidung über spezifische Aktivitäten in ihren jeweiligen Ländern unabhängig bleibt; viertens sind die Vielfalt der Frauenbewegung ebenso wie fünftens der pazifistische Charakter des Frauenweltmarsches anzuerkennen, zu respektieren und wertzuschätzen (www.marchemondiale.org/en/ffq.html). Indem sie sich aus feministischer Perspektive mit ihren Forderungen ausdrücklich auf die Menschenrechtskonventionen berufen, beabsichtigte der WMW das weltweite Sichtbarmachen einer breiten Bewegung von Basisgruppen, die Förderung der Gleichheit zwischen Frauen und Männern und die gemeinsamen Forderungen der transnationalen Frauenbewegung in Bezug auf die Bekämpfung der Armut von und Gewalt gegen Frauen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen. Des Weiteren sollten Regierungen und EntscheidungsträgerInnen unter Handlungsdruck gesetzt werden, die Stellung von Frauen und deren Lebensqualität verbessert und demonstriert werden, dass die beteiligten Aktivistinnen beabsichtigten, "die Welt zu verändern" (ebd.). So umfasst die in 163 Ländern lancierte Aktionsplattform des ersten Frauenweltmarsches, der am 8. März, dem Internationalen Frauentag, begann und am 17. Oktober, dem "Internationalen Tag gegen Armut" endete, 17 praktische Forderungen. Sie richteten sich einerseits auf die Aufhebung weltweiter Armut und gerechte Reichtumsverteilung und andererseits auf die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und den Respekt gegenüber ihrer physischen und psychischen Integrität.(4) In jedem der 163 beteiligten Länder aus Nord- und Lateinamerika, Asien, Ozeanien, Afrika, Europa und den Arabischen Ländern organisierten sich die Aktivistinnen autonom unter der gemeinsamen Parole, "Wir wollen die Gewalt gegen Frauen und die Armut in der Welt beenden" und formulierten jeweils ihre "2000 spezifischen Gründe" für eine Partizipation. Somit sollte das Ziel gewahrt bleiben, lokale bzw. nationale Organisierungsprozesse in Bezug auf die jeweiligen Geschlechterverhältnisse und geschlechterpolitischen Konflikte und Widersprüche aufrechtzuerhalten, trotz des gleichzeitigen Anknüpfens an die universale Agenda des globalen Kampfes gegen Armut von und Gewalt gegen Frauen. Erprobt wurde so vom WMW eine Politik der Allianzen zwischen lokaler und globaler Frauenbewegung, d.h. eine "Glokalisierung" der Bewegung, die versucht, angesichts der Spannungen von lokalem Ort und globalem Raum im Zuge von Globalisierungsprozessen wirksame politische Handlungsformen zu entwickeln. Hierin eingelassen war das Ziel, Machthierarchien zwischen vor Ort agierenden Graswurzelgruppen und nationalen Organisationen sowie regionalen und transnationalen Netzwerken aufzuheben (vgl. Naples 2002). Das Aktionsnetzwerk bestand auch nach Abschluss des ersten Frauenweltmarsches fort und trieb seine Politik der Bündnisse mit anderen Sozialbewegungen im Kampf für globale Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden voran: Vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Terrorbekämpfung nach dem 9. September 2001, dem Einmarsch in Afghanistan und dem Krieg gegen Irak verstärkten die Aktivistinnen ihre Allianzen mit sozialen Bewegungen im Feld der Friedenserhaltung und Entmilitarisierung, so mit den "Frauen in Schwarz", einem 1988 in Israel gegründeten, transnationalen Frauenfriedens-Netzwerk. Zugleich beteiligte sich der WMW an Protesten von GlobalisierungskritikerInnen, u.a. gegen die WTO-Politik in Cancún im September 2003. Exponiert und mit vielfältigen Aktivitäten partizipierte der Frauenweltmarsch von Beginn an am Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre (Brasilien), sowie in Mumbai (Indien). So gelang es dem WMW im Jahr 2002 Sexismus ebenso wie Rassismus und Gewalt als Grundlagen des bestehenden patriarchalen und kapitalistischen Systems in den "Aufruf der sozialen Bewegungen" (2002) des WSF einzuschreiben. Als Motivation für seine Teilnahme am Weltsozialforum benannte der WMW die Hoffnung, feministische Themen beim Aufbau einer "neuen Welt" einbringen zu können. Offensiv formulierte der Frauenweltmarsch: "Wir glauben, dass dieses Netzwerk aufzeigen kann, dass der Kampf um Gleichheit eine erfolgreiche Strategie für alle sozialen Bewegungen darstellt. Damit eine andere Welt Wirklichkeit wird, müssen wir anders