Die neuen Grenzen der Sicherheit?

Die Anti-Terrorgesetze vor dem Bundesverfassungsgericht

"Es ist ein Widerspruch, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt". So lautete 1970 das Sondervotum dreier Richter am Bundesverfassungsgericht (BVerfG)

Die Mehrheit im Senat hatte entschieden, die heimliche Überwachung von Kommunikationsvorgängen sei für den Schutz gewichtiger Verfassungswerte notwendig und daher nicht zu beanstanden. Die vorgenommenen Änderung des Art. 10 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) wurde für mit der Verfassung vereinbar erklärt und all diejenigen, die gehofft hatten, die RichterInnen aus Karlsruhe würden dem schon damals begonnenen systematischen Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte Einhalt gebieten, wurden enttäuscht.1 Schon lange vor den Anschlägen vom 11.09.2001 hatte die Wandlung der BRD zum Polizeistaat angefangen, indem individuelle Grundrechte zunehmend der Staatssicherheit geopfert wurden. Wie schon zu RAF-Zeiten, entstand nach den Anschlägen am 11. September 2001 eine regelrechte Sicherheits-Hysterie, die den weiteren Abbau der Freiheitsrechte ermöglichte. Die Angst der Bevölkerung vor der neuen Bedrohung und die Islamphobie wurden so sehr geschürt, dass sich die Notwendigkeit weiterer Eingriffsbefugnisse zu Gunsten vorgegaukelter Sicherheit nur allzu leicht verkaufen ließ.

Die "Otto-Kataloge"

Bereits Ende 2001 erließ der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das erste unter dem Schlagwort Otto-Katalog bekannt gewordene Gesetzespaket. Entsprechende Initiativen waren jedoch schon vor dem 11.09.01 angekündigt worden, so z.B. die Streichung des Religionsprivilegs (§ 2 Vereinsgesetz), das Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen vom Vereinsgesetz und der Möglichkeit des vereinrechtlichen Verbots ausnahm. Durch die Streichung des § 2 II Nr. 3 Vereinsgesetz wurde ein Verbot von Vereinen ermöglicht, deren Zweck oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft, sich gegen die verfassungsgemäße Ordnung richtet oder den Gedanken der Völkerverständigung missachtet. Auch wurde § 129 b Strafgesetzbuch (StGB) verabschiedet, der die Mitgliedschaft und Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt. Die Klassifizierung einer Vereinigung als "terroristisch" ist dabei der Bundesjustizministerin vorbehalten. Im Januar 2002 trat dann das Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus in Kraft (Otto-Katalog 2). Durch Änderungen zahlreicher Gesetze wurden hierin vor allem die Betätigungsfelder und somit die Überwachungsbefugnisse der verschiedenen Geheimdienste wesentlich erweitert. Der zweite Hauptkomplex des Gesetzes betrifft die Ausdehnung der Datenerfassung, Verortung und biometrischen Vermessung der Bevölkerung. Durch die Änderung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes werden nunmehr alle Personen, die in sicherheitsrelevanten und lebensnotwendigen Einrichtungen arbeiten, überprüft. In Personalausweise oder Pässe werden seitdem biometrische Daten eingegeben. Am nachhaltigsten sind die Veränderungen im Ausländerrecht, die durch das neue Zuwanderungsgesetz von 2005 nochmals verschärft wurden. Sie betreffen insbesondere die Ausweitung der Versagungsgründe bei der Visumserteilung, die Beteiligung der Nachrichtendienste, des Zollkriminalamtes und des Bundeskriminalamtes am Visumsverfahren, die Verschlechterung des Rechtsschutzes gegen Ausweisungen, die Aufnahme biometrischer Merkmale in die Aufenthaltsgenehmigung und den Ausweisersatz sowie seit dem neuen Zuwanderungsgesetz von 2005 auch die Ausweisung bei Terrorismusverdacht oder der öffentlichen Billigung terroristischer Taten. Die rot-grünen Gesetzesvorhaben wurden von den Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen zu recht als "katastrophale" Demontage des Rechtsstaates abgelehnt, zumal zweifelhaft ist, ob diese Maßnahmen die Terroranschläge des 11.09.01 jemals verhindert hätten.

