Angst vor kommunistischen BriefträgerInnen

Zur Geschichte und Gegenwart der Berufsverbote

Noch 35 Jahre nach dem so genannten Radikalenerlass musste ein Lehrer in Baden-Württemberg den Zugang zum Klassenraum gerichtlich erstreiten: als engagierter Antifaschist war er dort unerwünscht.

Dieses Berufsverbot zeigt die Aktualität eines Instruments aus den Zeiten des Kalten Kriegs. Im Gefolge der 1968er-Revolte schien der Linksradikalismus insbesondere an den Universitä­ten zuzunehmen. Auf einer Ministerpräsidentenkonferenz am 28. Jan. 1972 wurde unter Betei­ligung von Bundeskanzler Willy Brandt beraten, wie man den neuen Phänomenen der RAF-Stadtguerilla, des von Rudi Dutschke angekündigten "Marsches durch die Institutionen" und nicht zuletzt der Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) Einhalt gebieten könnte. Nach dem Vorbild einer seit kurzem in Hamburg existierenden Praxis beschloss die Konferenz, die Beamtengesetze zu nutzen: sie wurden zwar nicht geändert, aber nach ge­meinsamen "Grundsätzen" (rechtlich: norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften)1 fortan so ausgelegt, dass nicht BeamteR werden bzw. bleiben durfte, wer sich in "verfassungsfeindli­chen" Gruppen engagierte.

Peinliche Verhöre

Der Beschluss, der formal "Extremisten" von links wie rechts betraf, war in den folgenden 20 Jahren die Grundlage für ca. 1250 abgelehnte Beamtenbewerbungen sowie 265 Entlassungen aus dem Staatsdienst - fast ausschließlich von als linksextremistisch bezeichneten Personen.2 Gegenüber vielen weiteren wurden Berufsverbote angedroht oder disziplinarische Maß­nahmen verhängt; oft "einigten" sich Behörden und BewerberInnen auch auf eine Einstellung ohne Verbeamtung.3 Für ein Klima allgemeiner Unsicherheit sorgte die so genannte Regelanfrage beim zuständigen Amt für Verfassungsschutz, von der insgesamt ca. 3,5 Millionen Personen betroffen waren. Erfasst wurde, wer sich zwar nicht "gerichtsverwertbar", aber doch irgendwie "verdächtig" verhalten hatte. Eine Überprüfung fand nicht nur bei Berufen mit Zugang zu Staatsgeheimnissen statt, sondern auch bei (angehenden) LehrerInnen, ja sogar bei LokomotivführerInnen und BriefträgerInnen. Gegen fast alle "Extremisten" lag nichts weiter vor als die völlig legale Mitgliedschaft in der DKP bzw. ihr nahestehenden Organisationen oder in so genannten K-Gruppen. In Bayern ge­nügte es, sich in einer der vielen neu gegründeten Gruppen gegen "Berufsverbote" zu enga­gieren: Schon die Verwendung dieses Begriffs galt in manchen Fällen als Diffamierung der BRD und als Beleg für die eigene Verfassungsfeindlichkeit.4 Peinlich genau wurden die Verdächtigen nicht nur nach unterschriebenen Petitionen und ihrer Einstellung zu parteikommunistischen Theoremen wie der "Diktatur des Proletariats" gefragt, sondern auch nach ihrer Meinung zu Wohngemeinschaften und außerehelicher sexueller Freizügigkeit.5 Die Einzel-Verhöre isolierten und verunsicherten die betroffenen BerufsanwärterInnen, viele andere spürten den "Anpassungsdruck und die an einzelnen Exempeln statuierte Abschreckungswirkung"6. Ein Protokoll der Anhörung erhielten die Verhörten oft nicht, was den Weg zu Gericht ebenso erschwerte wie das Verbot, einen Rechtsbeistand mitzubringen. Zwischen der ersten Anhörung und der schließlichen Entscheidung konnten über zehn Jahre liegen, im Durchschnitt dauerten die Berufsverbotsverfahren gut zwei Jahre.7 Selbst wenn ein/e BetroffeneR vor Gericht nach mehreren mühsamen und kost­spieligen Instanzen letztlich Recht bekam, konnte die eigene berufliche Existenz vernichtet sein, von den psychologischen und privaten Folgen einmal abgesehen. Diskriminierungen von Linksradikalen fanden auch im privaten Bereich statt: viele Arbeitgeber, darunter zum Beispiel die Metallindustrie oder kirchliche Privatschulen, verhinderten die Einstellung von "Radikalen" oder entließen diejenigen, die als solche bekannt wurden - in einzelnen Fällen nach gezielter Denunziation durch Geheimdiens­te.8 Freundlich zur Hand war dabei die FAZ mit ihrem Leitfaden "Radikale im privaten Dienst - worauf bei der Entlassung geachtet werden muß".9

