Der Planungswille zum Kind

Die bioethisch angeleitete feministische Kritik der Reproduktionstechnologien verkennt den Grad der kreativen Selbstaneignung

Ein am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität angesiedeltes Forschungsprojekt untersucht in Berlin und im Großraum Istanbul-Izmir, wie sich die Möglichkeiten der ...

GID 186, Februar 2008, S. 5 Ein am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität angesiedeltes Forschungsprojekt untersucht in Berlin und im Großraum Istanbul-Izmir, wie sich die Möglichkeiten der Reproduktionstechnologie auf das Denken über "Verwandtschaft" sowie auf die Herstellung verwandtschaftlicher Beziehungen auswirken.(1) Der folgende Beitrag untersucht die Bedeutung der De-Naturalisierung von Fortpflanzung aus der Perspektive von Berliner IVF-Nutzerinnen und vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Transformationen. Frau Schuler hatte ihr Leben zunächst rund um ihre Arbeit als Lehrerin, die ihr Spaß mache, gestaltet. Relativ spät, wie sie meint, habe sie dann ihren jetzigen Mann kennen gelernt. Angesichts der vorgerückten Lebenszeit hätten sie dann auch bald beschlossen zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ihr Mann hatte aus erster Ehe bereits einen Sohn, doch sie wollten zusammen auch eigene Kinder haben. Sie versuchten es ein halbes Jahr bis Frau Schuler anfing, sich zu wundern und beschloss zu ihrer Frauenärztin zu gehen. Denn sie fühlte sich unter einem lebenszeitlichen Druck, jetzt oder nie. Die Frauenärztin riet ihr alsbald, Experten der Reproduktionsmedizin um Rat zu fragen. Dies taten Frau Schuler und ihr Mann unverzüglich und ohne große moralische Bedenken, auch wenn sie immer wieder erleben mussten, dass ihr Umfeld "komisch" darauf reagierte. Mittlerweile haben sie nach einer sehr beschwerlichen Schwangerschaft und einer komplizierten Frühgeburt süße Zwillinge. Dennoch ging Frau Schuler nach einem halben Jahr Erziehungsurlaub wieder arbeiten und dies Vollzeit, da sie die Ernährerin der Familie war. Ähnlich wie andere Interviewpartnerinnen schilderte sie die Behandlungsprozedur zwar als körperlich durchaus beschwerlich, doch ziemlich unemotional als sinnige und "notwendige" Maßnahme. Der Einsatz biomedizinischen Expertenwissens, von High-Tech-Geräten, die klinische Atmosphäre, das ganze biomedizinische Ambiente und Prozedere der Zeugung ihrer Kinder in der Petrischale waren ihr keine drei Worte wert. Sie stand dazu und will es auch ihren Kindern erzählen.

Techno-Talk und die neuen Grenzen des "Natürlichen"