Moving to the countries - Die Entwicklung in den Ländern

Während auf Bundesebene die Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden und des Bundesnachrichtendienstes seit dem 11.09.01 ebenso kontinuierlich erweitert wurden wie der Katalog der Anlasstaten für die strafprozessuale Telekommunikations- und Raumüberwachung, begannen die Länder in ihren Polizeigesetzen entsprechende präventiv-polizeiliche Befugnisse einzuführen. Auch finden sich inzwischen in allen Bundesländern spezielle Ermächtigungsnormen zur präventiven Rasterfahndung. Die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen diese angeordnet werden kann, sind in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich geregelt und in den letzen Jahren in vielen Ländern aufgeweicht worden. In mehreren Landesgesetzen wurde auf das Vorliegen einer konkreten Gefahr verzichtet.2 Sowohl die Telekommunikationsüberwachung als auch die Rasterfahndung in den Polizeigesetzen stellen präventiv polizeiliche Befugnisse dar, die weit über das klassische Polizeirecht der Gefahrenabwehr hinausgehen.

Lauschgift

Die Entscheidung zur Überwachung von Journalisten im März 2003 eingeschlossen gab das BVerfG den eingangs dargestellten, kontinuierlich fortschreitenden Überwachungspraktiken grünes Licht.3 Erst In der Entscheidung zum großen Lauschangriff vom 03. März 2004 war eine Wende in der Rechtsprechung erkennbar.4 Dort sieht das BVerfG die letzte und absolute Grenze staatlicher Eingriffe im "Kernbereich privater Lebensgestaltung" erreicht, der, gleich zu welchem Zweck, unantastbar ist. Zwar beanstandet die Entscheidung nicht grundsätzlich die durch Art. 13 Abs. 3 Grundgesetz (GG) eingeräumte Möglichkeit, den Schutz der Wohnung durch akustische Überwachung einzuschränken. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung müsse jedoch die Erhebung von Informationen dort ausschließen, wo die Ermittlungsmaßnahme in den durch Art. 13 I GG in Verbindung mit Art. 1 I und Art. 2 I GG geschützten Bereich der privaten Lebensgestaltung vordringt. Dementsprechend wurde die Ausgestaltung des Art. 13 Abs. 3 GG in § 100 d Strafprozessordnung (StPO) als in vielen Teilen verfassungswidrig angesehen, da diese die verfassungsrechtlichen Grenzen nur unzureichend konkretisiere. So sei durch § 100 d Abs. 3 StPO nicht gesichert, dass eine Überwachung jedenfalls dann ausgeschlossen bleibt, wenn sich der Beschuldigte allein mit seinen engsten Familienangehörigen oder anderen engsten Vertrauten in der Wohnung aufhält und keine Anhaltspunkte für deren Tatbeteiligung bestehen. Der Gesetzgeber hätte in der Vorschrift auch deutlicher zum Ausdruck bringen müssen, dass die Überwachung bei Überschreitung der Grenzen zum absolut geschützten Bereich sofort abgebrochen werden muss und eine Verwertung solcher Daten ausgeschlossen ist. Eine automatische Aufzeichnung ist daher nicht möglich. Das BVerfG hält auch den Straftatenkatalog in § 100 c StPO für ausufernd.5 Da der Lauschangriff einen schweren Grundrechtseingriff darstellt, sei die Bezugnahme auf allenfalls dem mittleren Kriminalitätsbereich zuzuordnende Straftaten mit einer Höchststrafe von unter fünf Jahren verfassungswidrig. Dieser Anforderung genügen weite Teile des Katalogs nicht. Insgesamt statuierte das Gericht dem Gesetzgeber in seiner Entscheidung detaillierte materielle und verfahrensrechtliche Vorgaben. Diese wurden bei der zum 1.7.2005 in Kraft getretenen Neuregelung der §§ 100 c-f StPO berücksichtigt. Obwohl sie den Anwendungsbereich einschränkten, hielten die RichterInnen das Instrument des großen Lauschangriffs und somit Art. 13 Abs. 3 GG leider für akzeptabel. Die Wohnung hat den Charakter eines Rückzugsraums nicht wiedergewonnen. Auch bei Zugestehen eines Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung bleibt kaum Intimsphäre übrig. Realistisch gesehen wird die recht schwammige Grenze des Kernbereichs auch regelmäßig überschritten werden müssen, bevor sich der Überwacher dessen bewusst wird und die Maßnahme abbricht. Lediglich zwei RichterInnen des Senats erkannten in ihrem Sondervotum, dass "der Schutz der Wohnung zur Wahrung der Menschenwürde absolut ist."