arbeiten, denken und handeln. Das bedeutet, dass wir neue Aktionsformen erfinden müssen und unsere Utopien radikalisieren, damit diese die Überwindung aller Formen der Unterdrückung beeinhalten. ... Wie wir wissen, müssen wir die Welt verändern, um das Leben von Frauen zu verändern. Genauso wissen wir, dass ohne Frauen und ohne Feminismus keine andere Welt möglich ist" (World March of Women 2003). Neben diesen vielfältigen Aktivitäten im Kontext der globalisierungskritischen und friedenspolitischen Sozialbewegungen plante das globale feministische Aktionsnetzwerk bereits unmittelbar nach dem ersten einen weiteren Frauenweltmarsch für das Jahr 2005. Hierfür entwickelten die Aktivistinnen bei internationalen Treffen eine neue organisatorische Basis. Erstens wurde bei einem Treffen in Indien im März 2003 das "Internationale Komitee" gegründet: Dem aus elf Mitgliedern(5) bestehenden und sich zweimal jährlich treffenden Komitee kommt eine koordinierende Funktion zu. Zweitens wurden drei "Kollektive" geschaffen, deren Aufgabe darin besteht, den WMW in spezifischen Foren zu repräsentieren, Informationsmaterial zu produzieren und in den jeweiligen Handlungsfeldern politische Debatten zu initiieren: das "Bündnis- und Globalisierungskollektiv", dessen zentrale Aufgabe in der Kooperation mit dem Weltsozialforum sowie dem Social Movements World Network besteht; das "Kommunikationskollektiv" und das "Kollektiv für Frieden und Entmilitarisierung". Drittens wurden drei "Arbeitsgruppen" (Gewalt gegen Frauen, feministische ökonomische Alternativen und Rechte von Lesben) ins Leben gerufen, um Analysen und Visionen sowie Instrumente zur Unterstützung der nationalen Koordinierung und des Internationalen Sekretariats voranzutreiben. Die Charta wurde in einem mehrjährigen weltweiten Diskussions- und Abstimmungsprozess auf Basis der Regionaltreffen von Delegierten sowie Diskussionen und Konsultationen via Internet erarbeitet. Am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, wurde sie beim fünften internationalen Treffen des WMW in Kigali (Ruanda) angenommen. Der WMW präsentierte sie erstmals auf dem fünften Weltsozialforum in Porto Alegre im Januar 2005 einer globalisierungskritischen Bewegungsöffentlichkeit. Die Akteurinnen verstehen sie nicht als Bauplan einer "neuen Welt", sondern als Skizze ihrer Utopie und innovatives Instrument ihrer feministischen Vision. In der Präambel der Charta wird das feministische Engagement des WMW betont und patriarchale und kapitalistische Herrschaft als Systeme der Unterdrückung und Ausbeutung markiert. Deren Wurzeln liegen in Rassismus, Sexismus, Misogynie, Xenophobie, Homophobie, Kolonialismus, Imperialismus, Sklaverei und erzwungener Arbeit. Diese haben laut Präambel mannigfaltige Fundamentalismen hervorgetrieben, welche es Frauen und Männern verunmöglichten, in Freiheit zu leben. Im Anschluss daran erklärt die Charta auf Grundlage der beim ersten Frauenweltmarsch formulierten 17 Forderungen die zentralen Leitideen, die sich im Horizont der politischen Werte von Gleichheit, Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden bewegen. In einem supporting document begründet der WMW, wodurch sich die Charta von ähnlichen internationalen Dokumenten, insbesondere von verschiedenen Menschenrechtsdokumenten, unterscheidet: "Diese Dokumente stellen die Ursachen von Ausbeutung und Unterdrückung nicht in Frage. Sie machen nicht den Kapitalismus und das Patriarchat verantwortlich. Sie stellen die Herstellung eines neuen sozialen Projektes nicht sicher, in dem das ökologische, ökonomische, politische, soziale und kulturelle Überleben des Planeten garantiert wird. Darum brauchen wir eine Charta, die eine radikale Kritik der Ursachen von Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt und Zerstörung vertritt" (Women's Global Charter for Humanity 1998/2001: 2). Während die Women's Global Charter insgesamt 31 Erklärungen (affirmations) im Sinne der feministischen Vision formuliert, nimmt das supporting document mit einer langen Reihe von Anklagen eine Benennung der "Gegner" bzw. der Hauptkontrahenten vor, welche die Realisierung der feministischen, politischen Ziele und Werte verhinderten. Der WMW spricht hier u.a. von transnationalen Unternehmen, den internationalen