Die Oettinger-Filbinger- Kontroverse -- Klärungen nach Jahrzehnten weiter vertagt

In seiner Trauerrede am 11. April 2007 im Freiburger Münster behauptete Oettinger: „Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes.„

Verläufe und Resultate bei Streitfragen, in denen die NS-Vergangenheit in Selbstverständnis, Geschichtsbild und Personalien der CDU/CSU und ihres Umfeldes unübersehbar aufscheint, sind auch in der vergrößerten Bundesrepublik im Vergleich zur Vorgeschichte grundsätzlich gleich oder sehr ähnlich geblieben. Das bestätigt der Blick auf die jüngste Darbietung in dieser – meist unfreiwillig – öffentlichkeitswirksamen Serie im Frühjahr 2007. Gemeint ist die Debatte, die sich daraus ergab, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) bemüht war, seinen just verstorbenen Amtsvorgänger und Parteifreund Hans Filbinger nunmehr partei- und staatsoffiziell als Nazigegner ins Traditions- und Geschichtsbild eingehen zu lassen. Die Lüge sollte wohl ein weiterer, obgleich bescheidener Baustein für die künftige Legitimation einer Bundesrepublik werden, die den Sozialstaat demontiert, den Wiedereintritt in auswärtige Interessen-, Machtund Interventionspolitik Normalität werden lässt und das Leitbild vom linken Hauptfeind – im Inneren und international – unverdrossen und bedingungslos wahrt. Es sei an einige verwandte Anlässe und Streitfälle allein seit 1990 erinnert: Die Enthüllungen des DVU-Vorsitzenden und Herausgebers der faschistischen Nationalzeitung, Gerhard Frey, von Ende 1993 über seine langjährigen und engen Kontakte zu den ehemaligen CSU-Ministern Theodor Maunz und Alfred Seidl; die Verbindungen von Politikern der CSU und CDU zum Vorsitzenden der REP (1985-1994), Franz Schönhuber; die nazistischen Verlautbarungen des CDU-MdB Rudolf Karl Krause aus Sachsen-Anhalt und sein Übergang zu den REP 1993; der Eklat um deutschnationale Ressentiments des sächsischen Justizministers und Fast-Bundespräsidenten Steffen Heitmann (CDU) im Herbst 1993; die massiven Angriffe gegen die Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht und gegen die uneingeschränkte Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz; der ebenso rasche Aufstieg wie Fall des Parlamentarischen Staatssekretärs und Regierungssprechers Otto Hauser (CDU), der 1998 über die NS-Diktatur verharmlosende Auslassungen stolperte; die Lügen aus der hessischen CDU unter Roland Koch um 1999/2000 über angebliche jüdische Spender als Urheber der eigenen parteiegoistischen und gesetzwidrigen Finanzmanipulationen sowie schließlich die vom langjährigen MdB der CDU, Martin Hohmann, und vom – rasch aus der Bundeswehr entlassenen – General Reinhard Günzel 2003/04 ausgelöste Affäre. Sie bildeten die Spitzen der in trüben Fluten von Traditionen, unbewältigten Erbschaften und diffusen konservativ- nationalistischen Ambitionen treibenden Eisberge. Die bis heute ungeklärte Herkunft von Stimmen für die NPD im 2004 gewählten sächsischen Landtag aus anderen Fraktionen lässt die CDU-Fraktion angesichts ihres ideell-moralischen und politisch-ideologischen Zustandes