The Politics of Bohemia

Die Boheme, nicht die Boheme dorée, die einen Geld unterstützten ebenso schönen wie stilbewussten Müßiggang pflegt, sondern eine Boheme, die durch eine bestimmte affektive Kombination ausgezeichn

ist, durch ästhetische Verfeinerung und Hass auf das Bestehende, ist Gegenstand der folgenden Thesen. Wie jede radikalisierte Subjekt-Gruppe ist auch die Boheme nicht automatisch linker Politik zuzurechnen, nicht nur aufgrund des bemerkenswerten popkulturellen Konservatismus unserer Zeit, sondern in historisch langer Tradition einer dem Rechten sich zuneigenden Boheme, der reaktionären Zirkel der Kosmiker um Ludwig Klages und Adolf Schuler im München der Jahrhundertwende oder später des Kreises um Stefan George. Die Boheme ist ein Austragungsort für die Dynamiken von Ästhetik und Politik; sie selbst zeigt eine Möglichkeit auf, das Ästhetische dem Politischen nicht als autonome Figur entgegenzusetzen, sondern ihm seine eigenen Politiken zuzusprechen. Diese Politik der Ästhetik kämpft darum, einem Leben die Möglichkeiten, das Sinnliche wahrzunehmen und zu äußern, zuteil werden zu lassen; sie kämpft gegen die Auf- und Zerteilungen dessen, was Walter Benjamin die feinen und spirituellen Dinge genannt hat, die Sonne. An der Figur der Boheme möchte ich eine kurze Abfolge theoretischer Probleme verhandeln: die reduktiven Identifizierungen zwischen Politik und Ästhetik, die in den 1990ern zwischen Polit- und Kunstszene ausgetauscht wurden; die Frage des heroischen Subjektivismus; die Frage von Kunst als Lebensform und die historische Verschließung, die diese Vorstellung erfuhr, als sie vitalistisch und energetisch gefasst wurde, das Leben gegen den Tod. Jean-Luc Nancy hat in seinem Text Die undarstellbare Gemeinschaft eine radikale Zurückweisung dieser immanenten Gemeinschaft der Lebenden und Lebendigen verfasst. Ein Text, der wiederum an eine andere Frage rührt, nämlich was von der Unverfügbarkeit des Anderen und des Todes als konstituierendes Moment der politischen Gemeinschaft zu halten ist. Die folgenden Anmerkungen drehen sich um die Frage, wie die Potentialität von Kunst als Lebensform verschlossen wurde, nachdem sie anthropologisch und ontologisch begründet worden war - als Seinsweise des neuen Menschen, Vollendung seiner wesenhaften aber nicht entfalteten Menschlichkeit: bei Marx die lebendige Arbeitskraft, gefangen in der falschen Form kapitalistischer Produktionsweise, bei den Situationisten und Raoul Vaneigem die irreduzible Dissidenz schöpferischer Freude, mit der eine junge Generation, eine Welt zurückweisen und zerschlagen wird, in der die Garantie nicht zu verhungern, mit der Gefahr erkauft wurde, vor Langeweile zu sterben; im Postoperaismus schließlich die konstituierende Macht einer Multitude, deren schöpferische Kooperation vom Kapital blockiert ist.