Finanz- und Handelsinstitutionen, der Waffenindustrie, religiösen Fundamentalisten und Männern, "die es ablehnen, ihre Privilegien zurückzunehmen, die Kontrolle und Macht über Frauen im öffentlichen und privaten Raum ausüben" (ebd.: 3). Im Rahmen des zweiten Frauenweltmarschs brachte das globale feministische Aktionsnetzwerk mittels eines Staffellaufs die Charta in über fünfzig Ländern auf allen Kontinenten in die politische Öffentlichkeit. Die Ralley begann am 8. März 2005 in Brasilien und endete am 17. Oktober 2005 in Burkina Faso. Hier wurde sie gemeinsam mit dem in allen Ländern zusammengetragenen Patchwork World Solidarity Quilt den Vertreterinnen des internationalen Frauenfriedens-Netzwerkes "Frauen in Schwarz" im Rahmen einer feierlichen Zeremonie überreicht. Die Patchworkdecke versucht die feministische Utopie, die sich in der Charta ausdrückt, in stofflicher Form zu bebildern und zugleich die Vielfalt der Perspektiven von Frauen auf die Ziele der Charta manifest zu machen. Zugleich war der Abschlusstag der Ralley der Aktion "24 Stunden globaler feministischer Solidarität" gewidmet: Beteiligte Frauengruppen in allen Zeitzonen versammelten sich zu lokalen kollektiven Aktivitäten, die in jeweils eigener Form die gemeinsame feministische Vision illustrieren sollten, welche auf den in der Charta formulierten, universalen, feministischen Werten beruht. Unter Anerkennung der Vielfalt von Identitäten und Zugehörigkeiten versuchte der WMW auch mit dieser Aktionsform sein Ziel zu realisieren, weltweite Bündnisse von Frauen zu stiften und zu konsolidieren, wie es in der Präambel der Women's Global Charter formuliert worden war: "Wir arbeiten an einer Welt, in der Unterschiedlichkeit als Vorteil und Individualität als Quelle von Reichtum begriffen wird; in der Dialog, Schreiben, Lieder und Träume gedeihen. ... Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden sind ein treibendes Moment. Wir haben die Kraft, diese Welt zu kreieren" (a.a.O.: 1).

Globaler Dialog - transformative Politik

Auf Grundlage der analytischen Darstellung des WMW kann nach der politischen Reichweite dieser sozialen Bewegung gefragt und deren transformatives Potential ausgelotet werden. So lässt sich zunächst festhalten, dass die doppelte globale Agenda des Frauenweltmarsches - Armut von und Gewalt gegen Frauen - die vermeintliche politische Frontstellung auch innerhalb der feministischen Debatte über Gerechtigkeit aufzuheben sucht. Diese Frontstellung verläuft zwischen den Kämpfen der Frauenbewegungen um ökonomische Gerechtigkeit durch Umverteilung einerseits und dem Ringen um die Anerkennung von differenten Kulturen und Identitäten andererseits. Denn der WMW bezieht sich im Sinne der US-amerikanischen Sozialphilosophin Nancy Fraser (2001) auf beide Dimensionen von Gerechtigkeit, nämlich Umverteilung und Anerkennung: Mit der Dimension der Armut von Frauen greift er die Frage ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit auf; mit der Dimension der Gewalt gegen Frauen, also der Forderung nach ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit als Grundlage von Selbstachtung und Selbstwert richtet das feministische Aktionsnetzwerk die Aufmerksamkeit auf "kulturelle Ungerechtigkeit" (ebd.: 28). Denn Selbstachtung und Selbstwert sind für beide Geschlechter abhängig von der Anerkennung der verkörperten menschlichen Würde durch den anderen bzw. die andere. Indem die Frauenweltmärsche sowohl die "Grammatik der Anerkennung" als auch die Architektur der Umverteilung in den Horizont einer weltweiten GeschlechterGerechtigkeit situieren, greifen sie darüber hinaus noch eine weitere, von Fraser als notwendig thematisierte Dimension feministischer Kämpfe um Gerechtigkeit auf: die der Repräsentation. So realisiert der WMW mittels seines transnationalen Organisations- und Aktionsrahmen sowie durch das Aufzeigen der nationalstaatliche Grenzen überschreitenden Ursachen von Ungerechtigkeit das von Fraser formulierte Ziel, deren "falsche territorialstaatliche Rahmung", d.h. ihr misframing zu politisieren und zu überwinden, das "auf Kosten der Armen und Geächteten [gehe], denen das Recht entzogen wird, sich zu wehren" (Fraser 2005: 5). Daher wird für Fraser der Kampf gegen misframing zu einem zentralen Ziel