Der Niedergang des Radikalenerlasses

In der BRD kam gesellschaftliche Kritik am Radikalenerlass zunächst von Linken und Bürgerrechtsgruppen, später auch von einigen Gewerkschaften, Teilen von SPD und FDP so­wie den Grünen. Im euro­päischen Ausland wurde die bundesdeutsche Praxis als unrechtsstaatlicher Sonderweg und als Hexenjagd im Stile McCarthys kritisiert. "Berufsverbot" wurde ein Exportschlager in andere Sprachen wie zuvor "Kindergarten" oder "Blitzkrieg". Die konservative britische "Times" hielt die BRD für "noch unsicherer und intoleranter gegenüber Gegenstimmen als ihre Nach­barn"10, französische SozialistInnen um Mitterand gründeten ein "Komitee zur Verteidi­gung der bürgerlichen und beruflichen Rechte in Westdeutschland", das Europäische Parlament kritisierte die Berufsverbote mehrfach und italienische Gemeinden verabschiedeten eine Resolution mit dem Titel "Im Herzen Europas erscheint erneut das Gespenst der poli­tischen Verfolgung".11 Der in- und ausländische Druck führte zu einer gewissen Liberalisierung, die an­fänglich von konservativer Seite scharf angegriffen wurde. Die Regelanfrage wurde auf Bundesebene sowie in den SPD-regierten Ländern Ende der 70er-Jahre aufgehoben. Als er­stes Bundesland setzte das Saarland den Radikalenerlass 1985 voll­ständig aus, einige Länder stellten Entlassene wieder ein. In den CDU-regierten Ländern kam die Abschaffung der Regelanfrage nur zögerlich, in Bayern sogar erst 1992. Seitdem er­folgte eine Anfrage nur noch "im Bedarfsfall".

"Der Staat, der sich nicht selbst aufgeben will"

Mit einem Urteil im Jahr 1975 lieferte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine ausführliche Rechtfertigung der Berufsverbotspraxis in Bund und Ländern.12 Dort hieß es, die beamtliche Treuepflicht sei ein "hergebrachter Grundsatz des Berufsbe­amtentums" (Art. 33 Abs. 5 Grundgesetz [GG]). Sie erfordere "mehr als nur eine formale korrekte, im üb­rigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und [!] Verfassung", nämlich die Identifikation des Beamten mit "seinem" Staat und ein "Bekenntnis" zur freiheit­lich-demokratischen Grundordnung. Nicht schon eine bestimmte politische Meinung, wohl aber "politische Aktivitäten im Sinne seiner politischen Überzeugung" können eine Verletzung der Treuepflicht darstellen. Bei der Beurteilung, ob BeamtenbewerberInnen "Ge­währ dafür bieten, dass sie jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzu­treten bereit sind" sei eine einzelfallbezogene Prognoseentscheidung zu treffen, die gerichtli­che Überprüfbarkeit aber eingeschränkt. Unterschiede je nach Art der beamtlichen Dienste würden nicht gemacht. Diese Grundsätze gelten - wie laut BVerfG "der Vollständigkeit halber zu bemerken ist" - auch für Angestellte im öffentlichen Dienst. Dass die Mitgliedschaft in einer "verfassungsfeindlichen", aber nicht verbotenen Partei als (maßgeblicher) Beleg für eine Treupflichtverletzung herangezogen werde, verletze auch nicht das Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 GG: Parteien seien von Berufsverboten gegen ihre Mitglieder bloß faktisch betroffen. Die Meinungsäußerungsfreiheiten des Grundgesetzes (Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1) seien für Beamte mit ihrer Treuepflicht in Ausgleich zu bringen - im Ergebnis wird der Schutzbereich der Grundrechte beschränkt: Unter die Meinungsfreiheit falle ein Verhalten nur, "wenn es nicht unvereinbar ist mit der in Art. 33 Abs. 5 GG geforderten politischen Treuepflicht des Beamten." Von Art. 3 Abs. 3 GG sei allein das bloße Haben, nicht das Äußern einer Überzeugung geschützt, im Übrigen sei die Norm durch die Notwendigkeit einer "wehrhaften" Demokratie begrenzt. Der Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) gegenwärtiger oder zukünftiger Beamter schließlich sei durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt, denn "der Staat, der sich nicht selbst aufgeben will, (...) muß sicherstellen, daß in den Beamtenapparat nicht Verfassungsfeinde eindringen."