als favorisiert für solche pronazistische Beihilfe erscheinen. Die Fortschreibung vernebelter und geschönter Altfälle – neben Filbinger beispielsweise auch Globke, Kiesinger, Lübke und Oberländer – im vergrößerten Deutschland gehört in diesen Grundzusammenhang. Worin bestanden dabei in der Regel identische oder höchst ähnliche Momente im Verlauf solcher Episoden und in den teilweise spektakulären Offenbarungen sowie im parteioffiziellen Umgang damit? Sie alle haben eine innerparteiliche Vorgeschichte, in der latent längst alle Ressentiments und verqueren Geschichts- und Politikbilder als unauffälliger, will heißen selbstverständlicher, Bestandteil des geistig-politischen und Parteilebens in der Union vorhanden waren. Daraus folgte, dass aufklärerisches Bemühen jeweils durch zufällige Umstände und vor allem äuße- re Kräfte ausgelöst wurden. Die Führungen, Funktionärsgruppen, Mitglieder und Anhänger der Union haben kaum jemals dafür Initiativen entwickelt, vielmehr im Gegenteil meist zielstrebig und angestrengt verdeckten und offenen Widerstand geleistet. Das Widerstreben gegenüber antifaschistisch motivierten Bemühungen dauerte selbst dann an, wenn die fragwürdigen Sachverhalte oder Positionen öffentlich benannt sowie der eigenen Meinungsbildung und Beurteilung zugänglich waren. Die Diffamierung der Kritiker gehört traditionell zu den Strategien konservativer Vorwärtsverteidigung. Wiederholt wurde erst dann nachgegeben und werden beispielsweise personelle Konsequenzen gezogen, wenn das Image der Partei beschädigt zu werden drohte oder sich Kollissionen mit handfesten Interessen von Mandats- und Funktionsträgern abzeichneten.Auch das bedeutete keineswegs Drang zu prinzipiellen Klärungen, zumal in der Regel nicht an den ursprünglichen und grundsätzlichen Problemen – z. B. des Geschichtsbildes –, sondern an der unzulänglichen und politisch abträglichen Erledigung der „Missverständnisse“ in der Öffentlichkeit Anstoß genommen wurde. Aus allem erwuchs die Neigung, die Problemfälle deklarativ und administrativ zu erledigen. Das hieß je nach Verlauf des Streits und der „Einsicht“ der Betroffenen entweder zu widerrufen und sich von Gesagtem bzw. von Handlungen zu distanzieren oder Ausgrenzung und Ächtung hinzunehmen.Auf diesem Weg beeilten sich dann die politisch tonangebenden Politiker und Führungen, das Ende der Meinungsverschiedenheiten und der Debatten sowie die angeblich bestätigte Einvernehmlichkeit und Geschlossenheit der Partei zu verkünden, weitere, an die Wurzeln gehende Fragen nicht zuzulassen und zur Tagesordnung überzugehen. Es bleibt als interessante und wesentliche Problemstellung die Frage, inwieweit die jeweils führenden Politiker und Gremien der Unionsparteien nur ahnten oder sich in dem Wissen relativ sicher waren, dass ein grundsätzliches Klärungsbemühen hinsichtlich Deutschnationalismus, Kult des Soldatentums und antidemokratischen Feindbildern in den eigenen Reihen, in der Anhänger- und Wählerschaft sowie im sozioökonomischen Hinterland ein ziemlich aussichtsloses und nahezu selbstzerstörerisches Unterfangen wäre.

