Kulturarena Jena: Harte Landung

Die große weite Welt in Jena endet Punkt 22 Uhr: Eindrücke vom jährlichen Musikfestival

Alljährlich findet in Jena als sommerliches Musikfestival die "Kulturarena" statt.

Jena gehört nicht zu den schrumpfenden Städten Ostdeutschlands. Mit Werbekampagnen unter der Studierenden wurde bisher der bei Finanzzuweisungen lukrative Großstadtstatus gewahrt. So gilt die durch Zeiss und Schott berühmte Stadt als Leuchtturm-Region. In neu angesiedelten Betrieben und Forschungseinrichtungen (gleich mehrere Max-Planck-Institute) schätzt man als „weichen Standortfaktor“ die Kulturinvestitionen. Das alljährliche Musikfestival „Kulturarena“ ist auch für viele Studierende Grund zu bleiben – sogar am Anfang der Semesterferien. Denn was hier jeden Sommer geboten wird, hat sich als das Popmusik-Highlight Thüringens inzwischen etabliert. Wenn das auch nicht mehr erwähnt wird, so fährt man doch noch auf den Gleisen, die einst ein aus Nordhessen stammender, schon vor Jahren gestorbener Jenaer Kulturamtsleiter gelegt hat. Die Namensähnlichkeit ist kein Zufall: während in Jena die Kulturarena stattfindet gibt es in Kassel das Kulturzelt. Die Programme sind zwar nicht völlig, aber weitgehend identisch. Dessen braucht man sich nicht schämen – von Synergien wird anderswo nur geschwafelt, hier wird unter finanziell schwierigen Bedingungen eine vorbildliche Partnerschaft praktiziert. So war es möglich zum Auftakt der diesjährigen Arena musikalisch den Zusammenstoß von zwei Welten, von Mexiko und USA, im Wüsten-Sound von Calexico zu hören, bei Marlango den Gesang der Pedro-Almodovar-Schauspielerin Leonor Watling zu entdecken und vorletztes Wochenende der Großstadt-Rhythm&Blues-Legende Willy DeVille zu begegnen. Den Texmex-Sound-Staffelstab von Calexico nahm DeVille auf und nachdem sein Hit „Spanish Stroll“ schon in der ersten Viertelstunde drankam fragte er, dessen letzte Platte „Crow Jane Alley“ und dessen große Erfolge auch schon einige Jahre zurückliegen, selbstironisch: „Play something new? Don’t know if there’s anything new“. Aber er hatte durchaus mehr Neues zu bieten als nur die Überraschung, daß der notorische Barhocker erst nach einer Stunde und dem „Corazon“-Hit zum Einsatz kam. Zugegeben: man will gar keine neuen, müden Studioarbeiten hören von ihm – lieber die mitreißenden Live-Versionen, die seinen Abschied von New York und die Ankunft im Süden, in New Orleans (von wo er diesmal zwei Background-Sängerinnen mitbrachte), in der unerhörten Mischung aus Latino-Klängen, Country und Soul dokumentieren. Das fasziniert auch die Kids heutzutage. Ein einziges Autogramm kritzelt deVille: auf das weißes Basecap eines Teenies, die damit stolz zu Papa und Mama entschwand. Bisheriger Höhepunkt war das Konzert des argentinisch-uruguayschen Bajofondo Tangu Club, der die Kulturarena letzten Donnerstag verzauberte – und zeigte, wie unangemessen die bürokratisch-provinzielle (in früheren Jahren nicht derart rigide praktizierte) Anwohnerlärmschutz-Regelung bei solchen Weltmusikkorypäen ist. Das abrupte Konzertende um 22 Uhr auf dem Höhepunkt, als Publikum und Bühne sich vereinigten (über ein Dutzend Tänzerinnen aus dem Publikum auf der Bühne), war wie ein coitus iterruptus. Auch Bajofondo ist ein Live-Erlebnis, viel besser als die durchaus hör- und tanzbaren CD. Noch 1913 wetterte Albert Friedenthal in seinem den Kreolen Amerikas gewidmeten Buch über „diesen vulgären Tanz, in Westindien gewöhnlich ‚Tango’ genannt, nach einem afrikanischen Wort ‚Tangana’“; der übrigens 1913 die Dresdner Polizei zum Eingreifen veranlaßte, da bei den Tänzerinnen – so der Polizeierlaß – „sogar ein Stück des nackten Oberschenkels sichtbar wurde“. Bajo fondo heißt übersetzt Unterwelt oder Untergrund. Die sinnlichen, subkulturellen Ursprünge des Tanzes in Kneipen und Bordellen machte die Combo (für die Filmmusik von „Babel“ inzwischen Oscar-prämiert) erlebbar, die mit TripHop, House, Chill Out und Drum’n’Bass den minimalistisch und romantisch zugleich Tango neu interpretiert.

In geänderter Version zuerst erschienen in der Tageszeitung junge Welt.