Reflexionen über Sozialismus

Sam Webb ist Vorsitzender der KP der USA

Wenn wir heute über Sozialismus diskutieren, können wir nicht einfach nur wiederholen, was Marx und Engels vor mehr als einem Jahrhundert dazu gesagt haben. Sei es Fluch oder Segen, wir können nicht so tun, als sei der Sozialismus kein prägender Zug der Weltentwicklung im 20. Jahrhundert gewesen. Und, um das mindeste zu sagen: diese Erfahrung war turbulent und widersprüchlich. Einerseits hat der Sozialismus rückständige Länder transformiert und modernisiert, wichtige ökonomische und soziale Rechte gesichert, Ländern geholfen, aus dem Kolonialismus auszubrechen, entschieden zum Sieg über den Nazismus beigetragen, durch seine bloße Präsenz Druck auf die herrschenden Klassen der kapitalistischen Welt ausgeübt, ihren arbeitenden Klassen und demokratischen Bewegungen Konzessionen zu machen, und nahezu fünfzig Jahre als ein Gegengewicht gegen die aggressiven Ambitionen des US-Imperialismus gewirkt. Auf der anderen Seite waren die Mängel und Fehler auf politischen, ökonomischen und kulturellen Feldern so schwerwiegend – ganz zu schweigen von ungeheuren und nicht zu rechtfertigenden Verbrechen gegen die sowjetischen Menschen und den sowjetischen Sozialismus in der Stalin-Ära, dass am Ende die Sowjetunion (und die osteuropäischen Staaten) kollabierten, ohne auf großen Protest der Bürger oder der regierenden Parteien zu stoßen. All dies – zusammen mit Bedingungen, Herausforderungen und Empfindlichkeiten unserer eigenen Zeit – muss nüchtern studiert werden und zu angemessenen Schlussfolgerungen führen, wenn eine kämpferische Vision von künftigem Sozialismus geformt werden soll.

Sozalismus und Notwendigkeit

Ich würde argumentieren, der Sozialismus hat im 21. Jahrhundert eine neue Notwendigkeit erlangt, ungeachtet seiner historischen Niederlage im 20. Jahrhundert. Seit seinen frühesten Tagen hat der Kapitalismus den Bewohnern der Erde nicht kalkulierbaren Schaden zugefügt. Ursprüngliche Akkumulation, Weltkriege, Sklaverei, andere Formen der Unterwerfung der Arbeit, skrupellose Ausbeutung der Lohnarbeit, territoriale Annexionen, koloniale und zwischenstaatliche Kriege, Rassen-, Geschlechter- und andere Formen der Unterdrückung – all dies belegt deutlich sichtbare Plätze auf der historischen Landkarte des US- und Weltkapitalismus. So grässlich diese Geschichte ist, die Zukunft könnte noch schlimmer sein, aus einem einfachen Grund: Die destruktive Kraft des Kapitalismus, angetrieben durch seine innere Logik, Mehrwert aus den primären Produzenten zu pumpen und globalen Raum zu beherrschen, ist exponentiell gewachsen, verglichen mit dem vorigen Jahrhundert. Wird sie nicht gezügelt und vielleicht demontiert, ist diese Kraft fähig, unumkehrbaren Schaden am Leben in allen seinen Formen anzurichten. Vor einem Jahrhundert prägte die große Kommunistin Rosa Luxemburg das berühmte Wort, die Menschheit habe zu wählen zwischen „Sozialismus oder Barbarei“. Heute gilt dies in noch tieferem Sinn. Denken wir an einige der neuen Gefahren, die den Sozialismus nötig machen. Zuerst die Aussicht auf nicht endende Kriege und Massenvernichtung. Mit der Überwindung des Kalten Kriegs dachten viele, dass die Kriegsgefahr, konventionell und nuklear, abflauen würde. Die folgenden Ereignisse haben diese bescheidenen Hoffnungen ausgelöscht. Die nukleare Drohung bleibt und konventionelle Kriege schlagen Narben in die Landschaft und löschen das Leben von Millionen Menschen brutal aus. Ein anderes zwingendes Argument für die Notwendigkeit des Sozialismus ist, dass die ökonomische Wachstumsschwäche der kapitalistischen Weltwirtschaft aus den frühen 1970er Jahren nicht überwunden wurde. Die Hoffnung der politischen Eliten war, dass ökonomische Restrukturierung, Deregulierung, Privatisierung, Handelsliberalisierung und massive finanzielle Manipulationen – mit einem Wort: Neoliberalismus – Bedingungen für ein nachhaltiges weltweites ökonomisches Wachstum schaffen würden, aber das ist nie passiert. Ja, es gab ökonomisches Wachstum und die Profitabilität wurde wieder hergestellt. Ein Regime international vernetzter Produktion hat die alten fordistischen Arrangements ersetzt. Der Finanzsektor ist in schwindelerregendem Maß gewachsen und Millionen Niedriglohn-Jobs wurden im Dienstleistungsbereich kreiert. Aber kräftiges und anhaltendes Wachstum und ökonomische Stabilität haben sich nicht eingestellt. Der Neoliberalismus hat vielmehr weltweit gewaltiges menschliches Leid und ökonomische Instabilität produziert. All das wirft die Frage auf, ob das anhaltende Wachstum 1945-1970 nicht eher eine Abweichung war und nicht, wie normalerweise unterstellt wird, die Norm, zu der die Ökonomie schließlich zurückkehren wird. Eine andere Gefahr für die Zukunft der Menschheit ist die Umweltzerstörung. Fast täglich hören wir von aussterbenden Spezies, globaler Erwärmung, Erschöpfung der Ressourcen, Abholzung, Wüstenbildung usw. bis zu dem Punkt, dass wir uns an die heranziehende Katastrophe schon fast gewöhnt haben. Unser Planet kann die Einflüsse eines profitgetriebenen, unlimitierten kapitalistischen Wachstums nicht unbegrenzt absorbieren. Viele Wissenschaftler sagen, dass, wenn wir nicht radikal unsere Produktions- und Konsumtionsmuster ändern, wir einen Punkt erreichen werden, an dem die Schäden für die Umwelt irreversibel werden. Schließlich wird die Menschheit auch ernsthaft gefährdet durch die tiefen und anhaltenden rassischen, geschlechtlichen und Einkommens-Ungleichheiten, die in die Strukturen, Hierarchien und Dynamiken kapitalistischer Entwicklung direkt eingebettet sind. Die Belege für diese Ungleichheiten sind deutlich: Hunger und Fehlernährung, grässliche Armut, Seuchen, tägliche und institutionalisierte Brutalität gegen Farbige, systematischer Missbrauch und Unterdrückung von Frauen, Ausbreitung von Slums rund um Mega-Städte, massive Migration von Leuten auf der Suche nach einem besseren Leben, zerfallende Kommunen und Regionen und wachsende, unverschämte Polarisierung von Einkommen zwischen den Ländern des Nordens und des Südens. Ich hoffe, das reicht zu zeigen, dass der Sozialismus nicht einfach nur eine gute Idee ist, sondern eine Notwendigkeit – nötig, um für Frieden und für unseren Planeten zu sorgen, um Ungleichheit abzubauen und um ein sicheres Leben für die Milliarden, die diese Erde bewohnen, zu schaffen.

