Die digitale Bohème propagiert sich als neue Avantgarde

Die Freiheit zur Selbstausbeutung

in (10.12.2007)

Die Freiheit zur Selbstausbeutung - Die digitale Bohème propagiert sich als neue Avantgarde

Das kreative Hobby zum Beruf machen, mitten in der Woche bis früh um vier in Kneipen rumsitzen und am nächsten Tag erst gegen Mittag den Laptop hochfahren - es gibt Leute, die behaupten, sie hätten einen Weg gefunden, frei und selbstbestimmt zu arbeiten und zu leben. Die Kreativlinge Holm Friebe und Sascha Lobo verpassten der wachsenden Gruppe freiberuflicher Webdesigner, Werbetexter und Kunstprojektemacher ein cooles Label und positives Selbstwertgefühl: Als "digitale Bohème" geistern sie durch die deutschen Feuilletons, seit die beiden ihr Buch "Wir nennen es Arbeit" auf den Markt geworfen haben und mit einem Kongress die Demonstration einer Lebensweise versuchten.
Sozialisiert in der antiautoritären Linken stellen die beiden Spitzenbohemiens durchaus die richtigen Fragen: Wie wollen wir leben, wie wollen wir arbeiten? Es geht um Selbstbestimmung, Lebensqualität, Kritik an Profitmaximierung als Lebensziel. Freiheit dürfe nicht erst nach dem Job beginnen, in der Freizeit also, sondern schon in der Arbeit. So arbeiten, wie man leben will: Wer bei diesem Postulat aber an Arbeitszeitverkürzung und Mitbestimmung denkt, liegt komplett daneben. Denn, was sie propagieren, heißt Aussteigen aus dem "Rattenrennen der Angestelltenkultur", rein in die schöne Welt der Selbständigkeit. Immer mehr gut ausgebildete Leute würden den emanzipatorischen Sprung in die Freiheit wagen - Friebe und Co. stilisieren das zum gesellschaftlichen Projekt einer Avantgarde.

Die selbsternannten Avantgardisten, die nicht jammern, sondern klotzen, werden geliebt. Von taz bis FAZ, von Tagesschau bis Bundeskulturstiftung. Wenigstens das könnte sie skeptisch stimmen. Denn noch reden sie gerne von subversiver Aushöhlung des kapitalistischen Systems oder wenigstens von dessen Humanisierung. Tatsächlich passen die Netzarbeiter aber einfach gut in die Zeit. Die Kreativbranche boomt, ist längst Standortfaktor in post-industriellen Metropolen.

"In jedem Fall gilt, wir stehen dem Arbeitsmarkt so, wie er heute aussieht, nicht mehr zur Verfügung", erklärt einer der selbst ernannten Bohemiens ungemein mutig den Ausstieg aus einem System, das die meisten jungen Kreativen sowieso nicht anstellen würde. Immer mehr Tätigkeiten und die damit verbundenen Risiken werden auf Subunternehmen ausgelagert. Kunsthistoriker etwa waren bis vor einigen Jahren selbstverständlich in Museen angestellt. Heute wird ihnen gesagt, gründe dein eigenes Unternehmen und dann kannst du dich für die Ausstellung X oder die Saison Y bei uns bewerben.

Es mag einige Leute geben, die mit ungewöhnlichen Projekten auch in ökonomischer Hinsicht erfolgreich waren - so muss die MillionDollarHomepage immer wieder als leuchtendes Beispiel herhalten. Es gibt auch einige, die Durststrecken und fehlende Alterssicherung mit den Taschen der Eltern ausgleichen können. Der Rest des digitalen Freiberuflertums ackert rund um die Uhr ohne soziale Absicherung. Schön, dass einige glaubwürdige Betroffene nun den Job unternehmen, Menschen, die die Anforderungen einer liberalisierten (Arbeits-)Welt als Zumutung erfahren, mit Visionen zu versorgen. Die Ersetzung der Fremdausbeutung durch die Selbstausbeutung fühlt sich nur für die "happy few" als Selbstbestimmung an. Denn wie selbstbestimmt ist es, bis Mitternacht vor seinem Rechner sitzen zu müssen, weil der Termin für die Präsentation drückt? Wenn der Unterschied zwischen Freunden und "Kontakten" verschwindet? Wie oft machen sie eigentlich noch Sachen, die nicht zumindest indirekt der Verwertung dienen?
Im Grunde sind sie nichts anderes als Arbeitskraftunternehmer, bei denen der Betrieb in den Kopf verlagert wurde. Was wünscht sich BMW mehr, als Aufträge an Leute zu vergeben, die sich fleißig selbst ausbeuten und dabei noch die Sozialversicherung zu sparen? Kann dem Konzern doch egal sein, ob sein neuer Internetauftritt zwischen 9 und 17 Uhr oder 21 und 5 Uhr entworfen wird. Diese Art von Arbeitszeitflexibilisierung hebt den Kapitalismus sicher nicht aus den Angeln. Und taugt noch nicht einmal zur Verallgemeinerung.

Das Glücksversprechen gilt - wenn überhaupt - nur für ein bestimmtes Milieu hochqualifizierter Mittelschichtskinder. Was sollen der Call Center Agent, die Krankenpflegerin und selbst der Ich-AG-Installateur damit anfangen? Das Gerede vom guten Leben entpuppt sich bei näherer Betrachtung doch nur als die Flexibilität, die im Neoliberalismus eh von allen gefordert wird. Wie die Humanisierung von Arbeit und Leben, die Partizipation von vielen gesamtgesellschaftlich gedacht und erkämpft werden kann, darauf haben die digitalen Aussteiger keine Antwort.