Taktisches Verhalten

Manche Fachgerichte widersprachen in der Folgezeit der Behördenpraxis. Insbesondere die unteren Arbeitsgerichte bemühten sich oft um die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze. Zum Teil wurden daher allzu vage Beschuldigungen korrigiert, so z. B. die Unterstellung, ein DKP-Austritt sei bloß taktisch gewesen.13 Insgesamt aber endeten ca. 75 % aller Berufsverbotsverfahren mit dem ursprünglich beabsichtigten Verbot, wie die Auswertung von 1004 dokumentierten Verfahren durch die Freiburger Bürgerinitiative gegen Berufsverbote ergibt.14 Auch weigerten sich Behörden in vielen Fällen schlichtweg, missliebige Gerichtsentscheidungen anzuerkennen.15 Insbesondere die Verwaltungsgerichte erörterten unterdessen gerne inzident die Verfassungsfeindlichkeit von linken Gruppen und Parteien (während der VGH Baden-Württemberg der NPD 1978 Verfassungskonformität bescheinigte16), schlossen davon oft umstandslos auf die mangelnde Verfassungstreue aller Mitglieder und forderten von BeamtenbewerberInnen daher Distanzierungserklärungen oder Austritte.17 Angeführt wurden sie vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), das viele mildere Entscheidungen der Instanzgerichte mit z. T. erschreckender Argumentation verschärfte18 und auch nicht davor zurückschreckte, "übergeordnete Gründe des Gemeinwohls" zu bemühen19. Verwaltungsgerichte lasen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse oft einfach in den Text des - wirtschaftspolitisch ja neutralen - Grundgesetzes hinein. In nur einem Wort das BVerwG: "Die DKP greift die geltende Verfassungsordnung nicht nur an, sondern diffamiert sie auch. So wird die bestehende Wirtschaftsordnung als "kapitalistische Ausbeuterordnung" bezeichnet (Â…)."20

