Liebe im Land von Kama und Kaste

Im Folgenden stelle ich anhand einiger der bedeutenderen Texte den vielschichtigen indischen Diskurs über die Liebe vor. Ich beziehe mich auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau, wie sie in den Veden und den Upanishaden beschrieben werden, auf die Liebesbeschwörungen im großen Mahabharata-Epos sowie auf die Sprache von Liebe und Eros in der sanskritischen und der Vishnu-Dichtung. Dabei berücksichtige ich die chronologische Abfolge und stelle das viel erwähnte KāmasÅ«tra in seinen soziokulturellen Kontext - in der Hoffnung, damit auch die erotisch aufgeladenen Erwartungen, die sich mit ihm verbinden, ins rechte Licht zu rücken.
Man kann den indischen Liebesdiskurs nicht getrennt von der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Landes betrachten, die bis heute durch ein unterdrückerisches Kastensystem sowie extreme Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gekennzeichnet ist. Soziale Segregation und Patriarchalismus sind auch den schönsten und "zeitlosesten" Texten eingeschrieben, die den Diskurs der Liebe konstituieren. So koexistiert etwa die größte der Upanishaden, die Brihadaranyaka-Upanishad, in der viel zur kosmischen Dimension der Beziehung zwischen Mann und Frau gesagt wird, mit der stets zunehmenden Zahl von Tötungen weiblicher Föten. In der Wirklichkeit des sozialen Lebens wird "die Frau" negiert, noch bevor sie geboren ist.

Die Veden und die Upanishaden

Die ältesten heiligen Texte des Hinduismus - die zwischen 1500 und 500 v.u.Z. verfassten vier Veden: Rigveda, Samaveda, Yajurveda und Atharvaveda - gelten als göttliche Offenbarungen, die von weisen Lehrern an ihre Schüler weitergegeben wurden. Im Atharvaveda wird Geschlechtsverkehr analog zur Erzeugung von Feuer durch das Aneinanderreiben zweier Holzstücke, Asvattha und Sami, vorgestellt, nicht ohne ausdrücklich auf die offenbar interessierende Frage der Produktion männlicher Nachkommenschaft einzugehen. Die Fortpflanzung wird auch in den Upanishaden, die das Wesentliche aus den Veden in poetischer Form wiedergeben, mit großer Offenheit behandelt. In der Chandogya-Upanishad wird die Frau als "Opferfeuer" beschrieben, die Sexualakt in der Metaphorik von Flamme, Funken und Rauch. Sowohl in den Veden als auch in den Upanishaden geht es um eine weiter reichende Vereinigung, der nicht nur ein Neugeborenes entspringt, sondern die auch die Generationenfolge und den Erwerb des für die menschliche Existenz Wesentlichen sichert.
Der von Kama oder der ›Leidenschaft der Liebe‹ inspirierte Geschlechtsakt erreicht eine höhere Würdigung in der Samkhya-Karika, einem philosophischen Kommentar zur Samkhya-Lehre, einem der grundlegenden Systeme der indischen Philosophie, das Spuren in den Upanishaden und in der Bhagavad Gita hinterlassen hat. Es basiert auf der Dualität von Materie und Geist, Purusha und Prakriti, wobei letzteres das weibliche, ersteres das männliche Prinzip repräsentiert. Die Liebe wird zur ›Produktion‹, welche die gesamte Schöpfung betrifft, nicht mehr nur den Vorgang der körperlichen Vereinigung. Die Geburt eines Kindes entspringt einer sinnlichen und spirituellen Totalität. Prakriti ist hier nicht "Opferfeuer" oder irgendein glühendes Gefäß, sondern die den Purusha bestimmende und kontrollierende Kraft. Diese Verschiebung im Verhältnis der Geschlechter verdient besondere Beachtung. Dass "die Frau" ein "Opferfeuer" sei, wirft dennoch kritische Fragen auf. Ist gemeint, dass ihre einzige Aufgabe darin besteht, das "Geschlechtsorgan, welches das Brennholz ist", zu empfangen und ihre Pflicht als Gebärerin zu erfüllen? Die korrekte Antwort findet sich in der Brihadaranyaka-Upanishad selbst, in der Lehre der fünf Feuer, die in der Tat alles Lebendige zu umfassen scheint. Das "Opferfeuer" repräsentiert den gesamten Kosmos, dessen integraler Bestandteil und Gipfelpunkt ›die Frau‹ ist.