Anfang der 1990er Jahre, als die dissidente Musik- und Kunstszene mit linksradikalen AktivistInnen gegen einen erstarkenden Neokonservatismus und Rassismus zusammenzuarbeiten begann, tauchte der Begriff der Boheme in Organisationen wie den Wohlfahrtsausschüssen auf, und zwar eher in den alltäglichen Kontakten als in den Positionspapieren, in denen dieses "Ich Pop, Du Politik" kritisch reflektiert wurde. Mit dieser Aktivierung einer Figur des 19. Jahrhunderts war eine Distanznahme zum Politischen verbunden. Im ersten Moment ein interessanter Akt, da das Politische auf einer Distanz zu sich selbst, auf inneren Widersprüchen und Differenzen bestehen sollte. Leider geriet diese Distanznahme zu einer nicht-politischen Geste, da sie die konservativen Effekte ihrer begrifflichen Aufteilung billigend bis genussvoll in Kauf nahm. Dieser Aufteilung liegt ein Dualismus von ästhetischer Gelassenheit und politischer Disziplin zugrunde, der eine Serie reduktiver Projektionen zwischen Ästhetik und Politik stabilisiert und aufrichtet, was demontiert werden sollte: die Doppelfigur trauriger Militanter versus heiterer Hedonist. Beiden ist ein Unmittelbarkeits- und Authentizitätsmythos eingeschrieben, bei den Militanten das Primat von Organisation und Inhalt, beim Hedonismus das Primat von Stil und Verausgabung. Anstatt ihren Dualismus zu sättigen, sollten beide Figuren das Symptom ihrer Radikalitätskonstruktion politisieren, also die Fiktionen und Affekte, die dazu antreiben, gelassen, distinguiert und offen für die Eindrücke der (Waren)Dinge zu sein. Gleichzeitig entspringt die heroische Subjektivität der linken Boheme der 1990er einer Rücküberweisung vielfacher Praktiken des Sich Distinguierens auf den eigenen Körper. Weibliche, proletarische, homosexuelle, migrantische Stile dienen als Ausstattungsfundus und Zitatenvorrat. Problematisch sind nicht Anleihe und Zitat, da es nichts Ursprüngliches zu schützen gilt, sondern die Umschreibung von Intensität auf Individualität. Der heroisch subjektive Bohemien arbeitet nicht an den minoritären Affekten und Gesten, die ihn durchqueren, sondern an einsamen Selbstzuschreibungen.

Die bohemistische Politisierung der 1990er blieb also für die Voraussetzungen und Wirkungen ihres Diskurses weitgehend blind. Vor allem aber übersah sie das grundlegende historische Paradox der Boheme. Es besteht darin, dass mit der bohemistischen Figur die Spaltung zwischen politischer Aktivität und sinnlicher Passivität sowohl affirmiert als auch überwunden worden ist. Die Boheme ist beides, eine historische Lebensform, mit der in das Verhältnis von Politik und Kunst ein konservativer Dualismus zwischen überzeugter Tat und stilvoller Gelassenheit eingeführt wurde - wie sagte Baudelaire: "Politik? Ich habe keine Überzeugungen, wenigstens nicht im Sinne meiner Zeitgenossen, weil ich ohne Ehrgeiz bin." Gleichzeitig bezeugt die Boheme eine historische Lebensform, die jene reaktionäre Ordnung überwindet, in der der Gedanke über das Gefühl, die Form über den Stoff, das Aktive über das Passive herrschen. So wird das Ästhetische politisch: als Frage nach bestimmten Trennungslinien des öffentlichen Raumes und der politischen Gemeinschaft: Wer hat Zugang zu welchen Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeiten?
Jacques Rancière hat in seinen Texten viel Mühe darauf verwandt, eine Genealogie dieses Paradigmas zu schreiben. In Schillers Konzept der "Ästhetischen Erziehung des Menschen" findet er eine Politik der Ästhetik, die mit der Vorstellung der Herrschaft des Verstandes über die Sinnlichkeit bricht. Entwickelt nach dem Scheitern der Französischen Revolution, verspricht sie ein neues Gefüge der Kunst als Laboratorium des Empfindens und im selben Atemzug ein neues Leben.
