They love your data

Die EU nennt es Sicherheit - ExpertInnen und Organisationen warnen vor Überwachungswahnsinn durch Totalprotokollierung.

Die größte Demonstration für Demokratie und Bürgerrechte seit der Volkszählung 1987 fand am 25.9. in Berlin statt. 15.000 Menschen protestierten unter dem Motto "Freiheit statt Angst" gegen die umstrittene Vorratsdatenspeicherung (Data-Retention), Onlineüberwachung und Bundestrojaner. Über fünfzig Organisationen, Initiativen und Parteien, darunter der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, ver.di, JournalistInnenverbände, Attac, die Freie Ärzteschaft, die Hedonistische Internationale und der Chaos Computer Club riefen dazu auf. Vertreten war auch ein Rosa Block, um auf die Gefahr hinzuweisen, dass künftig der Staat durch Analyse des Kommunikationsverhaltens noch vor dem eigenen Coming-out über die sexuelle Präferenz Bescheid weiß oder gar an eine mögliche Neuauflage der Rosa Liste1 gedacht werden könnte.
"Die Demo war ein Riesenerfolg", kommentiert Bettina Winsemann vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der größten zivilgesellschaftlichen Initiative gegen die EU-Richtlinie. "15.000 Menschen und mehr für diese Themen zu begeistern, kann man gar nicht anders beurteilen. Bedenkt man, dass sich bei den ersten Demos 200 Leute versammelten, so zeigt diese Demo, dass das Bewusstsein für die Bedeutung des Datenschutzes steigt."
Nicht überall scheint die Problematik von Data Retention das Bewusstsein einer großen Öffentlichkeit zu erreichen. Oder liegt es daran, dass niemand was zu verbergen hat? Der holländische Big Brother Award 2007 in der Kategorie Personen geht jedenfalls an alle holländischen BürgerInnen. Denn laut Jury sind sie die größte Bedrohung für den Datenschutz, weil sich die HolländerInnen völlig gleichgültig und desinteressiert zeigen, wenn es um ihre persönlichen Daten geht.

Vorratszwang. Unter dem sperrigen Wort Vorratsdatenspeicherung sollen künftig die Verbindungsdaten aller EU-BürgerInnen gespeichert werden. Das heißt, das persönliche Kommunikationsverhalten von 460 Million Menschen wird archiviert: wer mit wem wann und wo telefoniert, SMS oder E-Mails ausgetauscht hat. Telekommunikationsunternehmen sind verpflichtet, die Daten inklusive der temporär vergebenen dynamischen IP-Adressen2 für eine Dauer von sechs Monaten bis zu zwei Jahren zu speichern. Durch die Speicherung erhofft sich man sich in der EU die leichtere "Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie Ausforschung von Terrorverdächtigen". Nach dieser EU-Vorgabe sollte die Richtlinie von den Mitgliedsstaaten zumindest für die Speicherung von Festnetz- und Mobil-Telefonie-Verkehrsdaten bis zum 15.9. 2007 erfolgen. Für Internetdaten steht die Anpassung des österreichischen Telekommunikationsgesetzes (TKG 2003) bis spätestens März 2009 bevor.

Verschoben. Nicht nur hierzulande verzögert sich die Umsetzung der verpflichtenden EU-Richtlinie. "Auf den Herbst verschoben", "voraussichtlich Oktober" lauten die Antworten auf die Frage, wann die nächsten parlamentarischen Sitzungen über die Causa stattfinden. In Deutschland erfolgt die Umsetzung aller Wahrscheinlichkeit nach Anfang 2008.
Schuld an dieser Verzögerung haben sicher auch die neunzig, teilweise sehr kritischen Stellungnahmen, die im Rahmen des Begutachtungsverfahrens Ende Mai 2007 im Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) eingegangen sind. Kritik am österreichischen Regierungsentwurf und Beanstandungen an der EU-Richtlinie selbst kamen unter anderem von Organisationen wie ARGE Daten, dem Verein q/uintessenz3, der AK und der Wirtschaftskammer Österreich.
Stellungnahmen von JournalistInnen-, ÄrztInnen- oder AnwältInnenorganisationen, die von der pauschalen Speicherung besonders betroffen sind, fehlen allerdings. "Der Österreichische Journalisten Club [ÖJC], (...) wurde vom zuständigen Bundesministerium für Verkehr, Innovationen und Technologie zu keiner Stellungnahme im Begutachtungsverfahren eingeladen", erklärte ÖJC-Präsident Fred Turnheim ORF.at. "Das zeigt deutlich, wie abschätzig hier mit der Pressefreiheit und mit der unabhängigen Berichterstattung durch Journalisten in Österreich umgegangen wird. Hier wird von Staats wegen die kritische Recherche kriminalisiert und dadurch unterbunden", so Turnheim.