Metaphysischer Staat - und ein Märchen

Unterstützung fand diese Praxis in der konservativen Staats­rechtslehre. Aus Angst vor der gefühlten Bedrohung der BRD sogar durch PostbotInnen21 und mit Blick auf evtl. krisenhafte Situationen - "In welche Richtung wird der Beamte schießen?"22 - stand für manchen fest: ohne Berufsverbote wäre der Staat "gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen ziemlich wehrlos ausge­setzt"23. Die obrigkeitsstaatlichen Rechtfertigungen in verfassungsrechtlichem Design klangen oft ähn­lich wie das Urteil des BVerfG. Beamten wurde mit Verweis auf ihre "Dienerschaft" und Treuepflicht zu einem von der Verfassung losgelösten Staat, mit dem sie sich zu identifizieren hätten, die Grundrechtsträgerschaft jedenfalls implizit abgesprochen.24 Etwa bei LehrerInnen oder LokführerInnen weniger streng vorzugehen, wurde mit Blick auf den Kriegsfall für unzulässig erklärt, dann drohten kommunistische Sabotageakte: "Zu den Techniken der französischen Résistance während der deutschen Besatzungszeit ge­hörte z. B., Eisenbahnen auf Abstellgleise zu verschieben."25 Das vermeintlich "Materiale" oder "Wehrhafte" an der Demokratie wurde vielfach argument­ativ unterfüttert mit einer interessengeleiteten Geschichtsversion: Grund des Unter­gangs der Weimarer Republik sei das übertrieben formalistische Demokratieverständnis gewesen, das den legalen Weg der Nationalsozialisten zur Macht nicht aufhalten konnte.26 Das auch zur Reinwaschung deutscher NS-Richter verwendete Positivismusmärchen über­nahm die Nazi-Propaganda, die "Machtergreifung" sei (mit dem 30. Januar 1933 beendet gewesen und) völlig legal abgelaufen, also nicht etwa durch Gesetzesverstöße und Brutal­itäten aller Art erfolgt.27 Dass die "wehrhafte" BRD ihre "Feinde" frühzeitig bekämpfen sollte, zur Not auch mit verfassungsrechtlich zweifelhaften Mitteln, lief darauf hinaus, eine überge­setzliche "Legitimität" im Sinne der Staatsräson gegen die "bloß formale" verfassungsrecht­liche Legalität in Stellung zu bringen.

Menschenrechtsverstöße

Angesichts des weiträumigen Versagens der bundesdeutschen Justiz konnten Grundsatzurteile gegen die Berufsverbote nur andernorts erreicht werden. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) stellte 1987 nach umfangreichen Untersuchungen einen Verstoß der BRD gegen das verbindliche Übereinkommen Nr. 111 "Über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf" fest. Die Berufsverbotspraxis stelle eine verbotene Diskriminierung auf Grund der politischen Meinung dar. Anstatt konkreten Dienstpflichtver­letzungen mit disziplinarischen Einzelmaßnahmen zu begegnen, würden generell-präventive Berufsverbote ausgesprochen, was unverhältnismäßig sei. Die Voraussetzungen einer Aus­nahme zugunsten der Sicherheit des Staates (Art. 4 des Übereinkommens) lägen nicht vor.28 Die BRD wurde aufgefordert, alle noch laufenden Verfahren einzustellen und die Betroffenen zu rehabilitieren.29 Der zweite rechtliche Erfolg war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrech­te von 1996, das einer 1987 wegen Aktivitäten für die DKP entlassenen Lehrerin Recht gab. Art. 10 (Freie Meinungsäuße­rung) und Art. 11 (Vereinigungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention seien durch die Entlassung verletzt, diese also rechtswidrig.30 Die Versuche der Bundesregierung, die Beamtin aus dem Schutzbereich der Menschenrechte herauszudefinieren oder eine Ausnahme zugunsten der "wehrhaften Demokratie" geltend zu machen, scheiterten. Nüchtern stellten die Richte­rInnen fest, dass der Lehrberuf nicht sicherheitsrelevant sei und der Lehrerin gerade kein dienstliches Verhalten, etwa eine Indoktrination ihrer Schüler, vorgeworfen wurde. Sie wegen außerdienstlichen und "gänzlich legalen" politischen Engagements zu entlassen, sei nicht "in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich" gewesen. Einziger Wehmutstropfen: die Mehrheit der Straßburger RichterInnen wollte die Urteils­maßstäbe ausdrücklich nicht auf BeamtenbewerberInnen erstrecken.