Greifbare Liebe im Mahabharata

In den philosophischen Texten der Upanishaden war für ausschweifende Beschreibungen von Liebe und Romantik kaum Raum. Anders in dem großen Mahabharata-Epos, das der Liebe und dem Eros ohne Hemmungen Tribut zollt. Polygamie ist hier kein Hindernis für das Aufblühen von Hingabe und Leidenschaft. So war etwa der große Krieger und Liebhaber Arjuna in der Lage, nicht nur Draupadi, seine erste Frau, zu lieben, sondern auch andere Frauen wie Subhadra, Ulupi und Chitrangada, die ihn später zum Mann nahmen. Leidenschaftliche Annäherungsversuche wurden jedoch auch zurückgewiesen, beispielsweise als Arjuna die Avancen der Nymphe Urvashi abwies.
Trotz des Patriarchalismus genossen die Frauen im Mahabharata besonderes Ansehen, und ihre Krieger-Ehemänner ließen nichts unversucht, um ihnen angetanes Unrecht zu sühnen. So fand die legendäre Schlacht von Kurukshetra nicht nur statt, um die Kauravas dafür zu bestrafen, dass sie die Pandavas um ihr legitimes Recht auf den Königsthron gebracht hatten, sondern auch für die Demütigung, die sie Draupadi angetan hatten. Zwar wurde Draupadi in ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Arjuna verletzt, als dieser Subhadra zur Frau nahm. Doch lassen sie die flehenden Worte des Krieger-Patriarchen Arjuna im Nu dahinschmelzen. Irawati Karve, eine scharfsinnige Kommentatorin und Fürsprecherin der Liebe Draupadis zu Arjuna, hat einen Monolog verfasst, der in einem Mosaik eingehender Selbstbeobachtung all die miteinander zusammenhängenden Gefühle vereint: Begehren, Gram und Trauer, Neid und Unerfülltheit. In Bezug auf Draupadi heißt es:
Ihr Geist hielt einen Moment inne. Was bedeutet es, geliebt zu haben? Ulupi, Chitrangada, Subhadra - Arjuna hatte so viele Frauen geliebt. Aber hatte er wirklich? Hat Arjuna je sein Herz einer Frau geschenkt? Frauen haben ihn geliebt, doch er hatte sein Herz Krishna gegeben. Sie wusste, dass Arjuna und Krishna seit Beginn, seit der Besiedlung Indraprasthas des öfteren beisammen saßen und stundenlang redeten. [...] Aber sie sprachen miteinander als Freunde, jeder aus seinem Herzen sprechend und dem anderen zuhörend. Keine Frau konnte Arjunas Herz für sich gewinnen. Ist Liebe immer so? Ist sie stets nur einseitig? Ich sehne mich nach jemandem, der meine Liebe nicht erwidert, und jemand anderes verzehrt sich nach mir. (Karve 1991, 103f)
Im Mahabharata-Epos hat sich eine Hinwendung zur wirklichen und greifbaren Welt der Liebesbeziehungen ereignet, in der Götter, Weise und Menschen sich unablässig erlaubten und unerlaubten Liebschaften genussvoll hingeben. Dies bereitet den Weg für Vātsyāyanas KāmasÅ«tra, in dem die leib-seelische Einheit der Liebe präzise kodifiziert wird. Bevor wir uns aber dem KāmasÅ«tra zuwenden, müssen wir die Rolle und Bedeutung des Liebhaber-Gottes Krishna untersuchen.