NS-Jurist Filbinger: typischer Repräsentant der Union

Hans Filbinger starb am 1. April 2007 im 94. Lebensjahr. Der Jurist und Täter der NSMarinegerichtsbarkeit, Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB), der SA und der NSDAP, hatte in der CDU Baden-Württembergs als Landtagsabgeordneter und Innenminister Karriere gemacht. Im Herbst 1966 folgte er Kurt Georg Kiesinger als Ministerpräsident, als dieser – ehemals leitender Mitarbeiter der nationalsozialistischen Auslandspropaganda unter dem in Nürnberg 1946 gehenkten Ribbentrop – Kanzler der Großen Koalition in Bonn wurde. 1978 wurde die Mitwirkung Filbingers an Todesurteilen gegen Deserteure sowie an der Verfolgung kriegsmüder Soldaten noch im britischen Kriegsgefangenenlager im Mai 1945 bekannt. Filbinger leugnete, was nicht dokumentarisch vorlag, verharmloste und rechtfertigte sich bedingungslos und uneinsichtig. Die Opfer des Faschismus einschließlich derer, gegenüber denen er Mitschuld trug, bewegten ihn so wenig wie 1944/45. Er griff seine Kritiker an und leitete gerichtliche Schritte gegen sie ein. Seine Partei bestärkte ihn zunächst in dieser Haltung, indem sie ebenfalls sein Wirken bis zum Ende der NS-Diktatur und des Krieges als zeitbedingt rechtfertigte und als etwas, woraus ihm persönlich nichts vorzuwerfen wäre. Erst als seine rechthaberischen Auftritte in der Öffentlichkeit zunehmend ungünstige Rückwirkungen für die Unionsparteien zeitigten, wurde ihm der Rücktritt nahegelegt und durchgesetzt. Robert Leicht rekonstruierte 2007 aus aktuellem Anlass die Vorgänge von 1944/45 und 1978 und bemerkte: „Filbinger ist nicht über sein Leben vor 1945 gestürzt – sondern über seine Lebenslügen danach. Und eine politische Lebenslüge hätte Oettinger selbst vermeiden müssen. Filbinger ist ja am 7. August 1978 nicht von anonymen Mächten gestürzt worden, sondern von seiner eigenen Landespartei und Landtagsfraktion, die damals über fast 57 Prozent der Stimmen und entsprechend viele Mandate verfügte.“1 Mit der Ehrenpräsidentschaft im CDU-Landesverband sowie der Unterstützung bei der Gründung und Leitung des rechtskonservativen Studienzentrums Weikersheim im folgenden Jahr wurde das unveränderte und uneingeschränkte Einvernehmen zwischen CDU/CSU und Filbinger demonstrativ bekräftigt. Das wurde mit Grußbotschaften, Tagungen und repräsentativen Publikationen anlässlich persönlicher Jubiläen 1993, 1998 und 2003 erneuert. In seiner Trauerrede am 11. April 2007 im Freiburger Münster behauptete Oettinger: „Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebenso wenig entziehen wie Millionen andere.“ Weitere Aussagen bekräftigten diese apologetische Sichtweise. Grundsätzlich befand sich der Redner damit in der geistig-politischen Tradition von CDU und CSU seit 1948/49. Mit Rücksicht auf ihre restaurativen gesellschaftspolitischen Ziele sowie die Mehrheit der eigenen sozialen Basis und Wählerschaft verdrängten sie grundlegende Wahrheiten über die nazistische Barbarei sowie über Schuldfragen und suchten politische und strafrechtliche Konsequenzen gegen die Täter zu verhindern oder zu minimieren. Die verlogenen Selbstdarstellungen der Belasteten wurden stets bereitwillig als bare Münze übernommen. So hatte der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier (CSU) 1983 behauptet, dass Filbinger „von Anfang an ein Nazi-Gegner“ gewesen sei. Der heutige Vorsitzende der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, Volker Kauder, bezeichnete ihn 1993 als „ausgewiesenen Gegner des nationalsozialistischen Regimes“. Im Vorwort einer Festschrift für Filbinger 1983 schrieb der frühere Generalsekretär der CDU und Bundesminister a. D. sowie damalige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bruno Heck, von „Geschichtsklitterungen Hochhuths“ und polemisierte gegen Kritiker, denen zufolge Filbinger „sich zu Unrecht dem Widerstand gegen das NS-Regime“ zurechne.2 „1978 wurde in Umlauf gebracht, Filbinger habe am Ende des Zweiten Weltkriegs als Marinerichter an schändlichen Todesurteilen mitgewirkt.