Oaxaca, Mexiko

Eine Geschichte des Widerstands.

Was vor sechs Monaten eine Stadt in Flammen war, preist sich heute im Fernsehen als touristisches Paradies an. Oaxaca, Mexiko, leuchtet mit frisch gestrichenem historischem Zentrum, Fernsehwerbungen versichern: "Es ist besser denn je." Doch Hunderte von bewaffneten BeamtInnen der Bundespolizei sichern die Idylle.
Nach einem massiven, intensiven und vielfältigen Kampf, der Hunderttausende auf die Straße brachte, um einer Regierung, die sich durch Despotismus, Korruption und Ungerechtigkeit auszeichnet, ein "¡Basta! Es reicht!" entgegenzubrüllen, scheinen die Leute in Oaxaca nun in Trance gefallen zu sein.
Die Konfrontation mit der Regierung hinterließ 26 Tote, alle durch Kugeln getötet, alle waren unbewaffnet. Sie hinterließ mehr als 300 Menschen im Gefängnis, alle mit Schlägen malträtiert. Hunderte Menschen sind im Exil, alternative Medien bedroht und es gibt mehr als 300 offene Haftbefehle. Das Muster ist immer dasselbe: Die Bevölkerung fordert Gerechtigkeit, die Regierung antwortet mit Repression.
Ein Zeltlager gewerkschaftlich organisierter LehrerInnen besetzt sechzig Blocks des Stadtzentrums von Oaxaca. Mit Plastikplanen als Dächern und Pappkartons als Betten verbringen die Lehrerinnen und Lehrer dort fast einen Monat. Sie weigern sich, die Straßen frei zu machen, bis sie eine Antwort auf ihre arbeitsrechtlichen und sozialen Forderungen haben: eine Gehaltserhöhung und Stipendien für die Mädchen und Jungen, Schuluniformen und eine Neu-Einteilung der Gehaltszonen.1 Die Antwort der Regierung ist nein. Bereits seit seiner Wahlkampagne für die Gouverneurswahl hatte Ulises Ruiz versprochen, in seiner Amtszeit werde es keine Demonstrationen und keine politischen Zeltlager (plantón) geben. Seine nächste Antwort auf die Forderungen ist die Bundespolizei.

14. Juni 2006: Das Morgengrauen des 14. Juni brach mit dem Klingeln hunderter Handys an: "Sie räumen die LehrerInnen" war die Nachricht. Und die zündete die Lunte.
Hunderte kamen zum Zócalo, ohne genau zu wissen, was zu tun war, mitgetragen von den tausenden, die von diesem Schlag geweckt wurden und noch benommen durch die Straßen rannten. LehrerInnen mit Kindern auf den Armen, die vor Tränengas werfenden und Pfefferspray sprühenden PolizistInnen flüchteten. Um halb sieben hatte das Stadtzentrum im wahrsten Sinne Feuer gefangen. Studierende und ältere Frauen kamen aus ihren Häusern und verteilten Wasser, Essig und Coca Cola, um damit die brennenden Augen auszuwaschen. Und sie kamen, um Steine auf die viertausend PolizistInnen zu werfen, die den ausdrücklichen Befehl hatten, jene zu entfernen, die die Stadt "verdreckten". Um neun Uhr war der Zócalo zurückerobert. Die tausenden Unbewaffneten hatten begonnen, die viertausend Uniformierten zu jagen.
Um diese Zeit hatten die Studierenden bereits das Radio besetzt. Eine Frauenstimme ging auf Sendung: "Wir sind hier, um überall zu verbreiten, was sie mit unserer Bevölkerung machen." Von diesem Tag an stand der Staat Oaxaca in Flammen.
Oaxaca, im Süden des Landes, ist eine der Regionen mit der größten Armut und sozialer Ausgrenzung. Der Anteil der indigenen Bevölkerung ist hoch - die Diskriminierung, die sie erfahren, bekannt. Zusammen mit den beiden anderen südlichen mexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Guerrero belegt Oaxaca den ersten Platz bei Müttersterblichkeit, häuslicher Gewalt gegen Frauen, Femizid2 und Unterernährung bei Kindern. Widerstand führt in den meisten Fällen zu Verhaftung, oder, schlimmer noch, zur Ermordung von Anführern sozialer Proteste und Gemeindevorstehern.
Vielleicht war deshalb die Reaktion so enorm, als man erfuhr, dass die LehrerInnenschaft gewalttätig geräumt wurde. Jeder Oaxacaño, jede Oaxaceña hatte seinen/ihren Grund, um sich zu organisieren, zu mobilisieren und den Rücktritt des Gouverneurs zu fordern. Es wurden sechs Großdemonstrationen (megamarchas) organisiert, an denen durchschnittlich dreihunderttausend Menschen teilnahmen. Einige gingen von siebenhunderttausend Oxacaños in den Straßen aus - bei einer Gesamtbevölkerung des Bundesstaates von weniger als vier Millionen. Die Forderung nach dem Rücktritt von Ulises Ruiz als Gouverneur des Bundesstaates einte Studierende, GewerkschafterInnen, soziale Organisationen, Indigene und Feministinnen, ForscherInnen, Universitätsangestellte und Bäuerinnen/Bauern, Priester, JournalistInnen und UnternehmerInnen. Die verschiedenen Bereiche artikulierten sich in der "Populären Versammlung der Bevölkerungen von Oaxaca" (APPO). Wie selten zuvor in der Geschichte Oaxacas einigten sich die sozialen Gruppen und mobilisierten gemeinsam. Wie nie zuvor in der jüngeren Geschichte Mexikos wurde ein kompletter Staat lahm gelegt und die Straße und die Medien eingenommen.
Die Medien spielten eine fundamentale Rolle in der Entwicklung der Mobilisierungen. Radio Plantón, das Radio der LehrerInnenschaft, wurde im Morgengrauen dieses 14. Juni brutal attackiert, jedoch in weniger als drei Stunden mit der Besetzung von Radio Universidad durch Studierende erwidert. Auflagen der Zeitung Noticias wurden von der Regierung des Bundesstaates beschlagnahmt, aber sie erschien, oppositioneller denn je, während des gesamten Konflikts weiter. Eines schönes Tages - am ersten August - mobilisierten die Frauen für eine Demo mit cacerolas3 und entschieden anschließend, den Fernsehsender und die Radiostation der Regierung des Bundesstaates zu besetzen: Radio Cacerola war geboren - Teve APPO war das Fernsehen. Zwölf kommerzielle Radiostationen wurden nach einem weiteren polizeilichen Angriff besetzt. Es entstanden außerdem zwei Nachrichtenagenturen, Oaxacalibre und die offizielle Webseite der APPO. Über die Medien erhielt die APPO in den Monaten von Juni bis November eine öffentliche Stimme.
Am 29. Oktober erhielt Oaxaca die Nachricht: Die Bundespräventivpolizei (PFP) werde die Stadt "von der Barbarei erlösen", in die - so die Worte der lokalen GesetzgeberInnen und Ulises selbst - die APPO sie gestürzt hatte.