Verfassungswidriger Verfassungsschutz

Erwartungsgemäß heftig wurde der Radikalenerlass in den 1970er und 1980er Jahren mit verfas­sungsrechtlichen und rechtspolitischen Argumenten angegriffen. Kritikwürdig war aus rechtsstaatlich-liberaler Perspektive natürlich vor allem, dass die Berufsverbotspraxis dem Grundgesetz widersprach: Gerade der Schutz der Verfassung sollte nicht mit verfassungswid­rigen Mitteln erfolgen. Am klarsten erkennbar war die Verletzung des Parteienprivilegs des Art. 21 GG, wenn der Hauptvorwurf eines Berufsverbotsverfahrens die Mitgliedschaft und Aktivität in der legalen DKP war: Eine Verbotsentscheidung durch das BVerfG konstituiert erst die Verfassungswid­rigkeit einer Partei, diese vorher rechtlich geltend zu machen, ist unzulässig. Der Schutz des Art. 21 GG gilt selbstverständlich auch ihren Mitgliedern und Funktionären, ohne die keine Partei bestehen könnte.31 Die Folge einer inzidenten Prüfung durch jede Behörde und jedes Instanzgericht ist im Übrigen völlige Rechtsunsicher­heit.32 Auf ein langwieriges (und angesichts ihres Bekenntnisses zur demokrat­ischen gesellschaftlichen Veränderung unsicheres) verfassungsgerichtliches Verbotsverfahren gegen die DKP hatte man verzichtet. Die Rechtsfolgen des fehlenden Verbots nun dennoch vollziehen zu wollen, war ein Verfassungsbruch, der nur einem der acht an der Leitentscheidung von 1975 beteiligten Verfassungsrichter aufgefallen war.33 Wenig überzeugend war des Weiteren die Annahme des BVerfG, mit der besonderen Beamtentreue ließen sich auch besondere Pflichten für Angestellte im öffentlichen Dienst be­gründen. Besonders problematisch waren die Grundrechtsverletzungen: die "Eignung" für den Staatsdienst darf wegen Art. 3 Abs. 3 GG nie so konkretisiert werden, dass jemand auf Grund seiner "politischen Anschauungen" benachteiligt werden kann, solange nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren etwa eine Verletzung von politischen Strafvorschriften festgestellt worden ist.34 Art. 3 Abs. 3 GG schützt nämlich auch das Äußern, nicht bloß das Haben einer politischen Anschauung.35 Die "streitbare Demokratie" von konkreten Vors­chriften des GG mit erkennbarem Ausnahmecharakter loszulösen und als verfassungsimmanente Schranke in alle Grundrechte hineinzulesen, war ein unlogischer Induktionsschluss und rechtsstaatswidrig.36 Ob jemand die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, 9 Abs. 1 GG) bloß zum Kampf gegen das GG verwendet, kann nicht jede einzelne Behörde mit pauschalem Verweis auf die unbestimmte "wehrhafte" Demokratie feststellen, sondern nur das BVerfG nach den gerade dazu existier­enden Staatsschutzbestimmungen der Art. 9 Abs. 2 und 18 GG in rechtsförmigen Verfahren.

Identifikation statt Distanz

Grundlegend ist aus rechtsstaatlicher Sicht zu kritisieren, dass den (zukünftigen) BeamtInnen keine rechtskräftig festgestellten Gesetzesverstöße, sondern bloß "verfassungsfeindliche" Gesinnung vorgeworfen wurde. Nicht äußeres Verhalten wurde danach auf seine Legalität, sondern innere Gesinnung auf ihre Legitimität hin überprüft.37 In Abkehr vom "Prinzip gesetzlicher Freiheit" forschte der Staat nach der "Verfassungsfeindlichkeit" - "ein Begriff, den das Grundgesetz nicht kennt und der unbestimmt genug ist, um vieles abzudeck­en"38. Die Herkunft der Klausel vom "jederzeitigen Gewährbieten" ist dabei bezeichnend: seit 1937 und in bewusster Abkehr vom rechtsstaatlichen Beamtenver­ständnis der sachlichen Distanz wurde eine gesinnungsidentifikator­ische Nähe der ganzen Person zum Staat verlangt ("...jederzeit rückhaltlos für den nation­alsozialistischen Staat einzutreten").39 Der Behauptung der ErlassbefürworterInnen schließ­lich, gerade in der Krise sei jeder Staat auf Identifikationsbereitschaft angewiesen, kann entgegengehalten werden, dass "suggestive Alltagsurteile"40 nicht sozialwissenschaft­liche Beweise für diese These ersetzen können. Und andere Länder kommen sehr gut ohne vergleichbar weitgehende Vorschriften aus.