“ So verbog ein großbürgerliches Blatt 1998 Tatsachen zu Denunziationen und verkündete: „Filbinger ein Nazi? Der Jurist und Volkswirtschaftler Filbinger stand dem Nationalsozialismus von Anfang an ablehnend gegenüber.“3 Um 1994/95 hatten Politiker und Publizisten bereitwillig Filbingers haltlose Versuche kolportiert, sich als Opfer der DDR und ihres Staatssicherheitsdienstes darzustellen. Unwidersprochen blieb ein Leserbrief Filbingers vom April 2006, in dem er von der gegen ihn inszenierten „Rufmordkampagne“ von 1978 sprach und sich auf den langjährigen Ministerpräsidenten Erwin Teufel (CDU) berief, der 2003 „die völlige Rehabilitation Hans Filbingers vor aller Öffentlichkeit und mehrfach kundgetan hat“.4 Die geschichtsfälschende Aussage Oettingers wurde angreifbar als dreister Versuch, einen – auch in wiederholten öffentlichen Erörterungen und zahlreichen Veröffentlichungen – erwiesenen Täter und Mitschuldigen aus parteipolitischen Motiven zum Ehrenmann und Gegner des Naziregimes umzudeuten. Unter Bedingungen einer seit einigen Jahren erhöhten Sensibilität für diese Probleme in größeren Teilen der Öffentlichkeit setzte eine heftige Debatte ein, die von Beifall für die Behauptungen Oettingers bis zu Forderungen nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident reichte. Unter dem Eindruck der neuen Filbinger- Kontroverse ist für eine gründliche und perspektivische Einschätzung der geschichtsideologischen Gegebenheiten und Grundtendenzen in der Bundesrepublik der Blick auf die Reaktionen, Beiträge und Ressentiments in den Unionsparteien von vorrangigem Interesse. Immerhin war Filbinger aus diesem Kreis geradezu demonstrativ und gegen öffentliche Kritik noch in die Bundesversammlung am 23. Mai 2004 delegiert worden, die den derzeitigen Bundespräsidenten wählte. Es gibt zu denken, dass Oettinger mit seinen prononcierten Feststellungen offensichtlich Filbinger rundum als „einen von uns“ positionieren wollte und mit diesem populistischem Kalkül aus dem baden-württembergischen Landesverband und darüber hinaus Zuspruch und Lob für seine Rede erhielt. „Einigen älteren Mitgliedern hatte Oettingers Rede sicher aus dem Herzen gesprochen, viele haben bis heute das Gefühl, man habe Filbinger 1978 zu Unrecht fallenlassen.“5 Der seit 1990 dem Bundestag angehörende Georg Brunnhuber, Vorsitzender der baden-württembergischen Landesgruppe der CDU, bekundete enthusiatisch: „Für unsere Anhänger hat er einen ganz, ganz großen Schritt getan. Er hat das Tor aufgestoßen.“ Es sei eine „Meisterprüfung“ Oettingers gewesen, die für die „christlich-konservative Seele“ bedeutend wäre. Oettinger begriff nicht sofort – wohl auch unter dem Eindruck solch euphorischer Zustimmungserklärungen – die Tragweite seiner Apologie und reichte zunächst eine Bekräftigung der hauptsächlichen Aussagen nach. Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin, Angela Merkel, rügte öffentlich die in seiner Trauerrede völlig fehlenden kritischen und die Wahrnehmung seitens der Opfer betreffenden Aspekte. Sie erfasste rascher und dringlicher die möglichen internationalen, abträglichen Auswirkungen. Ein darauf folgender Brief Oettingers verwies halbherzig auf Rücksichten gegenüber der Familie Filbingers und bedauerte die „Missverständnisse“. Der Generalsekretär der CDU, Ronald Pofalla, lobte den Brief und hielt ihn voreilig für eine hinreichende Klarstellung. Oettinger kam jedoch um einen Rückzug nicht herum und erklärte am 16. April 2007 vor einer Sitzung des CDU-Präsidiums in Berlin, er halte seine Formulierung nicht aufrecht und drücke sein Bedauern aus. In der Sitzung distanzierte er sich von der Aussage, Filbinger sei ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen. Die Farce krönend, nahm das Gremium das erzwungene Rettungsmanöver „mit Respekt“ zur Kenntnis. Selbst ein führendes konservatives Blatt kommentierte: „Die Formulierung des Stuttgarter Ministerpräsidenten Oettinger, Hans Filbinger, einer seiner Vorgänger, sei ein Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen, ist so weit von der historischen Wirklichkeit und Wahrheit entfernt, dass ihr Widerruf nur eine Frage der Zeit war.“ Es sei erstaunlich, „wie elefantenhaft da ein führender Politiker durch die deutsche Geschichte und die seiner Partei getrampelt“ ist: „Dass Oettinger für seine Geschichtsklitterei auch noch Zuspruch von Parteifreunden bekam, ist kein Ruhmesblatt für die CDU in Baden-Württemberg.“6 In einer von der SPD beantragten Aktuellen Stunde bestätigte Oettinger am 25. April 2007 im Landtag seinen Widerruf. Ebenso verunsichert wie zugleich auf die Fortsetzung der eigenen Karriere bedacht, suspendierte der Ministerpräsident auch noch seine Mitgliedschaft im Studienzentrum Weikersheim. Die weit rechts agierende Einrichtung konnte sich seit ihrer Gründung 1979 der Protektion führender Politiker der Union aus Landes- und Bundesebene sicher sein. So hatte Bundespräsident Karl Carstens, gleichfalls früheres Mitglied der SA und der NSDAP und wie Filbinger dem rechten Flügel der Union zugehörig, diesem anlässlich des 70. Geburtstages 1983 versichert: „Mit dem Studienzentrum Weikersheim haben Sie ein geachtetes Forum geschaffen, das sich der geistigen Durchdringung wichtiger Fragen unserer Zeit widmet. Ich erinnere mich gerne an unsere vielfältigen Begegnungen und Gespräche, nicht zuletzt in Weikersheim.“7 Aktuell kam eine Einladung von „Jung Weikersheim“ an Hohmann und Ex-General Günzel ins Spiel. Diese Hauptakteure einer braungefärbten Aufführung im Unionsmilieu erinnerten zu einem für Oettinger äußerst ungelegenen Zeitpunkt an das andauernde nationalkonservative geschichtsideologische Dilemma bei Profilierungsversuchen nach rechts außen. Ein Antrag der Linksfraktion im Haushaltsausschuss des Bundestages, die Förderung des Studienzentrums mit Bundesmitteln einzustellen, wurde Ende Mai mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD abgelehnt. Gleichzeitig kamen aus der CDU Unmutsäußerungen zum öffentlichen und kritischen Eingreifen Merkels. Ein beträchtlicher Teil der Politiker und Mitglieder der Union hielt ein diskreteres Vorgehen für wünschenswert. Die taktische Meinungsverschiedenheit verweist auf unterschiedliche Gewichtungen und Bewertungen der umstrittenen Aussagen. Der prominenteste Wortführer solcher Ressentiments war der Innenminister und frühere langjährige Vorsitzende der CDU im Land Brandenburg, der rechtskonservative Ex- General Jörg Schönbohm: Die konservative Klientel sehe, wie man in der Union miteinander umgehe und ob man zusammenstehe, wenn „der Wind einmal stark ins Gesicht weht“. Merkels Verhalten sei in der Sache schädlich gewesen. Andere CDU-Granden aber, bemerkten Publizisten, schwiegen: Roland Koch, Peter Müller, Jürgen Rüttgers und Christian Wulff.

Bilanz seit 1949 und 1978: Ungenügend!