Krishna - der göttliche Liebhaber

Krishna ist die Hauptperson im Mahabharata; er steuert den Gang der Ereignisse und tritt als politischer Stratege auf. Uns interessiert er als Liebhaber, der seine Flöte spielt und sich seinen Leidenschaften für seine Gefährtin Radha und andere Frauen Vrindavans hingibt. Der göttliche Liebhaber, dessen Bild in zahllosen Geschichten und Legenden geformt wurde, hat eine archetypische Bedeutung erlangt, deren Wirkung bis heute bei seinen zahllosen Anhängern ungebrochen ist. Seine Liebe zur verheirateten Radha hat unsterbliche Gedichte, Gemälde und Skulpturen inspiriert. Sie zelebrieren die unverfälschte Leidenschaft der Liebe in all ihren Aspekten. In den Hymnen an Govinda, einem anderen Namen Krishnas, fleht Radha ihn an, zu ihr zu kommen: "Hari! Hari!, singt sie leidenschaftlich / Als ob sie sterben müsste, weil er sie vernachlässigt." (Zit. n. d. Übers. v. Miller, New Delhi 1991, 261) Warum erlangten gerade der Liebhaber Krishna und seine Beziehung zu Radha solch herausragende und zeitlose Bedeutung? Warum wurde die ihre Leidenschaft besingende dichterische Produktion stilbildend?
Ihre Liebe geht wie diejenige Romeos und Julias auf eine wahre Begebenheit zurück, die den Legendenbildungen den Schmelz realen Geschehens verleiht. Sodann wird das körperlich-sinnliche Element offen zur Schau gestellt, ohne dominant zu werden. Ihre Liebe wird zum Sinnbild gesteigerter Empfindsamkeit und Tiefe. Von hier zur Vergöttlichung Krishnas und Radhas war es nur noch ein Schritt: Die spirituelle Erhebung, die ihre Vereinigung als eine mit dem Göttlichen selbst erscheinen lässt, bewirkt die Läuterung des bloß Erotischen. Das Krishna-Radha-Paradigma führt zum KāmasÅ«tra. Diese Verbindung ist so offensichtlich, dass Passagen des KāmasÅ«tra gelegentlich wie eine etwas kühlere Prosaversion sanskritischer Liebespoesie klingen. Beide - die romantische Liebeslyrik und der klassische Leitfaden der Liebe - bringen dieselbe Weltsicht zum Ausdruck.