Sozialismus und Werte

Unsere Vision des Sozialismus sollte einen Grundbestand an Werten und Normen umfassen. Einige der wichtigsten sind: soziale Solidarität, Gleichheit, Gewaltlosigkeit, ökonomische Gerechtigkeit, die Abschaffung von Ausbeutung, Demokratie, Respekt vor anderen, individuelle Freiheiten und Bürgerrechte, Nachhaltigkeit und Internationalismus. Diese Werte sind nicht willkürlich gewählt. Sie entwickelten sich in den Kämpfen der arbeitenden Menschen und aus den Notwendigkeiten sozialer Entwicklung. Darüber hinaus sollten sie die Kultur, den Diskurs und die Entscheidungsfindungsprozesse einer sozialistischen Gesellschaft in unserem Land prägen. Da ihre volle Entfaltung Zeit braucht und da sie mit kurzfristigen Entwicklungserfordernissen des Sozialismus kollidieren können, müssen diese Werte die Mittel des sozialistischen Aufbaus ebenso prägen wie seine Ziele. Die Abschaffung von Lohnunterschieden zum Beispiel ist aus ökonomischen und kulturellen Gründen kein passendes Ziel für die sozialistische Phase der Entwicklung. Und doch muss der normative Wert der Gleichheit gewahrt bleiben als Schutz gegen exzessive Unterschiede in den Einkommen, als Abschreckung gegen die Herausbildung von Privilegien und als Ermahnung, dass Ungleichheit in höheren Stadien gesellschaftlicher Entwicklung verschwinden muss. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Lenin schrieb am Vorabend des ersten Weltkriegs: „Abrüstung ist das Ideal des Sozialismus“ (Die Abrüstungs-Losung). War er naiv, dies zu versichern im Angesicht des Weltbrands, der bevorstand? Oder wollte er sagen, dass Kommunisten in jeder Wendung des Klassenkampfs nach einer Welt ohne Gewalt streben (und in den Augen der Menschen als danach Strebende gesehen werden), und dass sie, wenn dies nicht möglich ist, alles tun, um Krieg und Gewalt zu minimieren? Es hat allerdings eine Tendenz in der kommunistischen Bewegung gegeben, Werte und Normen nur instrumentell zu sehen. So wurden sie im Namen des Kampfs gegen den Klassengegner und des sozialistischen Aufbaus leicht entbehrlich. Ich möchte glauben, wir haben in dieser Hinsicht einige Lektionen gelernt. Eine davon ist, dass wir nicht hochmütig mit den Werten umgehen können, die der Sozialismus verkörpern sollte. Wenn unsere Werte den revolutionären Prozess nicht animieren, wenn die Mittel und Methoden des sozialistischen Aufbaus diese Werte nicht widerspiegeln, dann wird der Sozialismus seine attraktivsten Seiten verlieren – seinen Humanismus und seine moralische Überlegenheit – welche, einmal verloren, nur schwer wiederzugewinnen sind. Sicherzustellen, dass dies nicht passiert, erfordert aktives Staatsbürgertum, engagiert in demokratischen Organisationen und eingebettet in eine robuste sozialistische politische Kultur.