Politische Justiz in deutscher Tradition

Kritik am Radikalenerlass kann heute anknüpfen an Beiträge von Autoren wie Helmut Ridder oder Wolfgang Abendroth, die zusätzlich zu ver­fassungsdogmatischer Kritik versuchten, die fragwürdigen Traditionen der Berufsverbots­praxis offen zu legen. In der Tat waren die persönlichen Kontinuitäten aus dem Nationalsozi­alismus, z. B. im Bundesamt für Verfassungsschutz und im BVerwG, auffällig.41 Und aus­gerechnet der Berichterstatter des BVerfG-Urteils, Willi Geiger, war ein NS-Jurist gewesen, der nicht nur als Staatsanwalt an Todesurteilen mitgewirkt, sondern auch Theoretisches für den "Führer" geleistet hatte: in seiner Dissertation von 1941 konstruierte er für "Schriftleiter" (Journalisten) auffallend ähnliche identifikatorische Pflichten, wie 1975 für den öffentlichen Dienst.42 Inhaltlich lassen sich ganze Argumentationslinien der Rechtsprechung auf staats­rechtliche Schriften des "Dritten Reichs" zurückführen, z. B. auf Hans Franks "Deutsches Verwaltungsrecht" von 1937:43 "Es genügt nicht, daß der Beamte dem nationalsozialistischen Staat fremd, gleichgültig oder uninteressiert gegenübersteht. (...) Staat und Beamter müssen sich äußerlich und innerlich decken." Die Berufsverbote lassen sich auch in den Kontext der Verfolgung von KommunistInnen in der BRD stellen.44 Als Teil eines "Staatsschutz"-Pakets im Gefolge des Korea-Kriegs hatte die Regierung Adenauer seit 1950 "Extremisten" aus bestimmten rechten und vor allem lin­ken Vereinigungen die Aufnahme in den bzw. den Verbleib im öffentlichen Dienst unmöglich machen wollen.45 Bis 1968 wirkte der so genannte "Adenauer-Erlass" nach, ab 1972 kehrte die politische Justiz nun in neuem Gewand zurück - als hingegen "die NPD (...) aufstieg, hat niemand einen derartigen Beschluss erwogen."46 Die Berufsverbote kann man also als Gängelung friedlicher demokratischer SystemkritikerInnen werten. Linke sahen sie frühzeitig als einen gefährlichen Schritt in Richtung einer Aushöhlung des Verfassungsstaats an, ähnlich den Notverordnungsregierungen ab 1930: "Mit Sanktionen belegt" werde "die Inanspruchnahme des Rechts der freien Meinungsäußerung, womit das Berufsverbot eigentlich ein schlichtes Demokratieverbot ist."47

Antifaschismus verfassungsfeindlich?