feministischer Politik in ihrer "transnationalen Phase" (Fraser 2006: 49). Sie vermutet vor allem in Europa den Austragungsort dieser beginnenden "dritten Phase des Feminismus", in welcher der Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Güterverteilung mit der Politik der Anerkennung von Identitäten und Differenzen verbunden und auf transnationaler Ebene als Kampf um Repräsentation ausgeweitet werde. Doch gilt es zu konstatieren, dass sich an anderem Ort "multiple transnationale Feminismen" längst beobachten lassen, die "alternative und gegenhegemoniale öffentliche Räume auf den regionalen und globalen Ebenen geschaffen haben, in denen neue Identitäten, grenzüberschreitende Praktiken und Formen des Widerstands und der Rebellion hervorgebracht wurden" (Alvarez u.a. 2004: 267), so etwa die regionalen feministischen Treffen lateinamerikanischer und karibischer Frauen seit den 1980er Jahren. Wie entlang seiner Darstellung nachvollziehbar gemacht werden sollte, erweist sich auch am WMW, dass für globalisierungskritische Frauenbewegungen nicht Feministinnen des "Nordens" die exponierte Vorreiterinnenrolle einnehmen, sondern, dass bislang insbesondere lateinamerikanische und afrikanische kollektive Akteurinnen neben jenen ins Zentrum einer selbst geschaffenen globalen, frauenbewegungspolitischen Dialog-Arena treten. Richtet sich das Interesse am WMW auf die Frage nach dessen transformativem Potential, dann rückt erstens sein Einfluss auf andere globalisierungskritische Bewegungen in den Blick sowie die Fähigkeit, deren blinde Flecken(6) hinsichtlich des Kampfs um GeschlechterGerechtigkeit sichtbar zu machen und diese zu politisieren. So bleibt der WMW, ähnlich wie andere transnational agierende feministische Netzwerke - etwa Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN), Women's Internationale Coalition for Economic Justice (WICEJ) und Articulación Feminista Marcosur (AFM) - nicht bei der Kritik der oft nur "höflichen Toleranz" gegenüber der Präsenz von Frauen, von feministischen Analysen und Forderungen am WSF und der Porto-Alegre-Bewegung, stehen. Vielmehr stellen die Aktivistinnen das Insistieren dominierender Akteure auf einem antikapitalistischen Kampf als dem zentralen Terrain sozialer Bewegungen (vgl. Eschle 2005) offensiv und selbstbewusst in Frage. Dies, indem sie mit ihren eigenen Kampagnen und ihren Bündnisstrategien - wie zuletzt für Nyéléni 2007 - verdeutlichen, dass und wie patriarchale und kapitalistische Herrschaft als Unterdrückungs- und Ausbeutungssysteme als miteinander verschränkte gedacht werden müssen. Folglich gilt es diese mit gleicher Intensität zu bekämpfen, wollen die globalisierungskritischen Bewegungen ihr Ziel realisieren, eine "andere Welt" zu schaffen. Die Frage nach dem transformativen Potential des WMW rückt zweitens die beteiligten Frauen selbst in den Blick. So gilt es zu erklären, was es Hunderttausenden von Aktivistinnen des WMW aus über 160 Ländern ermöglicht, sich mit grundsätzlich verschiedenen Subjektpositionen im lokalen wie globalen Herrschaftsgefüge dem transnationalen feministischen Netzwerk anzuschließen. Wie können sich Frauen auf die Charta als gemeinsame feministische Vision beziehen? - Frauen mit Zugehörigkeiten zu differenten Gemeinschaften, Nationen und Kontinenten und somit mit vielschichtigen und mehrdimensionalen Identitäten; mit völlig unterschiedlichen Erfahrungen und divergierenden Interessen; Frauen, die unterschiedlich entlang der Achsen von Unterdrückung und Herrschaft durch Geschlecht, Klasse, Hautfarbe, Kultur, Geschichte, Religion, körperliche und geistige Befähigung, sexuelle Lebensweise und Alter verortet sind. Dies ist möglich, weil der WMW seine Organisations- und Handlungsformen sowie Werte und Visionen weder auf einer angenommenen einheitlichen, alle Frauen homogenisierenden "weiblichen Geschlechtsidentität" gründet. Noch sucht sich das Aktionsnetzwerk über ein, bereits von black feminists wie Patricia Hill Collins (1990) und bell hooks (1990) kritisiertes, "falsches Programm der Schwesterlichkeit" als transnationale soziale Bewegung zu stabilisieren, d.h. im Rekurs auf vermeintlich alle Frauen verbindende Erfahrungen einer "allgemeinen Frauenunterdrückung", welche die vielfältigen und komplexen Realitäten von