Demokratie und demokratischer Kampf

Der Kampf für Demokratie, verstanden im weitesten Sinn, ist Kernbestandteil des Bemühens um sozialen Fortschritt und Sozialismus. Demokratie – die Möglichkeit, seine eigene Zukunft zu formen – ist für die arbeitenden Menschen in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus zu einer Notwendigkeit geworden, ebenso dringend wie Essen und Obdach in früheren Phasen. Es ist nicht nur Mittel zum Zweck oder ein taktischer Kunstgriff, der angewandt wird, um fortgeschrittenere Stadien des Klassenkampfs zu erreichen. Vielmehr ist der Kampf für Demokratie beides, Mittel und Ziel. Die Bevölkerung gewinnt dabei an Macht und das stärkt wiederum die Demokratie. Im Kapitalismus, der das demokratische Leben hemmt und einschränkt, ist der Kampf für die Vertiefung und Erweiterung der Demokratie bei jedem Schritt eine unausweichliche Aufgabe. Im Verlauf des demokratischen Kampfes eignen sich die arbeitenden Klassen und ihre Verbündeten praktische Erfahrungen an. Sie gewinnen politisches Bewusstsein. Sie vereinigen die notwendigen Kräfte in politischer und organisatorischer Hinsicht. Sie zügeln die Macht ihrer Klassengegner. Und nicht zuletzt gewinnen sie sofortige Verbesserungen in ihrem gegenwärtigen Alltag. Kurz, es gibt keinen Weg zum Sozialismus, der den Kampf gegen die extreme Rechte und den demokratischen Kampf im Allgemeinen umgehen könnte. Jeder, der dies versuchen würde, wird bald die kalten Winde der politischen Isolierung spüren. Lenin schrieb einmal: „Es wäre ein radikaler Fehler, zu denken, dass der Kampf um Demokratie das Proletariat von der sozialistischen Revolution ablenken könnte oder sie verbergen, überschatten könnte, etc. Im Gegenteil, so wie es keinen siegreichen Sozialismus geben kann, der nicht die volle Demokratie praktiziert, so kann das Proletariat sich nicht auf den Sieg über die Bourgeoisie vorbereiten ohne einen allumfassenden, anhaltenden und revolutionären Kampf für Demokratie.“ (Die sozialistische Revolution und das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung). Natürlich fragt sich da mancher, wo da das Konzept der Klasse und des Klassenkampfs bleibt. Werden sie auf die grüne Wiese gestellt wie ein verdientes Rennpferd, welches zu alt geworden ist, um noch anzutreten? Auf keinen Fall! Klassen und Klassenkampf bleiben im Zentrum des politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens, aber sie existieren nicht hermetisch abgeschlossen gegenüber anderen Kategorien der Analyse und des Kampfs. Der Kampf um Demokratie wird die Klasseneinheit und den Klassenkampf in jedem Stadium stärken, einschließlich des sozialistischen Stadiums. Und umgekehrt: Die Intensivierung des Klassenkampfs und ein Wechsel im Kräfteverhältnis der Klassen zugunsten der arbeitenden Klasse kann der demokratischen Bewegung nur neuen Auftrieb geben. Um einen Schritt weiter zu gehen: ein qualitativer Wechsel im Kräfteverhältnis der Klassen zugunsten der arbeitenden Klasse und ihrer Verbündeten eröffnet neue demokratische Möglichkeiten, von denen die Ausgebeuteten und Unterdrückten bisher nur haben träumen können. Im Epizentrum des Kampfs für Demokratie und Sozialismus steht der Kampf gegen Rassismus und für volle Gleichheit.

Wer sind die Akteure beim Übergang zum Sozialismus?

Wesentlich für die Verwirklichung des Sozialismus ist eine Vision der Klassen und sozialen Kräfte, die gesammelt werden müssen, um die politische Macht zu gewinnen. Im Zentrum dieser Sammlung steht die multi-rassische, multi-ethnische, männlich-weibliche und aus älteren und jüngeren Generationen bestehende Arbeiterklasse. Obgleich wir der Idee, die Arbeiterklasse könne allein die Kapitalistenklasse in die Knie zwingen, widerstehen sollten, sollten wir die strategische soziale Macht der Arbeiterklasse nicht minimieren noch die marxistische Einsicht beiseite legen, dass die Arbeiterklasse aufgrund ihrer ökonomischen Lage, ihrer politischen Kapazitäten und ihrer geschichtlichen Erfahrung für die generelle Führungsrolle in der demokratischen Bewegung positioniert ist. Andere soziale Kräfte können soziale Veränderungen bewirken, aber sie sind allein auf sich gestellt nicht in der Lage, den Kampf von einer Politik des Protests zu einer Politik der Machteroberung zu bewegen. Dieses Konzept einer führenden Rolle der Arbeiterklasse wird heute unter progressiven und linken Kräften nicht breit akzeptiert. In einigen Zirkeln wurde diese elementare marxistische Idee verdrängt durch eine Vorstellung, dass andere soziale Gruppierungen eher in der Lage wären, zu führen. Aber wir sollten hier nichts an ideologischem Boden abtreten. Dieser Aussage möchte ich aber gleich zwei Punkte hinzufügen. Erstens, wer die Bewegung führt, wird an jedem Punkt des revolutionären Prozesses auf die Probe gestellt. Wie könnte es, bei so vielen sozialen Kräften und Trends, anders sein? Die führende Rolle der Arbeiterklasse jedenfalls wird nicht durch rhetorische Beteuerungen unsererseits gewonnen, sondern eher durch die Vitalität, mit der sie für Demokratie und Gleichheit kämpft; durch das Ausmaß, in dem sie die Interessen auch anderer Schichten verteidigt und für die Nation spricht. „Keine Klasse der zivilen Gesellschaft“, schrieb Marx „kann diese Rolle spielen, ohne einen Moment des Enthusiasmus bei sich selbst und in den Massen zu erzeugen, einen Moment, in dem sie sich mit der Gesellschaft als Ganzem verbrüdert und vermengt, mit ihr verwechselt wird und von ihr als Repräsentant wahrgenommen und anerkannt wird.“ Der zweite Punkt ist, dass die wichtigsten sozialen Kräfte, die für die Seite der Arbeiterklasse gewonnen werden müssen, die Gemeinschaften der national und rassisch Unterdrückten, der Frauen und Jugendlichen sind. Diese sozialen Kräfte sind Alliierte ebenso wie weit überwiegend Angehörige der Arbeiterklasse. Ihre Teilnahme ist ein strategisches Erfordernis in jedem Stadium des Kampfes, einschließlich des sozialistischen. Entferne irgendeine von ihnen aus der Mischung und die Aussichten, zu gewinnen, sind nicht nur getrübt, sondern verloren. Um diesen Kern herum sammeln sich diverse andere, soziale Kräfte und Bewegungen, deren Interessen sie zu Bündnispartnern machen, und zusammen bilden sie eine breite Volksbewegung.