In einer Diskussion in unserer Projektgruppe nannten wir diese rationale und direkte Narrativierung des Akts der medizinisch assistierten Zeugung "Techno-Talk", eine Art des Erzählens und Sprechens über technologisch unterstützte Zeugungsmethoden, die zur "Künstlichkeit" steht - wenn man weiterhin das Dispositiv der "natürlichen Geburt" als normative Messlatte anlegen will. Die unser Projekt lange Zeit bewegende Frage nach den Diskursen und Praktiken der Re-Naturalisierung und Normalisierung dieses medizinisch-technischen Akts durch die betroffenen Frauen würde ich mittlerweile als nicht so bedeutsam einschätzen, da sie von der Annahme ausgeht, dass die Akteure selbst Probleme mit der "Künstlichkeit" der biomedizinischen Prozedur und Technologie hätten. Vielmehr zeugen die Praktiken und Narrativierungen der Akteure, die die technogenen Anteile an der Zeugung ihren gewöhnlichen Narrationen und Bebilderungen "einfach" hinzufügen - wie beispielsweise das Bild des Moments der Befruchtung auf dem Gynäkologen-Stuhl im Fotoalbum des werdenden Kindes nicht fehlen darf - von einer Entdramatisierung, Vergewöhnlichung und Aneignung dieser biomedizinischen Angebote für die eigenen Fortpflanzungsrationalitäten. Die Praktiken der von uns interviewten Frauen, ihre reproduktiven Biografien nicht gemäß dem "Diktat" der "natürlichen Zeugung" auszurichten und mit 25 ein Kind in einer heterosexuellen, verehelichten Paarbeziehung zu bekommen, zeugen von einem breiten Wissen um Mittel und Wege (vor allem auch weiteres Wissen sich anzueignen) und einer Akzeptanz biomedizinischer Verfahren als Hilfen. In diesem Sinne bezeichne ich die Nachfrage nach reproduktionsmedizinischen Verfahren dieser sozialen Gruppe als "reflexive Medikalisierung" des sozialen Problemkomplexes von veränderten geschlechtlichen, flexibilisierten Arbeits- und Lebenspraxen bei gleichbleibend - wenn nicht gar sich verschlechternder - hierarchischer, struktureller Genderordnung. Dabei handelt es sich bei der Nachfrage und Anwendung reproduktionsmedizinischer Angebote keineswegs um eine außergewöhnliche Technisierung der sozial-biologischen Bereiche des Lebens, vielmehr wurde die Zuhilfenahme medizinischer Expertensysteme und die Anwendung von Planungsrationalität im Bereich der Fortpflanzung und Sexualität schon weit früher eingeübt, beispielsweise bei der Frage der Verhütung. Mit der Nutzung und dem gezielten Einsatz von Verhütungsmitteln wurde das Paradigma der Planbarkeit und Gestaltbarkeit auch in den "natürlichsten" Bereich menschlicher Generativität implementiert. In diesem Sinne findet die Technisierung, Rationalisierung, Entnaturalisierung von Familie-Machen und Fortpflanzung lebenszeitlich schon weit früher statt. Ganz niedrig-schwellig wird so eingeübt - übrigens gesellschaftlich als flexible reproduktive Biografisierung positiv konnotiert und von der Frauenbewegung in ihren großen Kampagnen in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gefordert -, Fragen von Sexualität und Fortpflanzung zu trennen und rationell unter Zuhilfenahme diverser Techniken und ebenfalls den Körper beeinflussender chemischer Substanzen zu steuern. Der Einsatz biomedizinischer Verfahren zur Zeugung und die damit verbundenen Möglichkeiten der Selektion einerseits wie andererseits der kommerziellen Zulieferung und Züchtung von Zeugungssubstanzen scheinen in dieser Hinsicht "nur" eine Radikalisierung dieses technologisch-biologischen Praxiszusammenhangs darzustellen.

Die Sorge um den "gesunden Körper"

