Das Gespenst der Rentnerdemokratie

Die alljährliche Neuauflage des Rentenanpassungsgesetzes ist für gewöhnlich eine Veranstaltung von eher mäßiger politischer Brisanz. Nicht so in diesem Jahr.

Das Gespenst der Rentnerdemokratie
Die alljährliche Neuauflage des Rentenanpassungsgesetzes ist für gewöhnlich eine Veranstaltung von eher mäßiger politischer Brisanz. Nicht so in diesem Jahr: Selten wurde eine sozialpolitische Maßnahme von der gesamten deutschen Medienlandschaft so einhellig und nachdrücklich abgelehnt wie der Beschluss der Bundesregierung von Anfang April, die gesetzliche Rente nach drei Nullrunden und einer Mini- Erhöhung in den nächsten zwei Jahren etwas stärker ansteigen zu lassen als ursprünglich vorgesehen. Durch die vorübergehende Aussetzung des sogenannten "Riester-Faktors" soll die Rente zum 1. Juli 2008 um 1,1 Prozent statt nur um 0,46 Prozent steigen; auch im Jahr 2009 soll die Rentenanpassung um rund 0,6 Prozentpunkte höher ausfallen als nach der bestehenden Regelung. Der hypothetische "Eckrenter" hat dadurch ab Juli monatlich stolze 7 Euro und 65 Cent zusätzlich in der Tasche.

Ein unerwartet heftiger Aufschrei der Empörung hallte durch die Leitartikel der Republik: "Ihr sollt nicht fummeln!", mahnte "Die Zeit", "Verschont uns mit Wahlkampfgeschenken!", wetterte die "Welt am Sonntag", die "Süddeutsche Zeitung" sprach von einem "Sieg der Altenlobby" und die "Bild" schlicht von "Rentenbetrug".1 Quer durch alle Redaktionen waren sich die Kommentatoren einig, dass die Regierung aus purem Populismus heraus den mühsam erreichten Reformfortschritt der letzten Jahre verspiele, um die wachsende Zahl älterer Wähler gnädig zu stimmen. Durch die vollkommen willkürliche Manipulation der Rentenformel, so der allgemeine Tenor, werden die Wirtschaft belastet, der Staatshaushalt geplündert, die jüngeren Generationen geschröpft und das Vertrauen in die Rente zerstört.

Doch damit nicht genug: Aus einer bescheidenen Rentenerhöhung wurde sogar ein echtes Problem für die Demokratie konstruiert: "Wir sind auf dem Weg in die Altenrepublik", tönte Meinhard Miegel, der Chef des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn, in der "Welt"; wenn die älteren Wähler in Zukunft in der Mehrheit seien und die Politik sich einseitig darauf ausrichte, hätte Deutschland künftig "ein Demokratieproblem". Am gleichen Tag verlautbarte Alt-Bundespräsident Roman Herzog wörtlich in der "Bild"-Zeitung: "Ich fürchte, wir sehen gerade die Vorboten einer Rentner-Demokratie: Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie. Das könnte am Ende in eine Richtung gehen, dass die Älteren die Jüngeren ausplündern."2

Vordergründiger Anlass der wütenden Proteste ist die Tatsache, dass der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung nun etwas langsamer sinkt als geplant: Im Jahr 2011 liegt er um 0,6 Prozentpunkte und im Jahr 2012 um 0,4 Prozentpunkte höher als ursprünglich vorgesehen, bevor er dann im Jahr 2013 mit 19,1 Prozent wieder voll "im Plan" liegt. Parallel dazu erhöht sich in diesen beiden Jahren auch der Bundeszuschuss an die Rentenversicherung, und zwar um geschätzte 2,5 Mrd. Euro gegenüber der Ursprungsplanung. Das klingt nun keineswegs besonders dramatisch - und ist es eigentlich auch nicht. An der medialen Überreaktion zeigt sich jedoch, wie erfolgreich der jahrelange publizistische Dauerbeschuss des bundesdeutschen Sozialstaats gewesen ist und wie stark sich das Meinungsklima in Deutschland bereits verschoben hat. Jede noch so kleine, ja angesichts der allgemeinen Preis- und Inflationsentwicklung geradezu lächerliche Verbesserung sozialer Leistungen wird mit immer schrilleren Tönen bekämpft, wenn sie den übergreifenden Zielen der Haushaltskonsolidierung und der Senkung der "Lohnnebenkosten" im Wege stehen könnte.
Stetig sinkende Kaufkraft