Übergangsperioden

Es gibt zwei deutlich verschiedene Visionen im Hinblick auf die Übergänge zum Sozialismus, die man bei der Linken finden kann. Die eine stellt sich den „großen revolutionären Tag“ vor, an dem die Wirtschaft zusammenbricht, die Arbeiter sich erheben und die Macht ergreifen, Staat, Ökonomie und die zivile Gesellschaft zertrümmert werden und von oben bis unten auf einen Schlag neu aufgebaut werden und der Sozialismus dem voll ausgewachsen entspringt, wie Athene dem Kopf des Zeus. Ihr mögt denken, dies sei eine Karikatur, aber solche Ideen sind nach wie vor zu hören in der kommunistischen und linken Bewegung. Die andere Vision des Übergangs sieht den Kampf für den Sozialismus als einen längeren Prozess, der sich seinen Weg durch verschiedene Phasen bahnen muss, in denen jeweils andere Konfigurationen der streitenden Parteien und sozialen Kräfte existieren und das politische Bewusstsein der Massen sich ändert, was wiederum neue strategische Orientierungen erfordert, um sich der neuen Aufstellung der Kräfte und dem neuen Bewusstseinsniveau anzupassen. Perioden des Fortschritts weichen Perioden des Rückzugs und umgekehrt. Wechselnde Allianzen bilden sich und formen sich neu, wobei jede Seite versuchen wird, provisorische Bündnispartner in feste und stabile zu verwandeln. Neue politische Interpretationen, die Einheit, Gleichheit, Stärkung und Antikapitalismus betonen, konkurrieren mit den Vorstellungen der herrschenden Klasse, die noch den Denkrahmen von Millionen prägen, und wollen an deren Stelle treten. Und Wahlen und legislative Kampfformen verbinden sich mit anderen Formen des Massenkampfs. Wenn der Wettstreit um die Macht sich einem entscheidenden Bruch nähert, ist keine Klasse hegemonial, und die Kontrolle über Zweige des Staates wird ständig auf die Probe gestellt, da jeder Kräfteblock versuchen wird, die Initiative an sich zu reißen. Viel hängt von Aufweichungserscheinungen in den Strukturen der Gewalt, von der Lähmung, wenn nicht Spaltung, der herrschenden Kreise ab. Und in jedem Folgestadium betreten neue Millionenmassen die politische Arena. Das gerade Erläuterte war nicht immer unser Verständnis des Transformationsprozesses. Es gab eine Zeit, in der wir uns eine Verengung der Bewegung vom antimonopolistischen zum sozialistischen Stadium vorstellten. Darin gibt es ein Körnchen Wahrheit; wahrscheinlich werden einige soziale Schichten wegbrechen, wenn der Sozialismus im Morgengrauen auftaucht, aber die Bewegung insgesamt muss an Breite und Tiefe gewinnen. Sie muss immer mehr Millionen von Menschen hinter ihre Fahnen bringen, inklusive solcher, die zuvor passiv oder Teil des gegnerischen Blocks waren. Jede Vorstellung des Übergangs zum Sozialismus als einem puren Projekt nur der Arbeiterklasse oder einem exklusiven Projekt der Linken sollte verworfen werden. Nur eine Bewegung der großen Mehrheit und im Interesse der großen Mehrheit, nur eine Bewegung, deren Massencharakter sich wieder und wieder vertieft, ist fähig, den Kampf um den Sozialismus in unserem Land zu gewinnen.

Politischer Bruch

Sogar wenn es zu einem politischen Bruch kommt, wird er weder vollständig noch unumkehrbar sein. Am Tag nach einem Machtübergang wird das sozioökonomische Leben wahrscheinlich ziemlich ähnlich aussehen, wie es am Tag davor ausgesehen hat, und die politische Macht wird weiterhin umkämpft sein. So komplex der revolutionäre Prozess an jedem Punkt auch ist, er wird an Komplexität noch zunehmen, wenn die revolutionären Kräfte machtvolle Positionen im Staatsapparat halten. Unter solchen Umständen ist der Kampf der Ideen wohl wichtig, aber kein Ersatz für solide Politik und Massenmobilisierung. Dringend geboten ist die Inkraftsetzung demokratischer Maßnahmen, um die Klassenwidersacher zu schwächen und ihr Personal aus dem Staatsapparat zu entfernen, und zur gleichen Zeit wachsende demokratische und soziale Rechte für Dutzende von Millionen zu schaffen und Formen der Partizipation der Massen zu finden. Eine Revolution ist also kein Einzelakt, sondern eine Serie von Ereignissen, die sich über die Zeit vor und nach dem Gewinn der Macht erstrecken. Auch sind Revolutionen nicht kopierbar. Während es einige klare Gemeinsamkeiten gibt – die politische Macht muss aus den Händen einer Klasse in die einer anderen wandern, ökonomische und kulturelle Veränderungen müssen stattfinden, und staatliche Institutionen müssen restrukturiert werden – kann dieser Transformationsprozess in einer Variation von Wegen stattfinden. Eine Größe passt nicht allen. In der Tat, wir sollten ohne Scheu nach unserem spezifischen nationalen Weg suchen. Zum Beispiel: Angesichts der demokratischen Empfindungen der amerikanischen Bevölkerung und angesichts der massiven Wirkung von Rasse und Geschlecht in Politik, Ökonomie, Kultur, Bewusstsein und im Geschichtsverlauf unserer Nation muss unsere Vision des Sozialismus ein unnachgiebiges Bekenntnis zur Verwirklichung der nicht erfüllten demokratischen Aufgaben, die wir erben werden, beinhalten und zur Ausweitung der Demokratie, angefangen mit der Ausrottung des Rassismus und der männlichen Vorherrschaft.