Die Interviews zeigen aber auch, dass auf der Ebene der Akteure, ihrer generativen Praktiken und Wertehorizonte allerdings kein Automatismus festzustellen ist, sondern dass sie durchaus immer wieder von Neuem die technologischen Optionen mit ihren multiplen Moralvorstellungen konfrontieren und situativ Grenzen des Gewollten - nicht des Möglichen - für sich formulieren. So argumentieren einige Nutzerinnen auch mit dem Topos der "Natur"/des "Natürlichen" gegen die Anwendung weitreichenderer, invasiverer Verfahren, wenn die angewandten Methoden nicht zum Ziel führten. Dabei muss es sich jedoch nicht um einen Widerspruch zu meiner bisherigen Argumentation handeln, vielmehr verweist das Argument der "Natur" und die Einforderung natürlicher Methoden im medizinischen Bereich auf eine gesteigerte und differenzierte, wissende Selbstsorge und ein hohes kulturelles (wie auch ökonomisches) Kapital, welches auf das effiziente Funktionieren des "gesunden" Körpers ausgerichtet ist. Der medizinische Markt wie auch die Reproduktionsmedizin hat diese Nachfrage längst entdeckt und hat sie in Form kommodifizierter Spezialprogramme von Tai Chi bis hin zur chinesischen Medizin im Begleitangebot. Dabei scheint sich ein klassischer gouvernementaler Bumerang-Effekt zu ergeben, dass nämlich nun dieses Spezialwissen und die Sensibilität für den gesunden Körper von den Nutzerinnen der reproduktionsmedizinischen Verfahren abverlangt wird.(2) Während die Akteure sich vom Gang zur Kinderwunschpraxis eine schnelle, kompetente, zielgerichtete Hilfe für ihren Kinderwunsch erhoffen, kommen sie heim mit einer Aufforderung, erst einmal ihr gesamtes Alltagsleben umzustellen. In diese Richtung weist auch die neue Aufmerksamkeit für psychosomatische Faktoren wie beispielsweise den Einfluss von Stress auf die Zeugungs- und Gebärfähigkeit in reproduktionsmedizinischen Praxen und die daraus abgeleitete Aufforderung, ihn erst einmal zu reduzieren, bevor die Medizin helfen könne. Auf derartige Radikalisierungen im bio-sozialen Bereich des Lebens weist die Beschreibungsformel der "Biomacht" für die gegenwärtigen weltweiten Entwicklungen hin. Michel Foucault hat mit den Begrifflichkeiten der Biomacht und Biopolitik, die er selbst nicht immer sauber von einander unterschied, den neuen Machttypus der Moderne beschrieben. Im Unterschied zur älteren Souveränitätsmacht, die die Macht "hatte", den Tod zu machen, gehe es der neuen Macht primär um die "Erhaltung des Lebens". Petra Gehring beschreibt in ihrem neuen Buch "Was ist Biomacht?"(3) in Kürze Foucaults historischen, doch losen Biomacht-Begriff folgend: Im Unterschied zum "verbrauchenden alten Machttypus" sei die neue Macht auf die "sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens"(4) aus, als eine Macht, "die das Leben vereinnahmt oder die das Leben im allgemeinen (...) mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite in Beschlag genommen hat."