Kāmasūtra - mehr als Kopulation

Zwei Fragen tauchen in Bezug auf das KāmasÅ«tra häufig auf: In welcher Beziehung (sofern es überhaupt eine gibt) steht es zu den antiken Texten (besonders den Upanishaden), die sich mit komplizierten philosophischen Themen befassen und Entsagung predigen? Was ist am KāmasÅ«tra im Vergleich zu den anderen Texten neu? Erstens muss festgehalten werden, dass das zwischen 400 und 500 u.Z. geschriebene KāmasÅ«tra nicht das geniale Produkt eines einzelnen Geistes ist. Es ist eingebettet in die indische Tradition, indem es ältere Texte zum Thema der Liebeskunst zusammenfasst, die bis in die Zeit der Upanishaden zurückreichen. In der Einleitung zu ihrer Übersetzung des KāmasÅ«tra erläutern Wendy Doniger und Sudhir Kakar dessen Entstehungskontext mit Hilfe einer Erklärung von Vātsyāyana selbst:
Vātsyāyana teilt uns mit, dass er die Werke mehrerer früherer Autoren verarbeitet hat, deren Texte uns heute nicht mehr überliefert sind: Auddālaki, Bābhravya, Chārāyana, Dattaka, Ghotakamukha, GonardÄ«ya, Gonikāputra und Suvarnanābha. [...] Das KāmasÅ«tra war also mit Sicherheit nicht der erste Text dieser Gattung und auch nicht der letzte. Viele nachfolgende Handbücher der Erotik wie etwa das Ratirahasya des Kokkaka [...] und der Anangaranga des Kalyānamalla [...] beziehen sich auf das KāmasÅ«tra als maßgebliche Autorität. [...] Das KāmasÅ«tra übte außerdem einen nachhaltigen Einfluss auf die indische Literatur aus; sowohl sein Vokabular wie seine Klassifikation fanden Eingang in die spätere erotische Sanskritdichtung. (2006, 14)
Ferner wird durch die Rolle und den Beitrag Shvetaketu Auddālakis, des berühmten Weisen der Upanishaden, eine Verbindung mit diesen und keine radikale Abkehr festgestellt. Doniger/Kakar bestätigen, dass das siebte, als "erotische Esoterika" übersetzte Buch des KāmasÅ«tra, "eigentlich ›upanishadisches Buch‹ heißt" (ebd., 16). Wahrscheinlich wurde es von Shvetaketu vorgetragen, der selbst einige wichtige Verse zum Wesen der aus körperlicher Vereinigung resultierenden Schöpfung hinzufügte. Diese Vereinigung wurde durch ihre Einbindung in die Lehre der fünf Feuer spirituell ›mystifiziert‹. Aber weder widersprach die philosophische Dignität der fleischlichen Voraussetzung der Schöpferkraft, noch reduzierte sie diese. Das KāmasÅ«tra steht also sowohl mit den antiken Texten in Verbindung wie mit der erotischen Dichtung im Sanskrit, das nach ihm, d.h. zwischen 700 und 900 u.Z. geschrieben wurde. Wenn man die Dichtungen Amarus, Bhartriharis, Banas, Sambukas, Rajasekharas und Vallanas liest und dabei auf die erotischen Details achtet, wird der Einfluss des KāmasÅ«tra unmittelbar deutlich.
Die wiederholte Erforschung des Eros ist von keiner bloßen Genusssucht geprägt. Trotz der Fülle intimer Details wurde das KāmasÅ«tra von Anfang an als "Lebenskunst" betrachtet, in der dem Eros eine bestimmte, indes nur partielle Bedeutung zukam. Darüber hinaus war diese Wissenschaft vom Eros eng verbunden mit zwei anderen, grundlegenden Wissenschaften vom Menschen, dem religiösen und gesellschaftlichen Recht (Dharmashastra) sowie der Theorie politischer und wirtschaftlicher Macht (Arthashastra). Zusammen konstituierten sie die Kunst und Praxis menschlichen Lebens (bzw. die drei Ziele menschlicher Existenz) und führten schließlich zur vierten und höchsten Stufe, Moksha bzw. Erlösung. Das zweite Kapitel des KāmasÅ«tra beschreibt ausdrücklich "die drei ›Ziele‹ des menschlichen Lebens":
Die Lebensspanne eines Mannes beträgt angeblich hundert Jahre. Durch Einteilung seiner Zeit bringt er die drei Ziele in Einklang, so dass sie einander befördern und nicht behindern. Die Kindheit ist die Zeit, Wissen und andere Arten von Macht zu erwerben, die Jugend ist die Zeit der Lust und das Alter die Zeit der Religion und der Erlösung. Oder er verfolgt diese Ziele, da die Spanne des Lebens ungewiss ist, so wie sich Gelegenheit bietet, doch bis er Wissen erworben hat, bleibe er keusch. (Vātsyāyana, KāmasÅ«tra, 69; vgl. Doniger/Kakar, 14f)
Das KāmasÅ«tra lässt sich nicht mehr als den alten Texten entgegengesetzt auffassen. Es schildert Sexualität als einen universalen Aspekt des menschlichen Lebens, ohne den kein Fortschritt in Richtung Moksha und spirituelle Glückseligkeit möglich ist. In Devadatta Shastris gewagter Interpretation werden Veden/Upanishaden und KāmasÅ«tra unlösbar miteinander verknüpft: "Alles menschliche Leben ist von Sexualität durchdrungen. [...] Die zehn Arten von Beischlaf im Rig Veda entsprechen verschiedenen Typen von Sex, die im KāmasÅ«tra diskutiert werden." (Ebd., 173) Letztlich repräsentiert das KāmasÅ«tra eine Weltauffassung, die im antiken Indien vorherrschte und bis ins 18. Jahrhundert fortbestand. In ihm kommt, kurz gesagt, die Sorge um das menschliche Wohl zum Ausdruck. Die spätere Fixierung auf Quantitäten - 64 Stellungen beim Geschlechtsverkehr, 16 Schläge und Schreie, 8 Akte des Oralsex, 16 Bisse und Kratzer, 17 Küsse, 12 Umarmungen, 10 Stöße des Mannes - ist Ausdruck eines reduzierten Interesses. Es heißt, dass sich einige übereifrige Anhänger Verletzungen zuzogen beim Versuch, einige ›unmögliche‹ Stellungen nachzuahmen.

Romantisch oder nicht?