My phone is my castle

In der Entscheidung zur präventiven Telekommunikationsüberwachung führt das BVerfG seine Rechtsprechung fort.6 In dieser Entscheidung wurde die Befugnis der niedersächsischen Polizei, Telekommunikation zur Erleichterung künftiger Strafverfolgung und zur Verhütung von Straftaten zu überwachen, für verfassungswidrig erklärt. Anders als bei der Wohnraumüberwachung sind aber Eingriffe in den Kernbereich hinnehmbar, wenn das Ausmaß der abzuwehrenden Gefahr dies ausnahmsweise rechtfertigt. Die Speicherung und Auswertung solcher Daten ist aber ausgeschlossen. Das BVerfG stellt an die Ermächtigungsnorm sehr hohe Bestimmtheitsanforderungen. Anlass, Zweck und Ausmaß der Überwachung müssen präzise und klar festgelegt werden. Hierbei ist eine Orientierung an der konkreten Gefahr im Polizeirecht bzw. am Tatverdacht im Strafprozessrecht zwingend geboten. Diesen Anforderungen konnte die niedersächsische Eingriffsnorm nicht genügen. Außerdem rügte das BVerfG Kompetenzübertretungen. Die Vorsorge für die künftige Strafverfolgung, mithin die Überwachung auf Vorrat, fällt in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Soweit der Bundesgesetzgeber von dieser Kompetenz in Hinblick auf ein bestimmtes Instrument abschließend Gebrauch gemacht hat, ist kein Raum mehr für eigene Bestimmungen der Länder. Diese Feststellung des Gerichts lässt sich auch auf andere polizeiliche Befugnisse übertragen.7 So müssten auch erkennungsdienstliche Maßnahmen, der Einsatz verdeckter Ermittler sowie die verdeckte Datenerhebung mit technischen Mitteln aufgrund eines abschließenden Konzepts in der StPO eine Kompetenzüberschreitung darstellen, soweit sie an den Verdacht einer Straftat oder lediglich an die Erfordernisse vorbeugender Straftatbekämpfung anknüpfen. Der Rechtsprechung des BVerfG folgend ist die Kompetenz der Länder für die Normierung solcher Eingriffsbefugnisse nur für den Bereich der Abwehr einer konkreten Gefahr, also zur Verhinderung konkreter Straftaten, gegeben.

Fisch sucht Fahrrad - Präventive Rasterfahndung

Das BVerfG hat auch der nach dem 11.09.2001 eingeleiteten Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen Grenzen gesetzt.8 Die Verfassungsbeschwerde griff gerichtliche Entscheidungen über die Anordnung einer auf § 31 Abs. 1 Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen gestützten präventiven polizeilichen Rasterfahndung an. Diese Eingriffsbefugnis setzte voraus, dass die Maßnahme erforderlich ist, um eine "gegenwärtige Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person" abzuwehren. Das BVerfG sieht in der der Rasterfahndung immanenten Datenerhebung einen schweren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG). Zwar könne mit der präventiven polizeilichen Rasterfahndung ein legitimes Ziel mit verhältnismäßigen Mitteln verfolgt werden, doch ist sie aufgrund des verdachtlosen Eingriffs als bloße Vorfeldmaßnahme mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung unvereinbar. Daher reiche eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie in Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11.09.01 durchgehend bestehe, für die Anordnung einer Rasterfahndung nicht aus. Vorauszusetzen ist vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa der Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergibt. Angesichts dieser sehr engen Auslegung des Gefahrenbegriffs dürfte die präventive Rasterfahndung kaum noch durchgeführt werden können.