In einer kürzlich erschienenen Auseinandersetzung zum Umgang der konservativen Kräfte mit der NS-Vergangenheit seit 1945 wird gefragt: „Gibt es eine einzige unter den unzähligen Affären und spektakulären Kontroversen, die ihre Ursache im äußerst fragwürdigen Umgang mit NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg haben, bei der die Führungen der Unionsparteien als hauptsächliche parteipolitische Repräsentanten des Konservatismus zu angemessenen prinzipiellen Einschätzungen und Schlussfolgerungen gekommen wären?“8 Die Frage wurde verneint. Sie war bereits in Analysen von Ralph Giordano und Peter Glotz vor rund zwanzig Jahren verneint worden. Wer wollte behaupten, dass es in den langen Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl auf geschichtsideologischem Gebiet eine aufklärerische Wende gegeben hätte? Für die gegenteilige Beurteilung der unter ihm verfolgten Geschichtspolitik ließen sich jedoch rasch zahlreiche Belege beibringen. Selbst seitherige partielle und halbherzige Zugeständnisse im Geschichtsbild sowie in der Erinnerungs- und Gedenkkultur vermochten keine grundsätzlich andere Antwort zu begründen, umso mehr als sie längst durch gegenläufige Tendenzen beeinträchtigt wurden. Anlässlich des 60-jährigen Bestehens der CDU ließ die Konrad-Adenauer-Stiftung 2005 an den symbolträchtigen Beispielen Globke und Wehrmachtstradition unverändert ignorant und nicht im mindesten selbstkritisch, Jahrzehnte alte und längst widerlegte Legenden wiederholen und verbreitete sie: „Adenauers Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke personifizierte den Vorwurf von den neuen Karrieren alter Nazis. Globke, kein NS-Parteimitglied, hatte die Nürnberger Rassegesetze kommentiert. Als Beamter im Reichsinnenministerium auf „Horchposten“, hatte Globke ... Hunderten Nachricht von ihrer bevorstehenden Verhaftung zukommen lassen und ihnen die Flucht ermöglicht. Doch das zählte nichts für den antifaschistischen Entrüstungsmoralismus. Er richtete sich ebenfalls selbst gegen die Wiederverwendung von jenen Wehrmachtsoffizieren beim Aufbau der Bundeswehr, die teilweise dem Widerstand nahegestanden hatten, keine Hitler-Fanatiker gewesen waren und deren Sachverstand nunmehr unverzichtbar schien.“9 Keine Aussage wird dem heutigen Stand der Forschung und des Wissens oder gar elementaren antinazistischen Ansprüchen gerecht. Es kann keine Rede davon sein, dass solche jüngeren Verlautbarungen endlich einem Mindestmaß an moralischer Verpflichtung gegenüber Millionen Opfern der Rassegesetze und der Wehrmachtsverbrechen genügen würden. Der Verlauf und die vorläufigen, unbefriedigenden Resultate der von Oettinger ausgelösten Debatte illustrieren und bestätigen das kritische Gesamturteil. Die politischen und intellektuellen Hauptkräfte des deutschen Konservatismus besitzen nach mehr als sechs Jahrzehnten weiterhin keine demokratisch tragfähige und belastbare Analyse und Beurteilung der Ursprünge, des Wesens sowie der unverwechselbaren barbarischen Natur und Dimension der NS-Diktatur und der Gesamtheit der von ihr verübten Verbrechen. Damit verfügen sie auch nicht über ideellpolitische Grundlagen und ausreichende Maßstäbe für ein im Kerngehalt antifaschistisches Geschichtsbild sowie für eine offensive Auseinandersetzung mit dem immer bedrohlicher aufkommenden Nazismus, Rassismus und Antisemitismus. Zutreffend sprach der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette davon, dass Oettinger nur einen formalen Rückzug antrat: „Dabei kann doch nicht erledigt sein, womit Oettinger und Teile der baden-württembergischen CDU noch gar nicht begonnen haben, nämlich ihren erkennbar gewordenen historisch-politischen Nachholbedarf zu befriedigen.