(5) Ins Zentrum dieser neuen Machtrationalität rückte also die "Sorge" um die "Bevölkerung" einerseits sowie andererseits um die einzelnen Körper, ihre Verteilung und ihr Wohlergehen. Auch wenn neuere Auseinandersetzungen um Foucaults Biomacht-Konzept deutlich machen,(6) dass heute beide Machttypen zusammengehören, weisen gerade Studien zum Bereich der Gentechnologie auf das Zu-Sich-Kommen der Biomacht hin, was Foucault zu seinen Lebzeiten so gar nicht absehen konnte.(7) Dabei demonstrieren Forschungen wie diese, dass das Paradigma der Biomacht mit seinen Imperativen und Werten der "Förderung, Mehrung und Gestaltung des Lebens" längst subjektiviert ist und von den Individuen selbst in Stellung gebracht und eingesetzt wird. Die zahlreichen Praktiken und Wissensbestände der Selbstsorge zum einen wie andererseits der Subjektivierung von Lebens-Wert-Vorstellungen im Kontext frühgeburtlicher Diagnostik zeugen hiervon.(8)

Enteignung und Wieder-Aneignung von Wissen

Die neuen, das Leben an sich betreffenden Praxisoptionen - darauf weisen zahlreiche Studien insbesondere zur Technisierung und Optionalisierung der Schwangerschaft durch den Einsatz vorgeburtlicher diagnostischer Verfahren hin - bedeuten auch neue Entscheidungszwänge und Abhängigkeit von neuen Expertensystemen.(9) Darauf deuten auch die Aussagen unserer Interviewpartnerinnen hin, wenn sie beispielsweise zum Ausdruck bringen, nicht mehr Herr beziehungsweise Dame des Behandlungsprozesses oder ihrer exkorporalen Körpersubstanzen wie eingefrorenen Ei- oder Samenzellen zu sein. Dabei ist auf dem Gebiet der Reproduktion und Generativität historisch die zwangvolle Enteignung von Wissensbeständen aus der Hand der Nutzerinnen und ihre spätere patriarchale Institutionalisierung besonders auffällig. Die Nutzungspraktiken der interviewten Frauen weisen allerdings im Sinne der "reflexiven Medikalisierung" auch eine andere Komponente auf, die man als Wieder-Aneignung eines Expertensystems für die eignen Zwecke interpretieren könnte, was allerdings scheinbar nur praxisorientierte ethnographische Forschungen zu sehen im Stande sind. Denn während manche selbstreflexiven Mediziner mittlerweile davon abraten, zu schnell und zu einseitig auf die reproduktionsmedizinischen Verfahren zu bauen, scheint dieses gerade - wie ausgeführt - ein zunehmender Trend spätmoderner reproduktiver Biografisierungspraktiken zu sein, bei dem Kinder-Bekommen wie ein Projekt angegangen wird. Unter dem Imperativ der zeitrationalen Gestaltung von Arbeit und Leben sowie fortschreitender flexibler Beziehungsarrangements muss der späte Kinderwunsch dann auch planmäßig funktionieren. Dabei wird dann auch schon mal im Wissen um die bioethischen Standesregeln der reproduktionsmedizinischen Zunft "geschwindelt" und das halbe Jahr von ergebnislosen Zeugungsversuchen zu einem ganzen Jahr erklärt, um sofort die medizinische Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Oder die Frage nach dem Partner in Bezug auf den mitgehenden männlichen Begleiter wird einfach mit Kopfnicken quittiert. Manch andere Nutzerinnen, die ich während meiner Praxisbeobachtungen in zwei Kinderwunschkliniken mitbekommen habe, reklamieren mittlerweile lautstark für sich das Recht auf ein Kind und wenn es eben nicht natürlich gehe, dann solle sich die Medizin in ihren Dienst stellen.