Rancière interessieren zwei Dinge an Schillers Konzeption des ästhetischen Zustandes: der Gedanke des Widerstreits und die Gleichwertigkeit von Aktivität und Passivität. Beides berührt direkt politische Fragen. Herrschaft und Knechtschaft werden bei Schiller als politische Verteilungen gedacht. Die Herrschaft der Aktivität des Denkens über die Passivität des Sinnlichen entspricht der Herrschaft des universellen Staates über die Anarchie der Massen, entspricht der Herrschaft der Müßiggänger-Herren über die Arbeiter-Knechte. Für Schiller scheiterte die Französische Revolution daran, dass sie Freiheit und Gleichheit als Gesetz durchsetzen wollte. Damit wurde reproduziert, was abgeschafft werden sollte, die Trennung zweier Menschheiten, das Souveränitätsvolk und das vor- oder außerpolitische Volk, der Pöbel, die arbeitende und leidende Bevölkerung, der Teil ohne Anteil also, der ohne Ausdruck und Stimme bleibt. Dagegen setzt Schiller eine ästhetische Revolution der sinnlichen Formen, die mit der spontanen Herausbildung einer neuen Menschheit verbunden ist. Verstand und Sinnlichkeit werden zu einer einzigen Wirklichkeit und einem neuen Bereich des Seins. In ihm wird die Herrschaft der aktiven Form über die passive Materie aufgehoben, eine Außerkraftsetzung, ein Weder-Noch von Aktivität und Passivität, das Schiller mit Verweis auf Kant Spiel nennt. Dieses Spiel ist vom Widerstreit der aktiven und passiven Vermögen geprägt, in der beide verstärkt Werden, um schließlich von ihrem Gegenteil erfasst zu werden. Die tätige Kraft wird empfangend und das empfangende Vermögen aktiv.

Dass Schiller diesem ästhetisch-politischen Paradigma eine ontologische Fundierung gegeben hat, die Idee einer wirklichen Wirklichkeit des Menschen, ist seine kritische Grenze. Sie findet sich im Marxismus wieder und in der Folge in allen Positionierungen, die mit der konstituierenden Kraft irreduzibler und wesenhafter Widerständigkeit handeln, im Freudomarxismus, in der Situationistischen Internationale, im Postoperaismus. Marx hatte in seinen frühen Schriften dem Menschen den Inhalt des Eigentlichen zugeschrieben, die wirkliche Bestimmung des Seins, kooperative und frei assoziierte Praxis, die noch in der falschen Form der kapitalistischen Produktion vergegenständlicht war. Dem Politischen wird so ein intakter Ursprung lebendiger Arbeit unterstellt, der gleichzeitig im Prozess der Emanzipation von der entfremdeten Arbeit hergestellt werden muss, ganz entsprechend des geschichtsphilosophischen Paradoxes, nachdem produziert werden muss, was angelegt ist. Demgegenüber gilt es aufrechtzuerhalten, dass der Kommunismus nicht in der Geschichte des Seins eingefaltet ist.

Das Erbe der Boheme ist also gespalten. Gespalten, was das Verhältnis von Ästhetik und Politik anbelangt, gespalten aber auch, was die Frage von Organisation und Affekt anbelangt. In ihrer Rezension von zwei Neuerscheinungen, Lucien de la Hoddes Buch La Naissance de la Republique und Adolphe Chenus Buch Les Conspirateurs, formulieren Marx und Engels in der Neuen Rheinischen Zeitung 1850 eine scharfe Kritik der Boheme. Sie sei nichts anderes als ein unstetes Milieu für Revolutionäre, die einem überkommenem Aktionsmodell anhingen, der Geheimgesellschaft und der Verschwörung im kleinen Kreis. Marx und Engels beschreiben, wie Anfang des 19. Jahrhunderts Paris und Lyon zu Zentren der revolutionären Konspiration werden, in denen inmitten der Boheme eine Gruppe heranreift, die den Umsturz als Beruf betreibt, ein unsicheres, gefährliches Leben führend, in den Gaststätten verkehrend, verzweifelt Tollkühne, die stets als erste die Barrikaden aufwerfen und kommandieren, die den Widerstand organisieren, die Plünderung der Waffenläden vorbereiten. Die Polizei toleriert und infiltriert dieses Milieu, weil sie dort die gewaltsamsten der aufrührerischen Elemente an einem Platze versammelt weiß. Gegenüber dieser irrationalistischen Revolte stellt Blanqui für Marx bereits eine Übergangsfigur zur proletarischen Revolution dar. Blanqui teile zwar noch die Vorstellung, eine Revolution aus dem Stegreif machen zu können, aber die "Societé des Saisons", die Geheimgesellschaft, mit der er den Aufstand von 1839 anführt, ist schon ausschließlich proletarisch zusammengesetzt. Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte geht Marx noch einmal darauf ein, dass das Revolutionsmodell der Verschwörer der Vergangenheit angehört. Ihre Ideen des Umsturzes seien von Ideenzerrüttung und fixen Vorstellungen geprägt, sie würfen sich auf Erfindungen, die revolutionäre Wunder verrichten sollten: Brandbomben und Zerstörungsmaschinen von magischer Wirkung. Dagegen, so Marx, ist die soziale Revolution des 19. Jahrhunderts rational in den Widersprüchen zwischen den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gegründet.