Frauen ausblenden. Vielmehr wurzeln die Diskurse und die politische Praxis des Frauenweltmarsches und dessen Charta auf der Anerkennung der Vielfalt von Identitäten und Zugehörigkeiten, die Frauen genauso trennen können, wie differente Ziele und Werte. Konsequent gilt es für die Aktivistinnen daher, einen politischen Prozess zu organisieren, der die jeweils eigenen Erfahrungen und Deutungen der weltweit beteiligten Frauen sichtbar macht und bewahrt. Dies führt jedoch nicht zu einem vage bleibenden Pluralismus möglicher frauenbewegungspolitischer Ziele und Forderungen oder zu politisch kaum mehr zu identifizierenden, weil beliebigen "Feminismen". Denn der herrschaftskritische Bezug auf geschlechterreflektierte Menschenrechte als den universalen Wertehorizont des WMW sowie der Kampf für GeschlechterGerechtigkeit stellen den geteilten normativen Fokus und die geteilte kollektive Handlungsplattform der Akteurinnen dar. Sie müssen keine gemeinsame, das weibliche Subjekt essentialisierende Identität als "Frau" behaupten, sondern sie teilen einen normativen Horizont, der es ihnen erlaubt, von einem Wir ihrer "unwiderruflichen Bewegung" zu sprechen (vgl. Dackweiler 2004). Ähnlich dem vom Netzwerk DAWN geprägten Topos "Universalität in Unterschiedlichkeit" erkennen die Aktivistinnen des WMW die Notwendigkeit an, Differenzen zwischen Frauen verhandeln zu müssen, um Koalitionsbildungen und Solidarität in einem dialogischen Prozess zu ermöglichen (vgl. Braunmühl 2001: 133). Die in England lehrende Soziologin Nira Yuval-Davis hat diesen feministischen Dialog Mitte der 1990er Jahre als "transversale Politik" bezeichnet. Das Konzept der transversalen Politik beruht nach Yuval-Davis "auf einem Dialog, der zwar die unterschiedliche Verortung von Frauen berücksichtigt, aber keiner Frau a priori einen privilegierten Zugang zur 'Wahrheit' zugesteht. Im Rahmen der transversalen Politik wird die falsche Wahrnehmung von Einheit und Homogenität durch eine Reihe von Dialogen ersetzt" (Yuval-Davis 1996: 222). Entscheidend für das Gelingen transversaler Politik sind für sie die Prozesse des rootings und des shiftings: Jede Frau bringt in den Dialog ein, worin ihre Zugehörigkeit und ihre Identität verwurzelt sind; zugleich nimmt sie im dialogischen Prozess einen Perspektivenwechsel vor, verändert somit ihre Position und sich selbst, um sich mit Frauen unterschiedlicher Zugehörigkeit und unterschiedlicher Identitäten austauschen zu können. Somit ist dieser Dialog ein Prozess, in dem alle Beteiligten "sich gegenseitig und die anderen daran Beteiligten neu herstellen" (Yuval-Davis 2006: 286). Die Praxis des WMW besteht zum einen darin, lokalen und globalen Raum zu verbinden, indem die jeweils spezifisch positionierten Frauen ihre jeweils autonomen Aktivitäten mit Bezug auf eine universale Agenda formulieren und Aktionen durchführen. Zum anderen besteht die Praxis in einem aufwendigen Kommunikations- und Verhandlungsprozess zur Ausformulierung der Charta via Internet sowie über verschiedene Treffen nationaler Delegierter. Die Praxis verdeutlicht, wie diese soziale Bewegung versucht, Formen zu finden, einen globalen Dialog zu organisieren und zu stabilisieren. Doch gilt es auch die Grenzen transversaler Politik aufzuzeigen. Diese zeigen sich nicht zuletzt immer wieder entlang der Differenzen zwischen der jeweiligen Positionierung von politischen Aktivistinnen (u.a. hinsichtlich Klasse, Ethnie, sexueller Orientierung und Lebensalter), ihrer Selbst-Identifizierung mit einer Gemeinschaft oder einer sozialen Kategorie und ihren spezifischen, handlungsorientierenden Werten. So können Frauen mit ähnlichen Positionierungen und Identitäten sehr verschiedene soziale und politische Werte haben, die ihnen einen feministischen Dialog im Horizont globaler GeschlechterGerechtigkeit, in dessen Zentrum die Aufhebung der Ausbeutung, Unterdrückung und Unterordnung von Frauen steht, weder möglich noch wünschenswert erscheinen lassen. Zugleich gilt es für einen globalen feministischen Dialog das konflikthafte und mitunter Gruppen- und Gemeinschaftsloyalitäten in Frage stellende Wagnis des Perspektivenwechsels und der Perspektivenvielfalt einzugehen - und dies bedeutet stets das Wagnis der Selbstveränderung im Zuge transversaler Politik.