Kritik an der Kritik

Die spätmoderne Technisierung und Entnaturalisierung der Fortpflanzung steht dabei, wie ich es zu zeigen versuchte, in einem weiteren, größeren gesellschaftlichen Begründungszusammenhang. So wurden Planungs-Rationalität und Gestaltungs-Wille zu den zentralen Leitbegriffen der spätmodernen Arbeits- und Lebenswelt. Ganze Heerscharen von psychotherapeutischen Experten sind dazu da, diese Kompetenzen bei Akteuren zu reparieren, zu stärken beziehungsweise einzuüben. Unsere Interview-partnerinnen, die meist in akademischen, anspruchsvollen Berufen tätig sind, haben diese neoliberalen Paradigmen auf ihre gesamte eigene Lebenspraxis übertragen. Zunächst gilt der Spruch, dass keine Lebensphase wirklich praktisch ist, um ein Kind zu bekommen. Dann jedoch, kurz vor knapp, ist der Versuch, ein Kind zwischen zwei Projekten sozusagen als drittes Projekt zu planen, keine Seltenheit. So versuchen einige, das Projekt "Kind" gemäß den selben Rationalitäten anzugehen wie ihr sonstiges Leben. Und wenn es in dem dafür vorgesehenen Zeitfenster nicht klappt, der eigene Körper nicht funktioniert, ein richtiger Partner nicht in Aussicht ist, dann liegt der Schritt zum Experten und auf den Dienstleistungsmarkt nahe. Nicht selten kommt es dann auch vor, dass Reproduktionsmediziner den Frauen raten, erst mal ihren Arbeitsstress in den Griff zu bekommen und ihnen zureden, ihren Kinderwunsch unter einer anderen Rationalität anzugehen: Zeugung sei so nicht planbar. Und doch, die Frauen versuchen gerade mit dem Schritt zur Reproduktionsmedizin ihre Fortpflanzungs-Probleme rationalisiert anzugehen und nicht auf den Zufall "irgendwann" zu setzen. Dabei gehen sie sozial durchaus erfinderisch vor, wie das Beispiel von Frau Lieb und Frau Ehrlich (siehe Kasten) zeigt. In diesem Sinne scheinen zunehmende Zweckrationalisierung des Zeugungsvorgangs und sozial kreative, unkonventionelle Beziehungs- und Elternkonstellationen sich nicht auszuschließen. In dem Sinn verkennt eine feministische, bioethisch angeleitete Kritik an den Reproduktionstechnologien nicht nur den vor allem über gesteigertes Wissen erreichten Aneignungsgrad dieser Technologien durch die weiblichen Akteure. Auch reproduziert sie sozusagen hinter dem Rücken der Autorinnen, denen sicherlich nicht so eine Haltung zu unterstellen ist, eine konventionelle heterosexuelle Matrix, die Fortpflanzung, Sexualität und Sozialität als untrennbar mythologisiert. Die Alltagspraktiken vieler der von uns interviewten Akteure reichen längst erfindungsreich darüber hinaus. Eine Kritik an dem möglichen vernichtenden, selektivierenden Einsatz der Reproduktionstechnologien, welcher nicht wegretuschiert werden soll, müsste von diesen spätmodernen Nutzungsweisen und alltagsrelevanten Zusammenhängen ausgehen, will sie wieder mehr Gehör bekommen. Bei dem Beitrag handelt es sich um die stark gekürzte und leicht veränderte Fassung des Artikels "Flexible reproduktive Biografisierung: Zum Kinder-Machen im Zeitalter biopolitischer Möglichkeiten - von Zeugungsstreiks und Spielermentalitäten", in Stefan Beck, Nevim Çil, Sabine Hess, Maren Klotz, Michi Knecht: Verwandtschaft machen Reproduktionsmedizin und Adoption in Deutschland und der Türkei, Berliner Blätter, Ethnographische und ethnologische Beiträge, Heft 42/2007. Fußnoten:
  1. Forschungsprojekt "Verwandtschaft als Repräsentation und soziale Praxis im Kontext neuer Reproduktionstechnologien", im Sonderforschungsbereich 640 "Changing Representations of Social Order". Humboldt-Universität zu Berlin. Team: Stefan Beck, Nevim Cil, Maren Klotz, Michi Knecht, Sabine Hess (ehem.). Weiterführende Informationen unter www.repraesentationen.de/site/lang__de/3868/teilprojekt_c4.aspx,
  2. Vgl. Monica Greco: Psychosomatic subjects and the duty to be well, in: Economy and Society. 22. Jg., Nr. 3, 1993, S. 357-372.
  3. Petra Gehring: Was ist Biomacht. Frankfurt/ M.: Campus-Verlag, 2006, S. 10.
  4. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976, 166f.
  5. Ebd., zitiert nach Gehring 2006.
  6. Vgl. Stefanie Graefe: Way of life, way of death. Zur Normalisierung des "Lebenswertes", in: Fantomas: Biopolitik. Macht, Leben, Widerstand. Bd. 2, 2002, S.30-33.
  7. Vgl. Paul Rabinow, Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 2004, S.129ff.
  8. Vgl. Stefanie Gräfe 2002; Monica Greco 1993.
  9. Anne Waldschmidt: Individuelle Selbstbestimmung und vorgeburtliche Diagnostik, in: Sigrid Graumann (Hg.): Ethik und Behinderung. Frankfurt/M., 2004, S. 163-167; Silja Samerski: Entmündigende Selbstbestimmung, in: Sigrid Graumann (Hg.): Verkörperte Technik - Entkörperte Frau. Frankfurt/ M.: Campus-Verlag, 2003. S. 213-232.