Kritik am Radikalenerlass und seinen Vollstreckern ist auch heute noch nötig. Dem angehenden Realschullehrer für Geschichte, Deutsch und Kunst Michael Csaszkóczy wurde 2004 in Baden-Württemberg aus politischen Gründen der Lehrerberuf versperrt. Wie in den meisten Bundesländern existiert dort nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften des Innenminis­teriums (zur Durchführung von § 6 des Landesbeamtengesetzes) seit 2003 zwar keine Regel­anfrage mehr. Die Betätigung in einer vom Verfassungsschutz für extremistisch erklärten Gruppe soll aber bereits eine verfassungsfeindliche Haltung indizieren. Dabei gilt: "die Widerlegung ist Sache des Bewerbers". Der Gegenbeweis ist Csaszkóczy nach Ansicht des Oberschulamts nicht gelungen. Später schloss sich auch das Land Hessen dem Be­rufsverbot an. Nach langjähriger geheimdienstlicher Überwachung wurde Csaszkóczy neben der Anmeldung von Demonstrationen gegen Faschismus und Krieg vor allem die aktive Mit­gliedschaft in der Antifaschistischen Initiative Heidelberg zur Last gelegt. Diese konstatiert in ihrer Selbstdarstellung48, dass in den 90er Jah­ren "gewalttätige rassistische Angriffe zur Normalität geworden" seien und kritisiert die Kon­tinuitäten zwischen NS und BRD, gegen die man sich notfalls auch "militant" wehren wolle. Das empfand das VG Karlsruhe als Diffamierung der verfassungsmäßigen Ordnung des GG: "Mit solchen Ausführungen werden die Grenzen einer legitimen Kritik un­seres Staates und [sic!] seiner Verfassung mit Augenmaß weit überschritten."49 Die ge­schichtspolitische Frechheit, die hinter dem Urteil steckt, brachte Frank Drieschner in der ZEIT auf den Punkt: "Das immerhin ist neu: dass Lehrer gehalten sind, sich vom Stand der histo­rischen Forschung zu distanzieren." Auch juristisch ist das Urteil dürftig: anstatt die Behördenentscheidung auf Rechtsfehler zu überprüfen, bastelten die Richter eine eigene Be­gründung für die Nichteinstellung. Erst der VGH Baden-Württemberg erklärte das Berufsverbot am 14. März 2007 für rechtswidrig50: die Behörde sei einseitig vorgegangen, die gesammelten Vorwürfe begründeten keine Zweifel an der Verfassungs­treue Csaszkóczys. Das Land muss nun unter Berücksichtigung dieser Rechtsauffassung er­neut entscheiden - was wohl auf ein Einstellungsgebot hinausläuft. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat den angehenden Realschullehrer daraufhin zu einer weiteren Anhörung geladen, in der es um "offene Fragen zur Treuepflicht" gehen soll. Bleibt zu hoffen, dass Csaszkóczy in Übereinstimmung mit dem VGH-Urteil so bald wie möglich eingestellt wird - und dass der Versuch, die Berufsverbotspraxis wiederaufleben zu lassen, endgültig gescheitert ist.

Rehabilitieren!

Die deutschen Medien sprachen im Fall Csaszkóczy einhellig von einem Berufsverbot, versteckten sich also im Gegensatz zu den Behörden nicht hinter der alten Ausrede, ein/e abgelehnte/r LehrerIn könne ja auch an einer der wenigen (und meist konservativen) Privatschulen unter­richten. Das politische Klima scheint nicht mehr so stark geprägt zu sein vom Antikommunis­mus des Kalten Kriegs. Vielleicht sind also die Umstände gar nicht so ungünstig für die offizielle Anerkennung, dass die Berufsverbote Un­recht waren. Auf ihre Rehabilitierung und finanzielle Entschädigung warten nämlich noch viele Betroffene.

John Philipp Thurn promoviert in Freiburg.