Friedlicher Übergang

Ganz klar, eine Bewegung für Sozialismus sollte nach einem friedlichen Übergang suchen. Aber es reicht nicht, nur zu fordern, dass die Menschen in den Vereinigten Staaten über den sozialökonomischen Charakter unseres Landes entscheiden sollen. Unsere herrschende Klasse, wie andere herrschende Klassen, wird einen solchen Vertrag niemals unterschreiben. Solch eine Forderung muss daher nicht nur von einer aufgerüttelten, mobilisierten und vereinten Bevölkerungsmehrheit gestützt werden, sondern zugleich auch durch die Fähigkeit der sozialistischen Bewegung, ihre Positionen in den staatlichen Strukturen zu nutzen, um die repressiven Instrumente und Kräfte der herrschenden Klasse außer Gefecht zu setzen und einzudämmen. Jegliche Hoffnungen auf einen Übergang, ob friedlich oder anders, bei dem diese Arena des Kampfs umgangen werden könnte, sind eine gefährliche Täuschung. Einige deuten an, dass die Rede von einem friedlichen Übergang zum Sozialismus nichts als gefährliche Naivität sei, ein Leugnen geschichtlicher Lektionen. Aber stimmt das? Während es Beispiele gibt, in denen herrschende Klassen Gewalt angewandt haben, um sozialen Wandel zu blockieren, hat es auch schon Fälle gegeben, in denen korrupte und diskreditierte Regime hinweggefegt worden sind, ohne massenhaftes Blutvergießen. Ein friedlicher Übergang sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Er mag länger brauchen, Kompromisse erfordern und auf einem spezifischen Zusammenspiel von Umständen basieren, aber die Menschen unseres Landes werden sicher empfinden, dass Kompromisse und Verzögerungen sehr wohl in Kauf genommen werden können, wenn dadurch Blutvergießen vermieden werden kann. Das blutige Schlachten und die unnötigen Verluste von Leben im 20. Jahrhundert haben im Empfinden der menschlichen Familie eine starke Markierung hinterlassen.

Der Tag danach

Die gewohnte Sicht der kommunistischen Bewegung war, dass, nachdem die revolutionären Kräfte die Macht errungen hätten, eine relativ kurze Periode der Konsolidierung folgen würde, in der neue Formen der Volksmacht entstehen und die hoffnungslos korrupten politischen Institutionen ersetzen würden; wäre die Macht einmal gewonnen, würde sie nie wieder weggegeben. Wir nahmen auch an, dass der sozialistische Staat mehr Funktionen übernehmen würde und seine Reichweite in das soziale, kulturelle und zivile Leben ausdehnen würde, einschließlich staatlicher Kontrolle der Medien. Eine andere Annahme war, dass Marktbeziehungen schnell einer zentralisierten Planung Platz machen würden. Auch glaubten wir, dass Sozialismus sich auf gesellschaftliches Eigentum plus umfassende Planung reduzieren ließe. Schließlich, auch wenn wir es nicht immer sagten, nahmen wir doch an, dass die Partei das Ganze leiten würde. Auf jede dieser Annahmen möchte ich kurz zurückkommen, angesichts von Erfahrungen und neuen theoretischen Einsichten. So wie wir darauf bestehen, dass die herrschende Klasse sich den Wünschen der Wähler zu beugen hat, so sollten wir dasselbe nicht minder von einer linken Koalitionsregierung, die an den Wahlurnen geschlagen wird, erwarten. In der Vergangenheit akzeptierten wir dies nicht oder wir akzeptierten es nur murrend. Aber mit dem Blick nach vorn – und nicht nur aus taktischen Gründen – müssen wir ohne zu zögern sagen, dass der demokratische Wille des Volkes das Höchste ist. Jeglicher Widerstand gegen diese Idee hat sehr negative Rückwirkungen auf unsere Aussichten, eine Massenwählerschaft zu gewinnen und uns in eine Massenpartei zu verwandeln. Die US-amerikanische Bevölkerung hat gute Gründe, dagegen zu opponieren, dass die „Bill of Rights“ und die Verfassung zerrissen werden, dass das System von Kontrollinstanzen („checks and balances“) gegenüber einer zentralen Macht ausrangiert wird, bevor dann auch politische Freiheiten und Persönlichkeitsrechte gekappt werden oder die Demontage repräsentativer politischer Strukturen nachfolgt. Stattdessen werden die Menschen wollen, dass all diese Rechte ausgedehnt, vertieft und modifiziert werden zur Realisierung der unerfüllten Versprechen unserer Demokratie, neuer demokratischer Bedürfnisse und der Notwendigkeiten sozialistischen Aufbaus. Manche von euch mögen denken, dies sei im Widerspruch zu Lenins Ermahnung, dass die Arbeiterklasse „die vorgefundene Staatsmaschinerie zerbrechen und zerschlagen muss und sich nicht darauf beschränken darf, sie zu ergreifen“. Dazu würde ich argumentieren, dass neben der Notwendigkeit, die alten Strukturen der Unterdrückung und Gewalt zu zerstören, das Wichtigste ist, den Klasseninhalt der Staatsstrukturen zu verändern. Revolutionen