Zwischen kreativer Familienplanung und Kommodifizierung

Frau Lieb und Frau Ehrlich, die ich im Rahmen unseres Forschungsprojekts "Verwandtschaftsverhältnisse in der Transformation" interviewen konnte, hatten eine ähnlich unkonventionelle Arbeits-, Liebesbeziehungs- und Reproduktions- Biografie vorzuweisen und ähnliche Erfahrungen mit Männern gemacht. Auch für sie hatte die heterosexuelle Kleinfamilie längst ihre normative Macht und Anziehungskraft verloren. Beide pendelten flexibel zwischen hetero- und homosexuellen und -erotischen Beziehungen. Und beide versuchten "kurz vor knapp", im Alter von 37 Jahren, trotz eines anstrengenden Berufslebens und Partnerlosigkeit ihren Kinderwunsch zu realisieren. Während Frau Lieb sich jedoch für den Weg einer "single mother by choice", so die identitätspolitische Selbstbezeichnung jener Bewegung von Alleinerziehenden in den USA, entschieden hatte, versuchte Frau Ehrlich noch auf beiden Hochzeiten zu tanzen. Parallel zu ihrem Ausschauhalten nach einem passenden Partner, der selbst auch Kindsvater werden will, erkundigte sie sich sowohl nach Samenbanken als auch nach Samenspendern. Frau Lieb ist mittlerweile stolze Mutter eines siebenjährigen Mädchens, deren väterliche Anteile sie über eine US-amerikanische kommerzielle Samenbank bezog. Frau Ehrlich dagegen müht sich weiter ab, in dem verwirrenden Dickicht verschiedenster moralischer Vorstellungen, Tabuisierungen und Normativitäten - wie beispielsweise dem Paradigma der doppelten und bekannten Elternschaft - ihre eigenen Wünsche nicht aus dem Auge zu verlieren und praktikable Mittel und Wege hierfür zu finden. Auch wenn diese knappen Fallgeschichten in Bezug auf Praktiken der Gestaltbarkeit und auf die Optionalität reproduktiver Biografien sicherlich avantgardistisch klingen, zeugen sie von tiefgehenden kulturellen und sozio-technischen Transformationen von Zeugung, Elternschaft und Familienpraktiken, die wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts in weit weniger spektakulärer Form sowohl bei homosexuellen Paaren auf der einen Seite des Kontinuums als auch bei heterosexuellen Paaren am anderen Ende des Kontinuums beobachten konnten. Ich spreche hier von einem "Kontinuum", um zum Ausdruck zu bringen, dass nicht nur Beziehungs-, Familien- und Sexualitätspraktiken auseinanderfallen, sondern diese Praktiken auch in "unreinen Identitätspositionen" und unterschiedlichen Mischungsverhältnissen je lebensbiografischer Phase zu finden sind. Ob allein, zu zweit, dritt oder viert - wie im Falle queerer Familienbildungen zwischen einem schwulen und einem lesbischen Paar -, sie teilen alle den folgenden Punkt: beruflich ziemlich weit gekommen zu sein und (plötzlich) ab 35 doch noch das Projekt "Kind" realisieren zu wollen. Dabei griffen die Interview-partnerInnen, die sich bei uns auf einen Aushang in Kinderarztpraxen hin für ein offenes Interview meldeten(1), auf unterschiedlich medizinisch-technisch versierte Methoden zurück, vom Do-It-Yourself-Verfahren bis hin zu invasiven Angeboten der institutionalisierten Reproduktionsmedizin. Die ein oder andere hatte auch den Weg der Adoption für sich überlegt beziehungsweise parallel zu dem medizinischen Vorgehen eingeschlagen, nur scheiterten alle InterviewpartnerInnen dieser Gruppe oder verwarfen von selbst diese sozialtechnologische Variante, zu einem Kind zu kommen. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Frauen und Paare dabei an den starren normativen, heterosexuellen Familienvorstellungen des Adoptionswesens scheiterten, welches diese im Sinne des zunehmend artikulierten Leitmotivs des "Kindeswohls" als das Beste für das Heranwachsen eines Kindes refixierten. Dagegen lässt sich im reproduktionsmedizinischen Feld gerade eine entgegengesetzte Entwicklung der Lockerung und Liberalisierung im Sinne des Leitmotivs des "Frauenwohls" ausmachen, worauf auch die diskursanalytische Studie von Bettina Bock von Wülfingen zum "Paradigmenwechsel in der Reproduktionsmedizin" hinweist.(2) Während Bock von Wülfingen jedoch die Liberalisierung des bislang geltenden heteronormativen Postulats für eine Behandlung und die Inklusion homosexueller Kinderwünsche als geschickten Werbefeldzug zur Durchsetzung "der Definition von Reproduktion als labortechnische(m) Produktionsakt" analysiert, gehe ich hier von den Begehren der Akteure und ihren gesellschaftspolitischen Einschreibungspraktiken und -erfolgen aus. Unter dieser Perspektive lässt sich konstatieren, dass der kommodifizierte Bereich der Reproduktionsmedizin homosexuelle Akteure als Kunden entdeckt hat. (Sabine Hess) Fußnoten:
  1. Es war für uns erstaunlich schwierig, einen Zugang zu "Betroffenen", Kinderwunschpraxis-Nutzerinnen zu bekommen. Unsere erste Idee, über Aushänge und persönliche Ansprachen direkt in Kinderwunschpraxen InterviewpartnerInnen zu akquirieren, schlug ziemlich fehl. Die meisten Interviewpartnerinnen meldeten sich bei uns auf unsere Aushänge in Kinderarztpraxen hin. Dabei produzierte dieses Vorgehen seine eigenen blinden Flecken, insofern sich hier nur "erfolgreiche" Fälle mit Kind bei uns meldeten und dann auch nur diejenigen, die Interesse an einer halb-öffentlichen Auseinandersetzung hatten. So nannten die meisten Interviewten als Motivation dann auch, mithelfen zu wollen, das Thema zu enttabuisieren.
  2. Bettina Bock von Wülfingen: Homogene Zeugung. Beschreibung eines Paradigmenwechsels in der Reproduktionsmedizin, in: Ulf Heidel / Stefan Micheler / Elisabeth Tuider (Hg.): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualität, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies. Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag, 2001, S. 253-274, S.253. 1998, S. 175-198.
Dr. Sabine Hess ist Hochschulassistentin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und ehemalige Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsprojekt "Verwandtschaft als Repräsentation und soziale Praxis im Kontext neuer Reproduktionstechnologien " des SFBs "Changing Representations of Social Order" der HU Berlin.