Von Kennern der indischen Tradition wird gelegentlich behauptet, Romantik bzw. deren konstitutiven Bestandteile in der Beziehung zwischen Mann und Frau habe im antiken Indien kaum eine Rolle gespielt. So schreibt etwa Nirad C. Chaudhuri in seinem Buch Frauen im bengalischen Leben, in Bengalen habe die romantische Sensibilität erst durch die Lektüre von Percy Bysshe Shelley, John Keats und William Wordsworth an Einfluss gewonnen. Und Doniger/Kakar meinen in der Einleitung zum KāmasÅ«tra, im Mahābhārata- und Rāmāyana-Epos werde "die sexuelle Liebe" meist als "eine Frage des blanken Begehrens und seiner unmittelbaren Befriedigung" behandelt (2006, 36f). Um die einzigartige Bedeutung des KāmasÅ«tra hervorzuheben, betonen sie, dass "Vātsyāyana einen für die Geschichte der indischen Sexualität bemerkenswerten Schritt macht: Er führt die Vorstellung der Liebe in die Sexualität ein." (41) Doniger/Kakar möchten offenbar glauben, dass das Studium und die Rezeption des KāmasÅ«tra den Einzug der romantischen Psyche in die indische Liebeslandschaft zur Folge hatten.
Zwar liegt auf der Hand, dass Weise, Könige und Götter dem Eros auf eine Weise frönten, die nicht immer begleitet von romantischen Gefühlen innigster Sehnsucht und leidenschaftlicher Hingabe war, doch muss hervorgehoben werden, dass Liebe sehr wohl ein Teil der Beziehungen war, die in der Zeit vor der Niederschrift des KāmasÅ«tra aufblühten. Es ist interessant zu sehen, was der deutsche Übersetzer des KāmasÅ«tra, Richard Schmidt, in diesem Zusammenhang zu sagen hatte:
Die Gluthitze der indischen Sonne, die Märchenpracht der Vegetation, die zauberhafte Poesie der von dem Wohlgeruch der Lotusblumen durchdufteten Mondnächte, endlich auch - und nicht zum mindesten! - die eigentümliche Rolle, die das indische Volk von jeher gespielt hat, die Rolle des weltabgeschiedenen Träumers, Philosophen und unpraktischen Schwärmers: das alles vereinigt sich, um den Inder zu einem wahren Virtuosen der Liebe zu machen. (Zit.n. Doniger/Kakar 2006, 36)
Hieraus folgt, dass jene "weltabgeschiedenen Träumer" und "unpraktischen Schwärmer" ebenso aktiv waren wie ihre Gegenüber, die leichtherzigen Kavaliere und Liebesabenteurer. Die in den Epen beschriebenen Beziehungen zwischen Draupadi und Arjuna, Sakuntala und Dushmanta, Nala und Damayanti, Sita und Ram waren durchaus "romantischer" Natur, da sie von den Gefühlen der Sehnsucht und Hingabe, Freude und Ekstase, Gram und Qual sowie Opfergeist und Bindung getragen wurden. Zwar stimmt es, dass die Damen ihre Liebhaber/Ehemänner im Rahmen der (an höfische Liebe im mittelalterlichen Europa gemahnenden) patriarchalen Verhältnisse mit "Mein Herr" anredeten, aber das minderte keineswegs ihre "romantische" Hingabe. Kein Wunder daher, dass der scharfsinnige Kritiker Herbert Read sein Buch über englische romantische Poesie, The True Voice of Feeling (1953), mit der Feststellung einleitet: "Romantik ist ein universelles Phänomen" (15), wobei "universell" in diesem Zusammenhang zeit- und grenzenlos bedeutet. Nicht nur Krieger und Könige, sondern selbst die Weisen waren entschieden "romantisch".
Mehr als alles andere jedoch ist es die exemplarische Liebe Radhas und Krishnas, in der alle Aspekte einer "romantischen" Beziehung mit unvergleichlicher Leidenschaft gefeiert werden. Ich bezweifle, dass die Herrlichkeit der Liebe jemals mit größerer lyrischer Genauigkeit dargestellt wurde. Zusammen mit der sanskritischen Liebeslyrik sollte der als "Vaishnava-Dichtung" (15. bis 18. Jahrhundert) bekannte Kanon als einer der bemerkenswertesten Vertreter romantischer Literatur betrachtet werden, deren Brillanz den Vergleich mit mittelalterlicher europäischer Hofdichtung oder dem Aufblühen der Kunst des Sonetts in der Zeit Königin Elisabeths in England nicht zu scheuen braucht.