“ Sie hätten bis heute versäumt, sich mit dem Satz Filbingers auseinanderzusetzen „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Es bleibe „eine große historisch-politische Aufklärungsarbeit zu leisten“.10 Gleichzeitig sehen die Konservativen sich durch die Wahrnehmung im Ausland, die Wachsamkeit der Opfer und Widerständigen einschließlich ihrer Hinterbliebenen und politischen Erben sowie das heutige Wissen über die Nazibarbarei zum Lavieren genötigt. Es beunruhigt Rechtsintellektuelle, dass es ein Land verändere, wenn „Politiker über Fragen der Geschichte am besten gar nicht mehr oder nur noch so reden, dass sie keinesfalls, wie aberwitzig indirekt auch immer, in eine gedankliche Erbfolge mit der Nazibrut gestellt werden können.“ Noch schlimmer ist aus dieser Sicht: „Das bedeutet nichts anderes, als der Linken gleichsam den Generalschlüssel der historischen Deutungsmacht auszuhändigen und damit den politischen Konservatismus einer kulturellen Hegemonie seiner ideologischen Gegner zu unterwerfen.“11 Das von konservativen Kräften favorisierte Totalitarismuskonzept vermag die spezifische Herkunft und Funktion sowie vor allem die barbarische Natur der nazifaschistischen Herrschaft, Eroberungs- und Vernichtungspolitik nicht ausreichend zu erhellen. Im Gegenteil. In seinen von den Unionsparteien bevorzugten entschieden rechtsgerichteten Versionen dient es vorrangig dazu, diese Spezifik zu verwischen und durch extensive, vielfach haltlose Analogien mit anderen Herrschafts- und Politikmodellen zu verwässern. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren begleitete und förderte konservativer Antitotalitarismus die Restauration, verdrängte die jüngste Geschichte und gewährleistete den unbedingten Vorrang antikommunistischer Feindbilder. Seit den Neunzigerjahren ist der „Diktaturenvergleich“ zum privilegierten Tummelplatz fortentwickelter geschichtsrevisionistischer Bestrebungen geworden. In diesem Rahmen sind die Parallelisierung von NSDiktatur und DDR zur extremsten Variante der Entlastung und Relativierung von Faschismus und Militarismus geworden und signalisieren den illiberalen und fortschrittsfeindlichen Niedergang politik-, geschichtsund wirtschaftswissenschaftlicher Forschungen und Denkmodelle. Zu den Schlüsselproblemen wiederum aufgeschobener, jedoch schließlich unumgänglicher Klärungsprozesse gehören Themen und Probleme wie: Sozioökonomische und ideologisch- politische Quellen, Triebkräfte und Grundlagen faschistischer Bewegungen und Diktaturen in Vergangenheit und Gegenwart; historische und internationale Tatsachen und Lektionen über die Verwandtschaft und Wechselwirkung von Konservatismus, Militarismus und Rechtsextremismus; Nationalismus und Antisozialismus als konstitutive Komponenten militant rechtsgerichteter Strategien und Herrschaftskonzepte sowie Antimarxismus und Drang zu Irrationalismen in fortschrittsfeindlichen Geschichtsphilosophien und Sozialtheorien. Der ursprünglich dem Nazismus nahestehende Hermann Rauschning, konservativer Senatspräsident im Freistaat Danzig 1933/34, 1936 in die Schweiz emigriert, schrieb in seiner antinazistischen Streitschrift von 1938 von der Selbsttäuschung weiter „Kreise der ehemals führenden Schichten“. Es gehe um „die schwere und dunkle Frage“: „Wie war die ganze Entwicklung zum 30.1.1933, die eben diesen Gesellschaftsschichten zu danken war, überhaupt möglich?