2. November, morgens um halb acht. Als die PFP bereits den Zócalo besetzt hatte, erklang im Radio Universidad die unverwechselbar ruhige, warme und intelligente Stimme der Doktorin Bertha: "Genossinnen und Genossen, ich rufe euch dazu auf, unser Radio zu verteidigen, die PFP kommt."
Tausende Menschen folgten dem Aufruf, um schließlich eine siebenstündige Schlacht gegen die PFP zu gewinnen. Die Allerheiligen-Schlacht. Ein weiteres Mal Steine gegen Tränengas, Panzer und Hubschrauber. Bei der Zählung der Verletzten dieser Schlacht war die Älteste eine 74jährige Frau.
Eine weitere entscheidende Bedeutung hatten Frauen jeden Alters, jeder Herkunft und Geschichte für die Bewegung. Die tausenden anonym Gebliebenen, die die AktivistInnen mit Lebensmitteln versorgten, ebenso wie jene, die zu Protagonistinnen und Ikonen des Widerstands und des Mutes wurden: Bertha, Ärztin von Beruf und Nachrichtensprecherin durch Improvisation; die Lehrerin Carmen, die erste Radiomoderatorin der Bewegung; Yésica, die uner- schrockene Verteidigerin der Menschenrechte; Paty, Gründerin der Frauenkoordination von Oaxaca; Nancy, Studentin und Einheizerin der LastwagenfahrerInnen und Alondra, das zwölfjährige Mädchen, das das Publikum zum Weinen brachte, als sie mit ihrer Mädchenstimme sagte: "Ich wäre gern groß, damit ich mit meinen Freunden für die LehrerInnen kämpfen könnte, die von der Regierung geschlagen wurden."
Die Frauen kämpften vereint und gemeinsam mit der Bewegung. Sie setzten nicht nur die Regierung des Bundesstaates schachmatt, sondern darüber hinaus noch etwas viel Verborgeneres und oft Übersehenes: die traditionelle, verzerrte Wahrnehmung, mit der der Machismo die soziale und politische Partizipation von Frauen verhindert hat.
Frauen machten ZeugInnenaussagen zu Menschenrechtsverletzungen. Die Witwen und Frauen der Verschwundenen und Gefangenen waren es, die ihre Stimme erhoben. Diejenigen, die Essen machten und die, die ärztliche Hilfe leisteten. Es waren mehrheitlich Frauen, die diese Geschichten schrieben, verbreiteten und beklagten. Auch bei internationalen Instanzen wie der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte. Es sind in erster Linie Frauen, die als Verteidigerinnen der Menschrechte politisch verfolgt werden.
Und sie organisierten schließlich im April 2007 ein Treffen von Feministinnen und Vertreterinnen sozialer Bewegungen in Oaxaca. Rund 200 Frauen aus ganz Mexiko, verschiedenen Ländern Lateinamerikas und den USA berieten über Strategien gegen die Gewalt, der Frauen - zu Hause oder durch staatliche Sicherheitskräfte - ausgesetzt sind.
Unter dem Anstrich weißer Farbe lässt sich noch immer das "Ulises raus!" lesen. Nach der zweiten großen Repression vom 25. November blieben die Straßen ruhig. Bis zum 8. März, an dem Radio Plantón für einige Tage wieder auf Sendung ging, und an dem die Frauen demonstrierten. Jetzt nähern sich die Wahlen für den lokalen Kongress. In der APPO wird über Wahl oder Wahlboykott diskutiert. Es gibt keine Einigung. Es gibt aber nach wie vor etwa zwanzig politische Gefangene. Und die Leute kehren langsam wieder auf die Straßen zurück. Der Jahrestag des Beginns der Bewegung rückt näher. Es scheint so, als wäre diese Geschichte noch nicht beendet.

Aus dem Spanischen von Jens Kastner

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at