1 Vgl. Josef Isensee, Juristische Schulung 1973, S. 265 ff. (265). 2 Zahlen nach Braunthal, Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst: Der "Radikalenerlaß" von 1972 und die Folgen, 1992, S. 9. Histor, Willy Brandts vergessene Opfer. Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971-1988, 1989, S. 111 nennt ähnliche Zahlen und zugleich Gründe für die vermutlich hohe Dunkelziffer. 3 Histor, aaO, S. 65 ff. (76, 111). 4 Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, 2004, S. 271. 5 Braunthal, aaO, S. 60. 6 Wolf-Dieter Narr, Kursbuch 40 (1975), S. 159 ff. (176). 7 Histor, aaO, S. 99. 8 Braunthal, aaO, S. 171 ff.; viele weitere Fälle dokumentieren Horst Bethge / Erich Roßmann (Hg.), Der Kampf gegen das Berufsverbot, 1973, S. 209 ff. 9 Zitiert nach Konkret 1977, S. 26. 10 The Times, 4. Juli 1975. 11 Zitiert nach Konkret 1976, S. 26. 12 BVerfGE 39, 334. 13 BAG AP Nr. 15 und 17 zu Art. 33 Abs. 2 GG. 14 Histor, aaO, S. 102. 15 Günter Frankenberg, Kritische Justiz 1980, S. 276 ff. (277). 16 VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14. 2. 1978, AZ: IV 539/77. 17 Frankenberg, aaO, S. 278 ff. 18 Beispiele bei Martin Kutscha, Demokratie und Recht (DuR) 1985, S. 218 ff. 19 BVerwG in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1984, 1636 (1637) - Fall Narr. 20 BVerwG, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 1982, S. 22 ff. (26), Hervorhebung vom Verf; kritisch Helmut Ridder, DuR 1982, S. 43 ff. 21 Plastisch Karl Doehring, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 37 (1978), 145 ff. 22 Martin Kriele, NJW 1979, S. 1 ff. (4). 23 Hans H. Klein, in: Festschrift für E. R. Huber, 1973, S. 75 ff. (89). 24 Z.B. Hans H. Klein, VVDStRL 37 (1978), S. 53 ff. (111, Leitsatz 6). 25 Kriele, aaO, S. 4. 26 Z. B. Klein, aaO, S. 90 ff. 27 Vgl. Helmut Ridder, Das Argument 1975, 576 ff. (580). 28 Vgl. Horst Bethge und Klaus Dammann, Blätter für deutsche und internationale Politik (Blätter) 1987, S. 582 ff. 29 Vgl. Klaus Dammann, Konkret 1988, S. 34; Beobachtungen der ILO zur Entwicklung der Berufsverbote in Deutschland unter www.ilo.org/ilolex. 30 Nichtamtliche deutsche Übersetzung: EGMR NJW 1996, S. 375 ff. (Fall Vogt). 31 So in der gebotenen Kürze noch BVerfGE 12, 296 (304 f.). 32 Erhard Denninger, Blätter 1972, 255 (257 f.) 33 Siehe Sondervotum Dr. Rupp zu BVerfGE 39, 334 (378 ff.). 34 Vgl. Friedrich Müller, Blätter 1972, S. 134 (136, 141); Alfred Rinken, ebd., S. 270 (271). 35 Bernhard Schlink, Der Staat 15 (1976), S. 335 ff. (351); mittlerweile allgemeine Meinung. 36 Ausführliche Kritik bei Schlink, aaO, S. 356, 360 ff. 37 Vgl. Erich Küchenhoff / Hans-Jürgen Schimke, in: Hans Koschnick (Hrsg.), Abschied vom Extremistenbe­schluss, 1979, S. 23 ff; s. auch Ulrich K. Preuß, Blätter 1972, S. 141 ff. mit Verweis auf Otto Kirchheimer. 38 Ernst Wolfgang Böckenförde, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 277 ff. (281); ursprünglich er­schienen in FAZ v. 8.12.1978, S. 9 f., S. 280. 39 Siehe Bernhard Schlink, aaO, S. 341 f.; vgl. Böckenförde, aaO, S. 284. 40 Schlink, aaO, S. 348. 41 Vgl. Braunthal, aaO, S. 58, 62. 42 Vgl. Ingo Müller, Furchtbare Juristen, S. 220 f. 43 Zitiert nach Ridder, Alternativkommentar zum Grundgesetz (AK-GG), Art. 33 I-III, Rn. 25. 44 Vgl. zum Ganzen Alexander v. Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der BRD 1949-1968, 1978; Rolf Gössner, Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges, 1994. 45 Beschluss der BReg vom 19.9.1950; vgl. Ridder, AK-GG, Art. 33 I-III, Rn. 30. 46 Wolfgang Abendroth, Blätter 1972, S. 125 ff. 47 Neumann DuR 1976, S. 353 ff., S. 365 mit Verweis auf Ridder, Das Argument 1975, S. 576 ff; vgl. Abendroth, aaO. 48 "Wir über uns!", zu finden unter www.autonomes-zentrum.org/ai. 49 Urteilsbegründung abrufbar unter www.gegen-berufsverbote.de. 50 Urteil vom 14. März 2007 (AZ: 4 S 1805/06), Begründung abrufbar unter www.gegen-berufsverbote.de.