Nun ist es nicht das erste Mal, dass eine Regierung kurzfristig und unsystematisch in das bestehende Rentenrecht eingreift. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde die eigentlich festgelegte Anpassung "korrigiert" - und zwar jedes Mal zu Ungunsten der jeweiligen Rentnerinnen und Rentner. So wurde durch das "Haushaltssanierungsgesetz" vom Dezember 1999 beschlossen, den aktuellen Rentenwert in 2000 von der Nettolohnentwicklung abzukoppeln und nur in Höhe der Inflationsrate anzupassen. Hier ging es explizit darum, Bundeshaushalt und Rentenkassen kurzfristig zu entlasten. Vier Jahre später wurde durch das "zweite SGB-VI-Änderungsgesetz" die Rentenanpassung für 2004 sogar vollständig gestrichen. Diese verordnete Nullrunde sollte im Rahmen der Agenda 2010 den Beitragssatz zur Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) auf 19,5 Prozent konstant halten und damit zur "Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen" beitragen. Seltsamerweise hatte so gut wie keiner derjenigen, die aktuell die unverantwortliche "Rentenwillkür" der Bundesregierung beklagen, seinerzeit etwas gegen diese außerplanmäßigen Kürzungen einzuwenden. Hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen.

Betrachtet man die Chronik der Rentenkürzungen allein seit dem Jahr 2000 (Riester-Faktor, "Nachhaltigkeitsfaktor", Verdoppelung des Pflegeversicherungsbeitrags, Sonderbeitrag zur Krankenversicherung, Erhöhung der Mehrwertsteuer, nachgelagerte Besteuerung, Rente ab 67 etc.), so wird deutlich, dass die "außerplanmäßige Rentenerhöhung" im Grunde genommen nichts anderes ist als eine vorübergehende Verlangsamung des seit über einem Jahrzehnt andauernden stetigen Kaufkraftverlustes der gesetzlichen Rente.

Die jetzt beschlossene "Erhöhung" liegt immer noch deutlich unter der Preissteigerungsrate, die laut offizieller Regierungsprognose im Jahresdurchschnitt 2,3 Prozent betragen wird. Somit werden die Rentnerinnen und Rentner trotz aller Aufschwungs-Rhetorik auch in diesem Jahr wieder ein deutliches Minus im Portemonnaie hinnehmen müssen.

Von der angeblichen "Macht der Alten" ist in der gesetzgeberischen Realität bislang also noch nicht viel zu spüren.
Vom Klassenkonflikt zum "Generationenkampf"

Wenn jetzt aber, dessen ungeachtet, die beitragszahlenden Arbeitnehmer zu Opfern "großzügiger" Wahlkampfgeschenke an die übermächtige "Altenlobby" deklariert werden und immer unverhohlener zum politischen Widerstand aufgerufen wird, so wird dabei tunlichst verschwiegen, dass die Stabilisierung des Beitragssatzes als das erklärte Hauptziel aller Rentenreformen der letzten zehn Jahre in erster Linie im Interesse der Arbeitgeber liegt. So hat die mit der Riester-Reform von 2001 in Gang gesetzte Teilprivatisierung des öffentlichen Rentensystems zu einer deutlichen Verlagerung der ehemals hälftig getragenen Kosten der Alterssicherung von den Arbeitgebern zu den Arbeitnehmern geführt. Der maximale Beitragssatz zur GRV bis zum Jahr 2030 wurde politisch auf 22 Prozent festgesetzt. Da Arbeitnehmer jedoch künftig rund vier Prozent ihres Bruttoeinkommens für die private Altersvorsorge verwenden müssen, um ihr bisheriges Versorgungsniveau annähernd zu halten, liegt der tatsächliche Beitragssatz bei 26 Prozent, von denen die Arbeitnehmer allerdings 15 Prozentpunkte und die Arbeitgeber nur 11 Prozentpunkte zahlen müssen. Mit "Generationengerechtigkeit" hat dies nicht viel zu tun.

Der Versuch, diese verteilungspolitische Schieflage zu einem demokratiegefährdenden Konflikt zwischen Alt und Jung umzudefinieren, ist Teil einer übergreifenden Strategie sozialer Spaltung, mit der die normativen Grundlagen des deutschen Sozialstaates in Frage gestellt werden soll. Der klassische Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, der sich in den letzten Jahren noch einmal deutlich verschärft hat, soll in eine Vielzahl von Konflikten innerhalb der Arbeitnehmerseite transformiert werden: Beitragszahler gegen Leistungsempfänger, Alte gegen Junge, Eltern gegen Kinderlose, Arbeitsplatzbesitzer gegen Arbeitslose - all dies sind letztlich künstliche Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wirtschaft und Finanzkapital hingegen bleiben von diesen angeblich so drängenden "Zukunftsfragen" jedes Mal eigentümlich unberührt.