Kastenunterdrückung

All diese Lobgesänge auf die Liebe zeugen von der schon in der Antike kulturell hoch entwickelten indischen Gesellschaft, doch sind sie nicht für alle bestimmt. In der indischen Gesellschaft, in der Klasse und Kaste sich in einer grausamen hierarchischen Ordnung verbinden, blühte die viel beschriebene und gepriesene hinduistische Lebens- und Liebesweise nur unter den Brahmanen (Priestern), Kshatriyas (Kriegern) und Vaishyas (Kaufleuten). Für die vierte und niedrigste Kategorie, die Shudras (Knechte), deren Aufgabe es war, den höheren Kasten bedingungslos zu dienen, sowie für die Millionen Kastenlosen oder ›Unberührbaren‹ (Dalits), die außerhalb des Vier-Kasten-Systems (über)leben mussten, waren ›Romantik‹ und ›Erotik‹ von einer anderen Welt.
Die scharfe Segregation innerhalb der Bevölkerung wurde durch die legendäre Figur des Krishna, des schillerndsten Liebhabers des hinduistischen Pantheons, verstärkt. Krishna, der sich selbst mit seinen endlosen Affären als höchsten Punkt der Hingabe stilisierte und blind ergebene Anhänger um sich scharte, rühmte sich in der Bhagavad Gita zugleich als Schöpfer und Statthalter des Kastensystems (vgl. Sources of Indian Tradition, 286). In dieser Ordnung von Gottes Gnaden erscheinen die Shudras als diejenigen, die "ohne Groll" die Plätze als Diener der drei oberen Kasten einnehmen (222). Wenn auch auf niedrigster Stufe, gehören sie doch der Ordnung noch an. Nicht so die Millionen von ›Ausgeschlossenen‹, die auf noch niedrigeren Ebenen existierten. Sie erledigten die ›unreine Arbeit‹, z.B. die Straßenreinigung oder die Entsorgung der Toten, und mussten entfernt von der Gemeinde der Kastenangehörigen leben. Sie waren verarmte, ungebildete ›Parias‹, unberührt von Ruhm und Herrlichkeit der (hochintellektuellen) hinduistisch-arischen Zivilisation - dazu verurteilt, ›Unberührbare‹ zu sein. Der Umgang mit ihnen, ihr Anblick, selbst der ihres Schattens galten als unrein bzw. verunreinigend. Ihnen wie den Shudras war es nicht gestattet, die großen Texte der Upanishaden, des Mahabharata und die sanskritische Poesie zu lesen - wenn sie es denn gekonnt hätten -, und so war ihnen auch das KāmasÅ«tra verschlossen. Dass wenige Privilegierte unbeschwert die Freuden des Eros genießen können, während die vielen Verachteten zum Betteln und Kriechen gezwungen sind, kennzeichnet bis heute die Hindu-Gesellschaft. Es wäre nicht schwierig, in jedem der kastendurchseuchten Dörfer und Kleinstädte im Hindi-Kernland, das die Staaten Bihar, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh, Haryana und Rajasthan umfasst, auf Zeugen der Ungleichheit zu stoßen. Was würden wir erfahren? Etwa die Geschichte jenes jungen Mannes, der, aus einer niedrigen Kaste stammend, eine Frau aus einer höheren liebt, und sich entscheidet, die Frau zu heiraten. Er wird gewarnt, schließlich bedroht. Bringt er den Mut auf, mit seiner Liebsten durchzubrennen, wird er gejagt und zur Rückkehr gezwungen. Jetzt droht ihm die Todesstrafe, die häufig in einem summarischen Urteil von den Dorfältesten verhängt wird.
Nur wer "Religion und Macht" beachtete und "wohlgebildet" war, erwarb das Recht auf die Initiation in die Heiligen Texte, mithin ausschließlich die Mitglieder der drei oberen Kasten - Brahmanen, Kshatriyas und Vaishyas. Sie hatten den Segen der Religion. Im Genuss von Reichtum und Macht sicher geworden, waren sie gepflegt und gebildet. Freilich beruhte ihre Herrschaft über die unteren Kasten und die Kastenlosen auch auf Konsens - als organische Intellektuelle arbeiteten sie an der Aufrechterhaltung des Status Quo. Der Zugang zu den Heiligen Texten, der sie auszeichnete, war streng geregelt. Unbefugte, die sich in den "Besitz von Handschriften, insbesondere von illuminierten Handschriften" bringen wollten, wurden streng bestraft. "Könige und Kaufleute beauftragten Kopisten mit der Abschrift von Texten zu ihrem privaten Gebrauch." (Doniger/Kakar 2006, 26) Zu Beginn von Buch 1 des KāmasÅ«tra heißt es: "Wir verneigen uns vor der Religion, der Macht und der Lust, weil sie der Gegenstand dieses Lehrbuchs sind" (Vātsyāyana, 67). Nicht dass die niedrigen Kasten nicht auch liebten, heirateten und kopulierten. Aber sie hatten keinen Zugang zur entwickelten Grammatik der Liebe. Vātsyāyana selbst erklärt, dass er sich auf den "Lebensstil des Lebemannes" konzentriert, der diesen "mit dem Geld, das er entweder durch Erbschaft oder aber durch Geschenke, Eroberungen, Handel oder Lohn oder durch beides erworben hat", finanziert (zit.n. Doniger/Kakar 2005, 25).
Trotz allem gaben sich Männer und Frauen aus unterschiedlichen Kasten mitunter der körperlichen Vereinigung hin. Während Männer aus höheren Kasten das angeborene Recht besaßen, mit Frauen niedrigerer Kasten zusammenzuleben, war der umgekehrte Fall äußerst selten. Im Kodex des Weisen Yajnavalkya (4. Jh.) heißt es:
Der von einem Brahmanen mit einer Shudrafrau gezeugte Sohn heißt Nishada [...]; der von einem Shudramann mit einer Brahmanenfrau gezeugte Sohn heißt Chandala, und dieser ist von allen Aspekten des Dharma ausgeschlossen" (zit.n. Ainslie 1991, 223).