Verdächtig. Als tiefen Eingriff in die Grund- rechte der BürgerInnen und Verstoß gegen Artikel 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten lehnen fast alle Organisationen diesen Entwurf ab. Durch die pauschale und verdachtsunabhängige Speicherung wird das Recht auf informelle Selbstbestimmung grob verletzt. Auch die Strafrechtsexpertin Susanne Reindl-Krauskopf warnt: "Bislang war der Grundrechtseingriff die Ausnahme. Mit der massenhaften Speicherung der Kommunikationsdaten ohne Verdacht wird er zur Regel."
Wie der AK Vorratsdatenspeicherung sehen viele DatenschützerInnen die Gefahr, dass mit "Hilfe der über die gesamte Bevölkerung gespeicherten Daten Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der Kommunizierenden" werden möglich.
Ebenso schwerwiegende Bedenken lösen die fehlenden und unzureichenden Regelungen im Entwurf vom BMVIT aus. Wer die anfallenden, enormen Anpassungskosten tragen soll (im Endeffekt die Telekom-KonsumentInnnen bzw. SteuerzahlerInnen), wie der Datenmissbrauch verhindert wird und nicht zuletzt Unklarheiten, wer wann und unter welchen Umständen und für wie lange das Recht bekomme, auf die Daten zuzugreifen. Derzeit sieht diese Regelung z. B. so aus, dass "der Zugang besonders ermächtigten Personen vorbehalten ist". Damit sind u. a. Drittstaaten und Nachrichtendienste nicht ausdrücklich vom Datenzugriff ausgeschlossen. Auch die explizite Notwendigkeit einer richterlichen Anordnung um ErmittlerInnen den Zugriff auf die Daten zu erlauben, existiert in der Frühjahrsversion des BMVIT-Entwurfs nicht.

Vorwurf. Da die Mitgliedsländer selbst bestimmen können, ab welchem Strafausmaß Datenabfragen zulässig sind, will Österreich diese künftig bereits bei Delikten mit mehr als einem Jahr Gefängnisstrafe nutzen. Mittels Data-Retention könnten dann u. a. Verstöße wie Beihilfe zum Selbstmord oder Schwere Sachbeschädigung entsprechend ausgeforscht werden. Delikte also, die weder unter Terrorbekämpfung fallen noch der organisierten Kriminalität zuzuordnen sind. Der Verdacht eines Verbrechens, auf das ein Strafrahmen von mindestens zehn Jahren steht, ist hingegen für die von ÖVP und SPÖ im Schnellverfahren beschlossene Onlinedurchsuchung mittels "Trojanern" Voraussetzung. Ab Herbst 2008 soll sie bereits zum Einsatz kommen können, freut sich Innenminister Platter.
Clevere Großkriminelle hingegen werden auch weiterhin vielfältige Möglichkeiten nutzen, um den Fahndern zu entgehen. "Man kann dem organisierten Verbrechen viel vorwerfen, nur keinen Geldmangel". Adrian Dabrowski von q/uintessenz zeigte sich anlässlich einer Diskussion im Republikanischen Club skeptisch, was den Nutzen der neuen Möglichkeiten betrifft. Der Wert gespeicherter Informationen würde sich z. B. durch das Routen von Anrufen durch Nicht-EU-Länder ebenso reduzieren, wie durch den Gebrauch und regelmäßigen Wechsel anonymer SIM-Karten oder Telefonzellen. "Die Daten sind nicht unfälschbar und nicht unmanipulierbar" benennt Dabrowski weitere Probleme im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung.
Auf noch eine andere Gefahr weist ARGE Daten hin. "Wer politische Mechanismen kennt, weiß, dass dann erst recht Begehrlichkeiten nach immer neuen Grundrechtseingriffen geweckt werden. Das Argument wird dann lauten: Die Vorratsdatenspeicherung war prinzipiell schon richtig, aber nicht ausreichend. Nächster Schritt wäre dann natürlich eine Ausweitung auf eine präventive Überwachung inhaltlicher Nachrichten". Werden wir erst dann "Es geht niemanden was an, dass ich nix zu verbergen habe" rufen?

1 Rosa Liste bezeichnet die Sammlung von Daten über tatsächliche oder vermeintliche Homosexuelle. Von Strafverfolgungsbehörden in Deutschland wurden ab dem 19. Jahrhundert Listen von männlichen Homosexuellen geführt, um Straftaten gegen § 175 (wurde 1969 aufgehoben) leichter ahnden zu können. Der Datenschutzbeauftragte für Nordrhein-Westfalen bestätigte 1980, dass "eine generelle Bereinigung dieser Altakten nicht stattgefunden" hat - "wegen des Umfangs des zu überprüfenden Aktenbestands".
Die europäische Polizeibehörde Europol darf Informationen über die sexuelle Orientierung von Personen speichern.
2 Eine IP-Adresse (Internet-Protocol-Adresse) dient zur eindeutigen Adressierung von Rechnern und anderen Geräten in einem IP-Netzwerk.
3 Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at