verbinden Kontinuität mit tief gehenden Veränderungen. Heute fühlen sich Millionen Menschen dem politischen Prozess entfremdet; fast die Hälfte der Bevölkerung wählt nicht. Viele sehen die Regierung als etwas, das mit ihrem Alltag nichts zu tun hat oder ihren Sehnsüchten sogar im Wege steht. In der Überwindung dessen werden sich während des revolutionären Prozesses sehr wahrscheinlich neue populäre Einrichtungen und direkte Formen des Regierens herausbilden, die Millionen in den Kampf hineinziehen und die Macht an die Basis (die Graswurzeln) übertragen. Im Hinblick auf die Reichweite des Staates legt die Erfahrung des sozialistischen Aufbaus des 20. Jahrhunderts nahe, dass entweder Nichtregierungsorganisationen oder niedrigere Ebenen der Regierung viele der Funktionen erfüllen sollten, die seinerzeit auf der höchsten Ebene erledigt wurden. Unzweifelhaft würde die föderative Gliederung der Macht weiterhin eine substantielle Rolle spielen. Aber solch eine Macht, müssen wir zugeben, ist noch fern, jenseits der Reichweite der wirklichen Volksmassen, die die Urheber und Architekten der neuen Gesellschaft sein sollen. Der sozialistische Staat wird wie jeder Klassenstaat über Zwangsmittel verfügen, aber mit einem Unterschied: er wird zugleich unendlich demokratischer und emanzipatorischer sein als seine Vorgänger. Manche weichen der Frage einer Zwang ausübenden Seite des sozialistischen Staates aus. Aber ich würde darauf antworten: Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass die Gegner des Sozialismus ihre Niederlage gnädig akzeptieren. Daher müssen legale Maßnahmen, die die Revolution konsolidieren, in Kraft gesetzt werden, und die Polizei, das Militär und andere Unterdrückungsinstrumente werden auf unterschiedliche Weise umgebaut werden müssen. Das heißt nicht, dass Opponenten der neuen Regierung in Summa in die Gefängnisse geworfen werden oder sogar Schlimmeres. Natürlich, wenn die Opponenten des Sozialismus Gesetze brechen, sollten sie angemessene Strafen erwarten, aber ein sozialistischer Staat sollte der problematischen Idee widerstehen, dass in den Nachwehen der Revolution demokratische Rechte automatisch eher geschmälert als erweitert werden und die Tatsache akzeptieren, dass es nach einem Wechsel in der Macht ebenso gegnerische Kräfte geben wird wie in der Zeit davor. In der Tat wird im Interesse einer Konsolidierung der neuen Gesellschaft die emanzipatorische Seite des sozialistischen Staats sich stark ausdehnen, ebenso wie die politischen, ökonomischen und sozialen Rechte, und dadurch die optimalen Bedingungen für die große Mehrheit des Volkes schaffen, ein freies, sicheres und produktives Leben zu führen. Zugleich sollte der Staat sich nicht oktopusähnlich in jede Spalte des sozialen Lebens drängen. Der Raum für die Zivilgesellschaft und für Nichtregierungsorganisationen muss ausgedehnt sein und klar definiert werden. Die beiden Seiten des sozialistischen Staats, die Zwang ausübende und die emanzipatorische, sind dialektisch miteinander verbunden, doch wird die erstere, das heißt, die Zwang ausübende, die wir von der administrativen unterscheiden sollten, allmählich verschwinden. Im Unterschied zu früheren klassenbasierten Staaten, in denen die herrschende Klasse eine ausbeutende Minderheit war und expansive territoriale Ambitionen hegte, daher einen riesigen Zwangsapparat benötigte, hat ein sozialistischer Staat, der auf einem System progressiver, nicht-ausbeuterischer ökonomischer Beziehungen basiert, die Interessen der großen Mehrheit vertritt, keine imperialen Pläne verfolgt und (im Fall unseres Landes) keine auswärtigen Interventionen fürchten muss, keinen Bedarf für so einen weit verzweigten Zwangsapparat. Ein sozialistischer Staat wird sich auch auf eine Gesetzgebung stützen. Unter anderem werden individuelle Freiheiten vor Willkürhandlungen des Staates geschützt sein. Ich erwähne dies, weil solche Verletzungen in sozialistischen Gesellschaften vorgekommen sind und in einigen Fällen sehr massiv waren. Der alte E. P. Thompson schrieb ahnungsvoll: „Ich habe davon gehört, dass am Horizont neue Formen der Arbeitermacht aufsteigen, welche, gestützt auf egalitäre Produktionsbeziehungen, keine Beschränkungen erfordern und uns von den negativen Fesseln des bürgerlichen Rechts befreien können. Ein Historiker ist nicht dazu berufen, solche utopischen Entwürfe zu verkünden. Alles was er weiß ist, dass er keine Belege zu ihrer Unterstützung beisteuern kann. Er könnte den Rat geben: Beobachte diese neue Macht für ein Jahrhundert oder zwei, bevor du deine Hecken herunter schneidest.“ (Whigs and Hunters) Klingt wie ein guter Rat.