Die Frau als Untergeordnete

Derselbe Manu, der das Kastensystem für sakrosankt und unverzichtbar erklärte, betrachtete die Frauen mit Misstrauen. Er belegte sie mit einer nie abschließbaren Kette negativer Eigenschaften. Sie waren zwar Ehegattinnen, Gefährtinnen, Teilhaberinnen und sogar Partnerinnen im Krieg, doch gleichzeitig auf ewig untergeordnet. Selbst Draupadi, der im Mahabharata der bei weitem rebellischste weibliche Charakter zugeschrieben war, musste sich dem Diktat ihrer fünf Ehemänner beugen. Auch wenn die Frau, wie im KāmasÅ«tra, als "Subjekt und vollwertige Teilnehmerin am Sexualleben, [...] nicht mehr als passive Empfängerin männlicher Wollust" (Doniger/Kakar 2006, 40) erscheint, sind erotischer Genuss und sexuelle Freuden der Frauen letztlich gleichgültig: "Da der Text jedoch von einem Mann und hauptsächlich als Lehrbuch für andere Männer verfasst wurde, wird man einräumen müssen, dass die Entfaltung der sexuellen Subjektivität der Frau letztlich der männlichen Lust dient." (Zit.n. Geetha 2002, 12)
Die poetische Erhöhung der Frau ist ihrer praktischen Unterwerfung kongruent. In kaum einer anderen Religion ist das Pantheon mit so vielen Muttergöttinnen gesegnet, die all die heiligen und positiven Eigenschaften des Lebens - Stärke, Mut, Milde, Liebe, Großzügigkeit, Wohlstand, Wissen - verkörpern. Im modernen Indien sind Dörfer, Kleinstädte und Metropolen mit zahllosen Tempeln allmächtiger Göttinnen (Durga, Kali, Lakshmi, Parvati) übersät. Jeden Tag strömen Millionen an diese Orte, um zu beten und den Segen zu erbitten. Es ist, als sei Göttlichkeit das Vorrecht des weiblichen Prinzips.
Im unversöhnlichen Widerspruch dazu werden bis heute die Rechte der Frauen mit Füßen getreten. Neben der erwähnten Tötung weiblicher Föten sind mörderische Mitgiftforderungen, häusliche Gewalt und Zwangsverheiratung von Mädchen an der Tagesordnung. Mit derselben Leidenschaft, mit der die Muttergottheiten verehrt werden, werden die wirklichen Frauen verachtet. So kann man in ein und demselben Haushalt die inbrünstige Verehrung der Göttin Durga neben der Tötung eines weiblichen Fötus und der Misshandlung der Braut finden, weil absurde Mitgiftforderungen nicht erfüllt worden sind.
Selbst in einem "progressiven" Bundesstaat wie Maharashtra, dessen glitzernde Hauptstadt Mumbai das Zentrum des indischen Finanzkapitals ist, ist Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung und wird die Tötung weiblicher Föten nicht bestraft (vgl. Bavadan 2007, 12). Sogar in den wohlhabendsten Gebieten Maharashtras kommen auf tausend Männer lediglich zwischen 850 und 898 Frauen. Vor allem die Frauen der Dalit werden zu Opfern von Demütigungen und mörderischen Angriffen. Ein jüngeres Beispiel ist die Vergewaltigung und Ermordung der zwei Dalitfrauen Surekha und Priyanka Bhotmange in Khairlangi. Ihr einziges ›Verbrechen‹ bestand darin, gebildet zu sein und nach einem besseren Leben zu streben. Das konnten ihre höheren Kasten zugehörigen Nachbarn nicht ertragen. In einem Bericht des Centre for Human Rights and Global Justice wird festgestellt:
Indien hat es versäumt, die vielfältigen Formen der Unterdrückung anzugehen, mit denen Dalitfrauen konfrontiert sind. Selbst im Vergleich mit Dalitmännern haben sie keinen gleichberechtigten Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Justiz. Sie müssen mit Bedrohungen ihrer persönlichen Sicherheit leben, wozu auch Menschenhandel und sexuelle Gewalt gehören. (www.hrw.org/reports/2007/india0207)
In Buchhandlungen in Kolkata kann man neben der heiligen Tradition des KāmasÅ«tra plötzlich auf The Unheard Scream (Rao 2004) stoßen. Schonungslos spricht es von den geschlechtsselektierenden Abtreibungen im Punjab, dem "Land der verschwundenen Mädchen"; von der gnadenlosen Ausbeutung der Arbeiterinnen in Freihandelszonen; von der Qual der Strohwitwen Bihars, deren Ehemänner als Wanderarbeiter die meiste Zeit abwesend sind, und von vielen anderen Leiden. Es ist eine lieblose Welt, in der Frauen als Objekt der Ausbeutung, als Privateigentum und Investition mit hohem Profit betrachtet werden. Der Schmerzensschrei, der Indien zerreißt - wird er das Ohr derjenigen erreichen, die von der Schönheit der Upanishaden und der Kunst des KāmasÅ«tra betört sind?
Ein uneingeschränktes Recht der Frauen, zu leben und zu lieben, wie es ihnen gefällt, findet sich überraschenderweise im Mahabharata. König Pandu, der unzufrieden war mit den patriarchalischen Einschränkungen der Frauen in seinem Reich, erzählt seiner Frau Kunti: "Früher waren die Frauen nicht ans Haus gefesselt und von ihren Ehemännern und anderen Verwandten abhängig. Sie bewegten sich frei und erfreuten sich des Lebens" (Lokayata, zit.n. Chattopadhyaya 1978, 166).
Beschwor Pandu eine reale Vergangenheit, oder konstruierte er ein seinem Traum entsprechendes goldenes Zeitalter? Auch wenn es hierauf keine eindeutige Antwort gibt, drängt sich doch der Vergleich mit EngelsÂ’ Darstellung von 1884 auf: "Kommunistischer Haushalt bedeutet aber Herrschaft der Weiber im Hause, wie ausschließliche Anerkennung einer leiblichen Mutter bei Unmöglichkeit, einen leiblichen Vater mit Gewissheit zu kennen, hohe Achtung der Weiber, d.h. der Mütter, bedeutet." (MEW 21, 53)
In dieser Gesellschaft, frei von Privateigentum und patriarchaler Herrschaft, scheint die Beziehung zwischen Mann und Frau unmittelbar der Erde entsprungen, natürlich, spontan und fruchtbar, und kam MarxÂ’ Feststellung in den Pariser Manuskripten von 1844 nahe, wonach "das Verhältnis des Mannes zum Weib [...] das natürlichste Verhältnis des Menschen zum Menschen" ist. Und ferner: "In ihm zeigt sich also, in[wie]weit das natürliche Verhalten des Menschen menschlich oder inwieweit das menschliche Wesen ihm zum natürlichen Wesen, inwieweit seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist." (MEW 40, 535)

