Tradition und Transition

Frauen im Südkaukasus

In den sowjetischen Nachfolgestaaten im südlichen Kaukasus wurde der schwierige Transitionsprozess durch zahlreiche Konflikte weiter erschwert. Die Suche nach nationalen Identitäten, nach neuen politischen und wirtschaftlichen Perspektiven prägt auch das Leben von Frauen in Armenien, Aserbaidschan und Georgien.
Trotz einiger Diskrepanzen zwischen den drei Ländern, der etwas offeneren georgischen und der traditionelleren aserbaidschanischen Gesellschaft, zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, gibt es auch Gemeinsamkeiten. Die Sowjetzeit hatte für die traditionellen Gesellschaften des Kaukasus eine annähernde Gleichstellung von Frauen in Bildung und Berufsleben mit sich gebracht. Im privaten Bereich blieben althergebrachte Rollenbilder weit stärker verankert. Mit dem Bedürfnis nach neuer Identität und Werten angesichts eines sich rasch veränderten Umfelds kommt solchen "Traditionen" heute wieder eine verstärkte Bedeutung zu. Während politische und soziale Institutionen zerfallen und die ökonomische Situation prekär bleibt, bieten Familien den zentralen Rückhalt. Das gilt umso mehr im Falle von Kriegen, wie es sie Anfang der 1990er Jahre in Georgien um die Provinzen Abchasien und Südossetien sowie um die armenische Enklave Nagorny Karabach in Aserbaidschan gegeben hat und deren Folgen durch den "eingefrorenen" Zustand der Konflikte und eine große Zahl an (Binnen-)Flüchtlingen nach wie vor präsent sind.
Nicht nur Traditionen, sondern auch mangelnde Aussichten auf einen, möglichst auch noch den Unterhalt sichernden, Arbeitsplatz haben zur Folge, dass junge Menschen bei ihren Eltern leben. Das bedeutet gerade für Mädchen umfassende familiäre Kontrolle. Abends ausgehen zu dürfen ist keine Selbstverständlichkeit, es könnte den Ruf schnell ruinieren. Denn Jungfräulichkeit bis zur Ehe ist für Frauen ein gesellschaftliches Muss. Wer sich nicht daran hält, riskiert neben gesellschaftlicher Ächtung auch, keinen Ehemann zu finden. Für Männer gelten gänzlich andere Maßstäbe. Die Spielräume für alternative Lebensentwürfe sind aber allgemein beschränkt. Die traditionelle Rolle des Familienvaters als Brotverdiener spiegelt sich in der stärkeren männlichen Arbeitsmigration, in Einkommensunterschieden und geschlechterspezifischen Unterschieden bei der Berufswahl wider. Doch die wirtschaftlichen Realitäten stellen dieses Bild in Frage, denn oft obliegt es den Frauen, für das Familieneinkommen zu sorgen.

"Was Geschlechtergleichheit bedeutet"
Die aserbaidschanische Journalistin Arzu Soltan über den schwierigen Kampf gegen Genderstereotype in ihrem Land.

an.schläge:Du beschäftigst dich als Journalistin mit Genderfragen. Ist es für dich schwer, Raum und Publikum für diese Thematik zu finden?
Arzu Soltan: Ja, manchmal sogar sehr schwer. Denn gewisse Genderstereotype, die im Mittelalter entstanden sind, haben bis heute ihren Einfluss nicht verloren. Diese Stereotype verhindern, dass unsere LeserInnen das Vorhandensein von Problemen in diesem Bereich eingestehen. In der Mehrzahl der Fälle sehen Männer diejenigen als FeindInnen an, die über Geschlechtergleichheit, Frauenrechte, usw. sprechen. Unzureichende Informiertheit dient als Vorwand dafür, dass sich die LeserInnen oft aufregen, wenn sie in den Medien Artikel zu Gender-Themen lesen. Auch Frauen verstehen nur unzureichend, was Geschlechtergleichheit bedeutet. Sie verbinden sie oft mit Fragen der Lebensführung, mit der Aufteilung der Hausarbeit.
Auch von offizieller Seite wird nicht gern auf Fragen geantwortet, die sich auf die Gender-Thematik beziehen - mit der Begründung, dass z.B. über das junge Alter aserbaidschanischer Bräute oder über Menschenhandel nicht gesprochen werden darf, denn das schade dem Image Aserbaidschans!
Aber es muss angemerkt werden, dass in den letzten Jahren verschiedene NGOs in diesem Bereich aktiv sind und Projekte durchführen, die auf die Aufklärung der Bevölkerung über Geschlechtergleichheit abzielen. Besonders effektiv sind JournalistInnenwettbewerbe zu diesem Thema.