Sozialistische Ökonomie der USA

Was die Ökonomie anbelangt, ist die Hauptaufgabe, eine Verbesserung für Millionen von Menschen zu bringen, deren Leben durch Unsicherheit und Entbehrungen gekennzeichnet ist. Die Frage lautet daher: Wie sollte die Ökonomie organisiert sein, um diese Aufgabe zu erfüllen? In der Vergangenheit war die in marxistischen Kreisen vorherrschende Auffassung, dass Marktbeziehungen fast über Nacht verschwinden würden und zentrale Planung der alleinige Mechanismus sein würde, um das ökonomische Leben zu koordinieren. Viel weniger Leute unterschreiben diesen Standpunkt heute. Die Hauptfrage, die sozialistische Gesellschaften im 21. Jahrhundert beantworten müssen, ist nicht, ob Marktmechanismen eingesetzt werden sollen, sondern vielmehr, in welchem Ausmaß und für wie lange. Sicher, Marktmechanismen können in einer sozialistischen Gesellschaft Ungleichheiten, Disproportionen und Ungleichgewichte hervorrufen, destruktiven Wettbewerb, Druck auf Löhne und monopolistische Verknappung von Rohstoffmärkten – sogar die Gefahr einer kapitalistischen Restauration. Aber dies sind keine ausreichenden Gründe für die Schlussfolgerung, dass Märkte in einer sozialistischen Gesellschaft nichts zu suchen hätten. Denn Märkte können auch die rechtzeitige Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen an wechselnde Konsumentenbedürfnisse und Wünsche anpassen, die Integration neuer Technologien in den Produktionsmechanismus anspornen, vitale ökonomische Informationen für Produktionskollektive, Planungsbehörden und Verbrauchernetzwerke zutage fördern, Abwicklungskosten minimieren, Entscheidungsgrundlagen für Umstellungen verbreitern, die effizientesten Formen der Produktion stimulieren, ein rationelles Preissystem etablieren und ein Maß für die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit sein. Märkte (und das Wertgesetz) würden allerdings in einer sozialistischen Gesellschaft in einem völlig anderen Kontext wirken als in einer kapitalistischen. Sozialistisches Eigentum wäre die vorherrschende Form des Eigentums. Märkte wären sozialisiert, überwacht und reguliert durch Arbeitskollektive, Verbraucher und Regierungsinstitutionen. Ökonomische Entscheidungen würden soziale, humane und ökologische Kosten und Möglichkeiten in Rechnung stellen. Die Verteilung des Einkommens wäre viel flacher und fairer. Staatliche Institutionen würden sich der Reproduktion sozialistischer Eigentumsbeziehungen und einer robusten sozialistischen Ökonomie stärker widmen als den Interessen von Kapitaleignern, wie sie dies in einer kapitalistischen Ökonomie tun. Zugleich würden viele der Effizienzen der kapitalistischen Ökonomie weiterhin beibehalten. So wie auch einige der politischen Strukturen des Kapitalismus transformiert und mit einem neuen Inhalt versehen würden, so ginge es auch mit seinen ökonomischen Strukturen, Techniken und Buchführungsmethoden. Aber wo bleibt die Planung, fragt ihr euch wahrscheinlich. Spielt sie noch eine Rolle? Die Antwort ist, sie tut es, und zwar eine vitale Rolle. Aber wir geben zu, dass sozialistisches Planen, so wie wir es verstanden haben und wie es praktiziert wurde, einige problematische Züge hat. Im Reich der Theorie funktioniert umfassende Planung tadellos: Der Gebrauchswert steuert die Verteilung ökonomischer Ressourcen und Güter; die gesellschaftliche Produktivität schießt nach oben; Ungleichgewichte und Disproportionen verschwinden, Geld und Warenform schmelzen dahin; der Lebensstandard steigt stetig, Nachhaltigkeit wird in kurzer Zeitspanne erreicht und ökonomische Entscheidungen fallen nicht länger hinter dem Rücken der Produzierenden. In der Praxis jedoch zeigt sich ein anderes Bild: Als die Ökonomien der früheren Sowjetunion und der sozialistischen Staaten Osteuropas aus einem Stadium limitierter Vorgaben und Ergebnisse in ein Stadium hinüberwuchsen. in dem die ökonomischen Beziehungen unendlich komplexer geworden waren, stellten sich für die zentralisierte Planung große Probleme ein. Der Planungsmechanismus in diesen Ländern passte sich nur stockend den sich wandelnden Bedürfnissen der Verbraucher an, produzierte massiven Ausschuss, beförderte das Horten menschlicher und materieller Ressourcen, widerstand der Integration neuer produktiver Techniken und effizienterer Produktionsmethoden, produzierte Pfusch und unverkäufliche Güter und reduzierte die Rolle der arbeitenden Klasse auf eine passive Teilhabe am ökonomischen Leben. Die sozialistischen ökonomischen Beziehungen in diesen Ländern brachten ironischer-weise weniger eine demokratisch organisierte Weltklasse-Ökonomie hervor, sondern wurden eher zu einer Bremse im Wachstum der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Produktivität.Tatsächlich verloren die sozialistischen Länder im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts auf ökonomischem Feld an Boden gegenüber den kapitalistischen. Die kapitalistischen produzierten eine größere Bandbreite an Gütern billiger und effizienter, integrierten neue Technologien schneller und wirksamer in den Produktionsprozess, rationalisierten die Produktionsmechanismen und passten die Produktion neuen Kundenwünschen an. Der Preis, der von der Arbeiterklasse und der Umwelt dafür bezahlt wurde, war hoch, das ist sicher, aber der Kapitalismus ging nichtsdestotrotz als Gewinner aus dem Rennen. Daher müssen die Reichweite und die Methoden der Planung in einer sozialistischen Gesellschaft gründlich überprüft werden, mit einem besonderen Augenmerk dafür, neue Formen zu finden, diedemokratisch sind und passend für Ökonomien großer Komplexität, die in einem globalen Kontext operieren. Jede Vorstellung, dass Sozialismus ohne Planung auskäme, wäre allerdings ein großer Fehler. Eine der komplexesten Herausforderungen für eine sozialistische Gesellschaft wird es zum Beispiel sein, eine nachhaltige Ökonomie zustande zu bringen. Folgt man marxistischen Ökonomen und Ökologen wird dies gravierende Veränderungen in unseren Produktionsmethoden und Konsumtionsrnustern erforderlich machen. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Herausforderung ohne Planung gemeistert werden könnte, mal ganz abgesehen von anderen Herausforderungen, wie der Überwindung rassischer und sexueller Ungleichheit, der Demilitarisierung, der Revitatisierung von Städten und ländlichen Gebieten etc. Marktmechanismen können eine nützliche Rolle in der ökonomischen Koordination spielen, wie ich ausgeführt habe, aber die Umlenkung der Ökonomie entlang fundamental neuen Richtungen erfordert auch einen Plariungsprozess. Dessen eingedenk würde ich vermuten, dass eine Übergangsökonomle in unserem Lande eine gemischte Ökonomie sein wird, die verschiedene Formen sozialistischen und kooperativen Eigentums miteinander kombiniert mit klar umrissenem Raum für privates Unternehmertum. Während die demokratische Planung anfangen würde, eine entscheidende Rolle in der Organisierung des Wirtschaftslebens zu spielen, wurden Marktmechanismen in Sektoren der Volkswirtschaft wahrscheinlich viel länger weiterwirken als früher angenommen. Eine sozialistische Ökonomie würde einige Sektoren der Ökonomie dekommodifizieren (= der Warenwirtschaft entziehen). Das gilt für das Gesundheitswesen, für Ernährung, Bildung, Kinder- und Altenfürsorge ebenso wie für die Garantie eines Grundeinkommens, welches kein Ersatz für Lohneinkommen und Lohndifferenzierung sein würde (und auch nicht sein sollte), wohl aber die Armut und Bereiche unterhalb des Arheitsmarkts beschneiden würde. Mit anderen Worten. die Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft würden so weit wie möglich sozialisiert. Der Bundeshaushalt würde überholt und seine Prioritäten radikal geändert. Die Ökonomie würde demilitarisiert und restrukturiert. Ein Sozialfonds würde eingerichtet, um für rassische und sexuelle Unterdrückung und andere Ungerechtigkeiten zu entschädigen. Formen partizipatorischer Entscheidungsfindung in ökonomischen Fragen würden eingerichtet vom Arbeitsplatz und der Kommune ausgehend, nach oben. Großzügige öffentliche Subventionen würden in Kommunikation, Kultur und Bildung gelenkt. Und finanzielle Institutionen und Mechanismen würden rasch und entschieden unter öffentliche Kontrolle gestellt. Der Ubergang zu sozialisiertem Eigentum und entsprechend gesteuerten Märkten in einer globalen Ökonomie wirft einige Probleme auf, von denen jedoch keins unüherwindbar ist. Die Größe und Reichweite unserer Okonomie birgt für uns einige Vorteile, die andere Länder nicht haben. Eine dringliche Aufgabe in diesem Zusammenhang besteht in der Restrukturierung unserer ökonomischen Beziehungen zu den Ländern des Südens. Sie kann nicht auf einen Schlag erledigt werden, aber eine sozialistische Regierung müsste ihr größte Dringlichkeit einräumen.