Aus dem Englischen von Julian Müller
Literatur

Ainslie, T. Embree (Hg.), Sources of Indian Tradition, Bd. 1: From the Beginning to 1800, New Delhi 1991
Bavadan, Lyla, "At the Receiving End", in: Frontline, Schwerpunkt "Woman as Victim", 24. Jg., 2007, H. 25, 9-12
Chattopadhyaya, Debiprasad, Lokayata - A Study in Ancient Indian Materialism, New Delhi 1978
Chaudhuri, Nirad C., Bangali Jibone Ramani (Women in Bengali Life), Kolkata 1968
Doniger, Wendy u. Sudhir Kakar, "Einleitung", in: Vātsyāyana 2006, 11-64
Engels, Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884), in: MEW 21, Berlin/DDR 1962, 25-173
Geetha, V., Gender, Kolkata 2002
Karve, Irawati, Yuganta - The End of an Epoch, New Delhi 1991
Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW 40, Berlin/DDR 1985, 465-588
Rao, Mohan (Hg.), The Unheard Scream - Reproductive Health and WomenÂ’s Lives in India, New Delhi 2004
Read, Herbert, The True Voice of Feeling: Studies in English Romantic Poetry, London-New York 1953
Vātsyāyana, KāmasÅ«tra, neu übers. u. kommentiert u. m. einer ausführl. Einl. v. W. Doniger u. S. Kakar, ins Dt. übertragen v. R. Cackett, Frankfurt/M 2006

Aus: DAS ARGUMENT, Nr. 273: Liebes Verhältnisse, S. 153ff