Siebzig, achtzig Jahre später liest Walter Benjamin diese Passagen bei Marx, in denen die bohemistischen Verschwörer des 19. Jahrhunderts in die Vergangenheit verabschiedet werden. In seiner Schrift über Baudelaire versucht er - Marx dialektischer Konzeption des Proletariats absolut entgegengesetzt -, ein Versprechen der Boheme zu bewahren. Dabei bleibt er Marx insoweit verpflichtet, dass er die Daseinsform der Bohemiens unter materialistischen Gesichtspunkten analysiert: LiteratInnen unter den Bedingungen eines erstarkenden Feuilletons, dessen Bezugspreise sinken und dessen Anzeigenmarkt wächst; serielle Produzenten von Romanfolgen, BewohnerInnen der Kaffeehäuser, der Passagen und, als diese verfallen, der Warenhäuser. Benjamin notiert die Begrenzungen des bohemistischen Milieus, insbesondere seine Einfühlung in die Warenwelt. Der/die Bohemien/ne ist eine Art StricherIn des Neuen, des Anorganischen, des Verdinglichten. Gleichzeitig erkennt Benjamin in der Empfindungsweise und der Lebensform der Boheme etwas Rettendes und Unerlöstes: das Tempo des Flaneurs als Protest gegen das Tempo des Passanten; Gelassenheit als Protest gegen den Produktionsprozess. Der Bohemien ist die Traumbegleitung Blanquis. Hier stoßen wir noch einmal auf eine intensive Verbindung von Ästhetik und Politik, die später auch in den minoritären Kämpfen auftauchen wird, die Gewissheit, dass den Kämpfen die Kleinigkeiten alltäglicher Dissidenzen und Gefühle, der Wahrnehmungsweisen und ästhetischen Erfahrungen unbedingt angehören. Baudelaire, so endet Benjamins erste Fassung der Boheme-Studie, ist mit Blanqui in den Affekten des Trotzes und der Ungeduld, des Hasses und der Empörung verbunden. Das Politische des Ästhetischen wäre die Verbindung dessen, was hier noch unter zwei Namen - Blanqui und Baudelaire - getrennt auftritt, aber nicht mehr als Gegenüber gedacht wird, sondern als verschwistert und aneinander verwiesen: die Tat und der Traum, die Aktivität des Aufstandes, die sich dem Passiven öffnet, und die Passivität des Sinnlichen, die aktiv wird. Das, so Benjamin, "sind die ineinander verschlungenen Hände auf einem Stein, unter dem Napoleon III. die Hoffnungen der Junikämpfer begraben hatte." Das wäre mein Ausgangspunkt für eine Politik der Ästhetik, auch wenn Benjamins Bejahung von Hass und Rache, von der Plötzlichkeit eines putschistischen Bruchs, der uns aus der Katastrophe erlösen wird, unfassbar blind für die Gefahren unmittelbarer, als Reinigung verstandener Gewalt ist.