Life is life - Das Luftsicherheitsgesetz

Am 14.01.2005 wurde das Luftsicherheitsgesetz verabschiedet. Es fasst eine Reihe von Bestimmungen zum Schutz des Luftverkehrs vor Entführungen, Anschlägen etc. zusammen und regelt die Zuständigkeiten von Aufsichts- und Kontrollbehörden. Nach § 14 III dieses Gesetzes konnte eine gekaperte Passagiermaschine abgeschossen werden, soweit dies das "einzige Mittel zur Abwehr" "eines besonders schweren Unglücksfalls darstellt." In seinem Urteil vom 15.02.2006 erklärte das BVerfG § 14 III Luftsicherheitsgesetz für unvereinbar mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 II GG und der Menschenwürde nach Art.1 I GG.9 Es machte deutlich, dass es der staatlichen Gewalt grundsätzlich verboten ist, an Bord befindlichen unschuldigen Menschen ihr Leben zu nehmen, um andere zu retten. Dabei unterstrichen die RichterInnen nochmals, dass menschliches Leben ungeachtet der vermeintlichen Dauer unter verfassungsrechtlichem Schutz stehe und nicht verrechnet werden dürfe. Bereits zum Erlass einer solchen Regelung sei der Gesetzgeber schlichtweg nicht befugt. In der rechtlichen Debatte erregte jedoch das Novum eines Streitkräfteeinsatzes im Innern des Landes viel mehr Aufsehen. Den diesbezüglichen Skeptikern schloss sich auch das Gericht an. Die Regelung sei unvereinbar mit Art. 35 II Satz 2 und III Satz 1 GG, der den Einsatz spezifisch militärischer Waffen durch die Streitkräfte im Inland nicht vorsehe. Folglich plädieren die Befürworter solcher Einsätze nun verstärkt für eine entsprechende Verfassungsänderung. Wie einstweilen auf die Entführung eines Flugzeugs durch Terroristen zu reagieren wäre, ist im Einzelfall zu entscheiden. Eine spezialgesetzliche Regelung wie die verworfene ist mit der Verfassung im Moment jedenfalls unvereinbar.

Freiheit stirbt mit Sicherheit

Noch immer erzeugt die reißerische Medienberichterstattung in weiten Teilen der Bevölkerung eine zur tatsächlichen Gefahr außer Verhältnis stehende Angst vor terroristischen Anschlägen. Daher wächst die ohnehin bestehende Bereitschaft, zu Gunsten der Sicherheit auf grundlegende Freiheitsrechte zu verzichten. In dem Bewusstsein ja nichts zu verbergen zu haben sieht der obrigkeitsfixierte Durchschnittsbürger in den getroffenen Maßnahmen schon gar keinen Eingriff. Die Neigung der Legislative, den exekutivischen Handlungsspielraum zu Lasten individueller Freiheiten auszudehnen, wird so um eine populistische Motivation ergänzt. Folglich ergreift der Gesetzgeber jeden sich bietenden Anlass zu weiteren Verschärfungen der bestehenden Grundrechtsbeschränkungen. Vor diesem Hintergrund wird es nicht ausreichen, dass das BVerfG die wildesten Auswüchse des Sicherheitswahns zögerlich zurückweist. Erforderlich ist vielmehr eine entschlossene Positionierung, die der Sicherheitsgesetzgebung eindeutig die grundgesetzlichen Grenzen aufzeigt. Denn der Anspruch die Verfassung zu schützen, kann niemals die Abschaffung ihrer unveräußerlichen Grundsätze rechtfertigen. Sarah Lincoln und Nils Rotermund studieren Jura in Hamburg. 1 BVerfGE Bd. 30, S.46. 2 Baden Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Thüringen. 3 BVerfGE Bd. 107, 299. 4 BVerfGE Bd. 109, 279. 5 u.A. Bestechlichkeit (§332 I StGB), Bestechung (§334 StGB), Verfassungsfeindliche Sabotage (§ 88), Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, z.B. durch Werben um Unterstützung nach § 129 a V S.2 Var.2 StGB. 6 BVerfG NJW 2005, 2603, s. auch D. Pfanne, Präventives Abhören nicht erlaubt, in: Forum Recht 2005, S. 140. 7 So Kutscha in: CILIP 82 (3/2005) S. 16. 8 BVerfG NJW 2006, S. 1939. 9 BVerfG NJW 2006, S. 751.