Anmerkungen

(1) Der Frauenweltmarsch gegen Armut und Gewalt heißt in spanischsprachigen bzw. franko- und anglophonen Ländern Marcha mundial de las mujeres, Marche Mondiale des Femmes bzw. World March of Women (WMW). Im Folgenden spreche ich vom Frauenweltmarsch oder verwende das Akronym WMW. (2) Methodisch stützt sich die Rekonstruktion des WMW zum größten Teil auf die Auswertung von Dokumentationsmaterial, konkret der Website des Frauenweltmarsches, die vom "Internationalen Sekretariat" in Montreal betreut wird, sowie dem hier zugänglichen "Newsletter" und von Informationsmaterial der Websites nationaler Koordinationsgruppen. (3) Mit dieser eigenwilligen Schreibweise möchte ich das ausgeführte Verständnis transnationaler Frauenbewegungsakteurinnen transportieren, dass Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern nicht zu denken ist ohne eine zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, zwischen Armen und Reichen, Mächtigen und Schwachen und somit zwischen Frauen und Frauen sowie Männern und Männern. (4) Als konkrete Maßnahmen zur Aufhebung von Armut forderte der Frauenweltmarsch die Durchsetzung international gültiger Arbeitsstandards, die Einführung einer "Tobin-Steuer", die Investition von 0,7 % des Bruttosozialprodukts der reichsten Länder in Entwicklungshilfe, die Beendigung von Strukturanpassungsmaßnahmen, Schuldenerlass für Länder der Dritten Welt und die Schaffung eines internationalen Übereinkommens über ökonomische, soziale und kulturelle Rechte. In Bezug auf die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen forderte er die Schaffung internationaler Konventionen zur Eliminierung jeder Form der Diskriminierung auf Grund von "Rasse", zum Schutz von MigrantInnen, zum Schutz sozialer und politischer Rechte, gegen Menschenhandel und Ausbeutung von Prostituierten, gegen die Todesstrafe und für das Verbot von Anti-Personenminen, die Ratifizierung von CEDAW (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women) durch alle Staaten der Welt sowie die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs (www.marchemondiale.org/en/fiches-action.html). (5) Jeweils eine Vertreterin aus Brasilien, Burkina Faso, Indien, Italien, Jordanien, Niederlande, Peru, Philippinen, Südafrika, dem "Netzwerk indigener Frauen Amerikas" und der Koordinatorin des Internationalen Sekretariats. (6) So spricht etwa Christa Wichterich pointiert davon, dass das Einbringen feministischer Globalisierungskritik in das breite Spektrum der Porto-Alegre-Bewegung "kein Deckchensticken" sei und stellt fest, dass sich die Weltsozialforen nicht wesentlich von konventionellen politischen Orten unterschieden: "In den dominanten Diskursen globalisierungskritischer Bewegungen geben wieder einmal alt- und neulinke Männer den Ton an. Wieder einmal herrscht eine weitgehende Geschlechterblind- und -taubheit, feministische Perspektiven sind randständig geblieben" (Wichterich 2004: 189).

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Aus: PERIPHERIE Nr. 105/106: "Netzwerke in Bewegung", 27. Jg. 2007, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 81-97

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