Das auffällig uniformisierte Meinungsbild der deutschen Leitmedien ist nicht zuletzt auf die jahrelange, hoch professionalisierte Kampagnenarbeit einer Vielzahl marktwirtschaftlich orientierter, von Arbeitgebern und Finanzsektor finanzierter Meinungsagenturen zurückzuführen, die intensiv auf die Ersetzung des bisherigen solidarischen Alterssicherungssystems durch ein privates, kapitalgedecktes Modell hinarbeiten.

Den einigermaßen sachkundigen Beobachter wird es daher nicht verwundern, dass mit Meinhard Miegel, Bernd Raffelhüschen und Hans-Werner Sinn nun wieder einmal die altbekannten Advokaten einer Komplettprivatisierung der sozialen Sicherungssysteme als selbstlose Mahner und Warner vor dem drohenden "Kampf der Generationen" auftreten. Meinhard Miegels "Institut für Wirtschaft und Gesellschaft" (IWG) arbeitet bekanntlich eng mit dem "Deutschen Institut für Altersvorsorge" (DIA) zusammen, welches von der Deutschen Bank finanziert wird; das "Forschungszentrum Generationenverträge" (FZG), welches Bernd Raffelhüschen leitet, erhält seine Aufträge überwiegend von der privaten Versicherungswirtschaft.

Auf den ersten Blick erstaunlicher ist jedoch, dass sich mit Roman Herzog nun ein bislang vermeintlich "unbescholtenes" politisches Schwergewicht an die Spitze der Kampagne gestellt hat. Aus dem Munde eines scheinbar unabhängigen, in Ehren ergrauten Staatsmannes erhält die Warnung vor den "gierigen Alten" einen weitaus seriöseren Klang. Doch leider ist auch der ehrwürdige Alt-Präsident längst in das allgegenwärtige Netzwerk der neoliberalen Think-tanks eingebunden: Das 2003 gegründete "Roman Herzog Institut", für das Herzog als Ehrenvorsitzender fungiert, wird hauptsächlich von der Vereinigung der bayrischen Wirtschaft (VBW) und der bayrischen Metall- und Elektrobranche finanziert; es bezieht seine Inhalte vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln und arbeitet unter anderem auch in enger Kooperation mit der "Initiative Soziale Marktwirtschaft" (INSM).3

Vor diesem Hintergrund entbehrt der aktuelle Hype um die demographische Gefährdung der Demokratie nicht einer gewissen Ironie: Einerseits wird praktisch jede Thematisierung verteilungspolitischer Fragen mittlerweile als Rückfall in symbolische Klassenkampf- Rituale diffamiert; andererseits arbeiten die "Botschafter" der freien Marktwirtschaft ihrerseits, ob bewusst oder unbewusst, mit Versatzstücken aus der marxistischen Theorietradition. Mit der These vom kommenden oder bereits stattfindenden "Generationenkampf" soll aus einer künstlich konstruierten Generation "an sich" eine ihrer selbst bewusste Generation "für sich" geformt werden, welche früher oder später, ganz im Sinne "überzeitlicher Entwicklungsgesetze", unweigerlich den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufnimmt und die Fesseln des Sozialstaats abwirft. Dem dazu notwendigen "Generationenbewusstsein" muss nur noch ein wenig auf die Sprünge geholfen werden. Marx und Engels als Ideengeber des neoliberalen Mainstreams - wer hätte das gedacht?
1 Vgl. "Die Zeit", 13/2008, "Welt am Sonntag", 30.3.2008, "Süddeutsche Zeitung", 4.4.2008, "Bild", 8.4.2008.
2 "Die Welt", 11.4.2008, "Bild", 11.4.2008.
3 Nachzulesen unter www.romanherzoginstitut. de. Ganz nebenbei wird in dem erwähnten "Bild"-Artikel übrigens für Herzogs demnächst erscheinendes neues Buch geworben, welches den bezeichnenden Titel "Mut zum Handeln" trägt - ein Schelm, wer dabei Böses denkt.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 05/2008 - Seite 11 bis 14