Entwicklung des Bewusstseins

Eine andere Frage, die reflektiert werden sollte, ist, dass der Sozialismus nicht auf eine Kombination von gesellschaftlichem Eigentum, zentraler Planung und ökonomischem Wachstum reduziert werden kann. Sozialismus muss gewiss die Eigentumsfrage klären und die Ökonomie auf einen Wachstumspfad bringen, das ist sicher, aber die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft ist komplexer und auch ein Bewusstseinsprozess Formelle sozialistische Beziehungen der Produktion, des Regierens, der Kultur und so weiter bilden sich nicht einfach aus dem Wachstum der sozialistischen Produktivkräfte und dem Vorhandensein einer zentralen Planung von selbst heraus. Lenin schrieb “. . . Sozialismus kann nicht allein auf Okonomie reduziert werden. Ein Fundament — sozialistische Produktion — ist wesentlich für die Abschaffung der nationalen Unterdrückung, aber dieses Fundament muss auch einen demokratisch organisierten Staat tragen, eine demokratische Armee etc. Mit der Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus schafft das Proletariat die Möglichkeit, nationale Unterdrückung zu beseitigen; die Möglichkeit wird Wirklichkeit nur, nur!, mit der Herstellung voller Demokratie in allen Sphären.“ (Die Diskussion über Selbstbestimmung zusammengefasst) Folglich sind sozialistische Produktion und ökonomisches Wachstum nicht mehr als das strukturelle Fundament des Sozialismus. Während sie die Möglichkeit für sein volles Auf-blühen schaffen, beruht die Realisierung dieser Möglichkeit letztendlich auf der bewussten Aktivität der Millionen, auf der Fähigkeit der Gesellschaft, die Springquellen von Demokratie und menschlicher Freiheit für jedermann zu öffnen, auf der Fähigkeit der Erbauer des Sozialismus — der arbeitenden Menschen — von Zeit zu Zeit die sozialistischen Beziehungen zu rekonstituieren und zu verändern, sodass sie mit neuen Bedingungen, Möglichkeiten und Bedürfnissen Schritt halten. Schließlich, zur Rolle der Kommunisten: Unsere Mission ist nicht, das „Schiff des Staates zu steuern“. Diese Aufgabe liegt in der Verantwortung einer breiteren linken Koalition und der breitestmöglichen Sektoren der Bevölkerung. Kommunisten sollten gewiss ein Teil dieses gewaltigen Unterfangens sein, aber sich nicht vordrängen oder auf irgendeiner Ebene der sozialistischen Gesellschaft versuchen, die Teilnahme der Massen zu ersetzen. Unsere prinzipielle Rolle ist es, die Aktivität und Organisation der Menschen zu ermutigen, unsere Verbindungen zu den wichtigsten Organisationen der arbeitenden Bevölkerung zu vertiefen und auszudehnen, rechtzeitige Lösungen für drückende Probleme zu finden, einen kreativen und kritischen Marxismus den Millionen, die die neue Gesellschaft bauen, nahe zu bringen und völliges Vertrauen m die kreativen Fähigkeiten und Wünsche der Millionen Erbauer einer sozialistischen Gesellschaft zu empfinden und, bei allem was wir tun, an andere zu vermitteln. Das war nicht die Praxis der Parteien in den früheren sozialistischen Ländern. Moshe Lewin, ein angesehener Historiker, schreibt in seinem letzten Buch, Das sowjetische Jahrhundert, dass die KPdSU nicht den Staat absorbiert habe, sondern es umgekehrt gewesen sei — der Staat habe die KPdSU absorbiert. Das ist eine provozierende Hypothese, die die Diskussion und das Studium befruchten sollte. Für unseren Zweck mag genügen, dass Lewin weitgehend Recht hat, wenn er sagt, dass die sowjetische Partei beim Verwalten des Staatsapparats eine größer und größer werdende Rolle an sich gezogen hat. Das Besetzen aller wichtigen Positionen im Staatsapparat. das Ausgeben von Appellen, die sich nicht in der alltäglichen Praxis und Politik widerspiegelten, das Management einer Ökonomie, die hinter Weltstandards her-hinkte, das Monopolisieren des Entscheidungsfindungsprozesses in allen Bereichen des sozialen Lebens und das Genießen von Privilegien und nicht erarbeitetem Einkommen — all dies fügte der politischen und moralischen Autorität der Partei enormen Schaden zu und untergruh jeden Sinn der Eigentümerschaft der sowjetischen Menschen an ihrer Ökonomie und Gesellschaft. Ist es da noch verwunderlich, dass Millionen das Vertrauen in die sowjetischen Kommunisten und in den Sozialismus verloren? Überrascht es noch, dass tausende Kommunisten sich an der Plünderung des staatlichen Vermögens beteiligten? Ist es so Aufsehen erregend, dass es 1991 so wenige Verteidiger des Sozialismus gegeben hat? Offenbar gibt es hier eine Lektion zu studieren, während wir weiter vorwärts gehen. Übersetzung: Beate Landefeld

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