“ Als zu optimistisch hat sich längst seine Folgerung zur Schuldfrage erwiesen: „Niemand wird mehr in Abrede stellen, dass es die restaurativen Kräfte waren, denen im wesentlichen Deutschland sein heutiges Schicksal zu verdanken hat.“12 Es waren wiederum jene Kräfte, die mit ihrem neuerlichen restaurativen Erfolg in der Bundesrepublik gerade das auf Dauer „in Abrede stellen“, was nur in einer sehr kurzen Phase nach dem 8. Mai 1945 von allen politisch bedeutenden und verantwortungsbewussten Richtungen und Gruppierungen im Sinne der Betrachtungen Rauschnings von 1938 zur Schuldfrage bejaht und vertreten wurde. Der 30. Januar 1933 und seine Folgen waren nur mit dem vielgestaltigen Rückhalt des Nazismus in der konservativ-nationalistischen Grundströmung der deutschen bürgerlichen Gesellschaft seit 1871 und 1918/19 möglich. Heute und künftig werden demokratische, soziale und liberal-pazifistische Denkweisen und ihre Rolle in der Gestaltung der vorherrschenden Politik – die nachhaltige Zurückdrängung von Rechtsextremismus eingeschlossen – nicht erfolgreich sein können, solange der bestimmende Einfluss des Konservatismus in der Geschichtsideologie und in den politischen Strategien nicht gebrochen und überwunden wird. - - - Anmerkungen 1 Robert Leicht: Leben und Lebenslügen. Hans Filbinger beharrte einst – auch gegenüber der ZEIT – auf einer Rehabilitation, die es nicht geben konnte. Auch seinem Totenredner Oettinger fehlte das Gespür für diese Unmöglichkeit, in: DIE ZEIT, 17, 19. April 2007 2 Bruno Heck: Der Sturz eines Ministerpräsidenten, in: Lothar Bossle (Hrsg.): Hans Filbinger. Ein Mann in unserer Zeit. Festschrift zum 70. Geburtstag, München 1983, S. 619 f. An der Huldigung mit fast 60 Beiträgen beteiligte sich neben Rechtsintellektuellen u. a. Dregger, Gerstenmaier, Goppel, Kiesinger, Kohl, Späth, Stoltenberg, Strauß, B.Vogel und Wörner. 3 bhr.: Filbinger und die geschmähte Generation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 15. September 1998 4 FAZ, 4. April 2006 5 Rüdiger Soldt/Stephan Löwenstein: Stoßseufzer aus der CDU, in: FAZ, 18. April 2007 6 Nm.: Der Widerruf, in: FAZ, 17. April 2007 7 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, Nr. 92, 16. September 1983, S. 860 8 Ludwig Elm: Der deutsche Konservatismus nach Auschwitz. Von Adenauer und Strauß zu Stoiber und Merkel, Köln 2007, S. 9. Vgl. die Ausführungen zur Filbinger- Affäre: S. 209-214, 267-269 9 Manfred Funke: Die Ära Adenauer: Eine Profilskizze zu Politik und Zeitgeist 1949-1963, in: Günter Buchstab (Hrsg.): Brücke in eine neue Zeit. 60 Jahre CDU. Hrsg. i. A. der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Freiburg-Basel- Wien 2005, S. 180 10 Wolfram Wette: Der Fall Filbinger-Oettinger. Historischpolitische Defizite sind die Hauptursache der Affäre, in: Frankfurter Rundschau, 21. April 2007. S. auch: Ders., Filbinger – eine deutsche Karriere, Springe 2007 11 Volker Zastrow: Regieren ohne Loyalitäten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. April 2007. Bedauernd fuhr Zastrow fort: „Denn die Linke ist durch ihre historische Abkunft gegen entsprechende Vorwürfe gefeit – mit Kommunisten identifiziert zu werden bedeutet nun einmal nicht, diskursiv in die Tradition singulärer Verbrechen eingereiht zu werden. Wir dulden im satisfaktionsfähigen Parteispektrum die Nachfolgeorganisation der KPD, nicht aber der NSDAP.“ 12 Hermann Rauschning: Die Revolution des Nihilismus (1938), Zürich 1964, S. 127, 132

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