Nach Jahren des Zerfalls, des Kriegs und der politischen Krisen wächst die aserbaidschanische Wirtschaft dank Öl und Pipelines heute sehr schnell, Aserbaidschan verzeichnet derzeit mit rund dreißig Prozent das weltweit höchste Wirtschaftswachstum. Eröffnet diese Entwicklung neue Möglichkeiten für die Gesellschaft, insbesondere für Frauen?
Leider hören auch wir nur aus den Nachrichten vom Wirtschaftswachstum. Ich finde nicht, dass über neue Möglichkeiten für die Gesellschaft gesprochen werden kann, solange JournalistInnen für ihre Artikel ins Gefängnis kommen. Es ist die gleiche korrumpierte Gesellschaft, in der Arbeitslosigkeit und Inflation nach wie vor hoch sind.
In Aserbaidschan übersteigen die Arbeitsressourcen der Frauen jene der Männer, sie stellen mehr als fünfzig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Aber auch in den letzten Jahren sind die Fälle von Arbeitsmigration von Frauen nicht zurückgegangen. Unter diesen Voraussetzungen erstarkt die Frauenbewegung, verschiedene Frauenorganisationen und -gruppen erarbeiten gemeinsam Lobbyingpositionen und -taktiken zur Stärkung der Rolle von Frauen auf verschiedensten Ebenen des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Allerdings ist die Frauenbewegung in Aserbaidschan hauptsächlich im Zentrum, d.h. in der Hauptstadt Baku, vertreten. Für die Frauenbewegung ist die Entwicklung an den Peripherien aber sehr wichtig. Umso mehr, als in den Regionen wegen der streng traditionellen Lebensweise die Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen noch stärker eingeschränkt und die Lage der Frauen noch schwieriger ist als in der Hauptstadt.

Die Suche nach nationaler Identität des unabhängigen Aserbaidschan ist mit einer Betonung von Tradition verbunden. Wie beeinflusst dieser Prozess der "Traditionalisierung" das Alltagsleben von Frauen und ihre gesellschaftliche Position?
Hier muss man auch differenzieren. Denn in der Hauptstadt sind die Frauen moderner und stärker in die moderne Welt integriert. Nichtsdestotrotz lassen bis heute die von den Massenmedien verbreiteten Frauenbilder zu wünschen übrig, nach wie vor bringen sie patriarchalische Frauenbilder hervor. Zuallererst gilt die Familie als zentraler Wert für Frauen und wird ausschließlich aus dem Blickwinkel der Mutterschaft betrachtet. Die Frau soll sich nur auf den privaten Bereich beschränken (dafür gilt das Stereotyp "Privatbereich ist gleich Mutter, Ehefrau, Hausfrau") und ihr Leben der Familie widmen. Weiters wirkt das Stereotyp der Zweitrangigkeit, aufgrund dessen eine von einer Frau geäußerte Meinung nicht ernst genommen wird. Und in den ländlichen Regionen ist, wie schon gesagt, die weibliche Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen wegen der streng traditionellen Lebensweise noch stärker eingeschränkt.

Gibt es Deiner Meinung nach Unterschiede zwischen der Situation von Frauen in Aserbaidschan im Vergleich zu den anderen postsowjetischen Ländern?
Der Südkaukasus ist ein Umfeld, in dem verschiedenste ethnische, soziale, politische und kulturelle Verhältnisse koexistieren. Die postsowjetische Periode mit ihren zahlreichen Krisen und Konflikten hat die Frauen in der gesamten Region vor eine Vielzahl an Problemen und Aufgaben gestellt. Die Frauen in den Ländern des Südkaukasus haben ähnliche, beinahe die gleichen Probleme. Was die anderen postsowjetischen Länder betrifft, so denke ich, dass wir im Vergleich zu den zentralasiatischen Ländern weiter sind, aber hinter den baltischen Staaten, Russland, der Ukraine, usw. zurückliegen.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at