Kein fest verschürtes Bündel mehr

Transhistorische Verknüpfungen zwischen sozialen Rechten und Nationalstaat

Der globalisierte Kapitalismus ist eine neue Ära der geschichtlichen Entwicklung, der sich von den vorangegangenen durch eine völlig eigene Funktionsordnung und einen "Weltmaßstab" auszeichnet, wie er bisher nicht bestanden hat. Im Folgenden will ich dem Ansatz von Saskia Sassen folgen und die transnationalen historischen Entwicklungen aufzeigen, an die die gegenwärtigen Veränderungen anschließen. Anschließend werde ich ihre Überlegungen zu den Veränderungen, die den mit der Staatsbürgerschaft verknüpften Rechten aktuell widerfährt, mit dem Diskurs über globale soziale Rechte verbinden.

"Das Neue ist unordentlich, stärker vorgeprägt und von älterer Abstammung, als es die eindrucksvollen neuen globalen Institutionen und Globalisierungspotenziale vermuten lassen", so Sassen. (S.22). Wachsende Interdependenz, die Herausbildung globaler Institutionen, der Niedergang des Nationalstaats, die Macht der transnationalen Unternehmen oder der neuen Telekommunikationstechnologien, all diese Begriffe mögen "eine Beschreibung der Globalisierung aus(machen), aber keine Erklärung". Sassen geht es also darum, "sowohl das Nationale als auch das Globale als konstruierte Verhältnisse zu historisieren". Dazu wählt sie drei "transhistorische Komponenten": das Territorium, die Autorität und die Rechte.

Historische Situationen können verschiedenste, auch widersprüchliche Potenziale enthalten. Welche sich wie durchsetzen, hängt stark vom Gesamtrahmen ab, der "Organisationslogik", wie Sassen dies nennt. Von diesen betrachtet sie drei innerhalb unterschiedlicher historischer Weltmaßstäbe: "die zentrifugalen Maßstäblichkeiten des Spätmittelalters, die von verschiedenen normativen Ordnungen zusammengehalten wurden; der zentripetale Maßstab des modernen Nationalstaats, der von einer einzigen dominierenden Normativität gekennzeichnet ist; und die zentrifugalen Maßstäbe des Globalen, die diese dominierende Normativität in mehrere normative Teilordnungen zerfallen lassen und dadurch die Frage nach ihrer Zukunftsfähigkeit offen lassen" (S. 32). Solche Organisationslogiken haben nicht nur widersprüchliche Potenziale gesellschaftlicher Entwicklung gebündelt und aus älteren Systemen übernommen, sondern ihnen auch eine neue Richtung aufgezwungen.

Sassen verdeutlicht, wie das, was heute ist, historisch geworden ist und wie dabei Potenziale genutzt wurden, die ursprünglich etwas völlig Anderes darstellten. Auf diese Weise entsteht die Chance, heutige Verhältnisse daraufhin anzuschauen, welche zukünftigen Ordnungslogiken sich in ihnen andeuten könnten. Wir lernen so, aktuelle Zustände aus ihrer möglichen Zukunft heraus zu deuten und nicht aus ihrer Vergangenheit. Das wiederum ermöglicht es, ihre Überwindung anders zu denken als ein Zurück zu den Regulierungen von gestern, wie es im globalisierungskritischen Diskurs ja vielfach üblich ist.

Papst, Fürsten, Städte - Autoritäten ohne festen Ort

Das Mittelalter kannte keinen klaren Zusammenhang von Territorium und Autorität. Kaiser, Papst, Fürsten, Städte, Zünfte hatten sich manchmal durchaus widersprechende Ansprüche an die z.T. gleichen Personen am gleichen Ort. In wechselnden Konstellationen versuchten sie sich durchzusetzen, dabei hatten allein die Könige in der Ile de France ein einheitliches Territorium mit fester Autorität geschaffen. Das konnten sie verteidigen, weil sie die schwächsten der rivalisierenden Konkurrenten waren, deren Bekämpfung für niemanden im Vordergrund stand. Ihr Modell des Nationalstaats mit festem Territorium und einheitlicher Autorität erscheint uns heute als sozusagen natürlich (S. 82f.).

Auch die meisten mittelalterlichen Städte waren keineswegs mächtig und durchsetzungsfähig. Oft gingen Menschen aus von Fürsten beherrschten Festungsorten weg, um neue Städte zu gründen und verloren alle traditionellen Rechte und Partizipationsmöglichkeiten. Als "potenzieller Bündnispartner für die eine oder andere Seite"(S. 104) spielten sie dennoch eine Rolle und stärkten sich durch beschworene Verträge (was streng verboten war) gegenseitig. Obwohl sie "weder formal noch nach dem Gewohnheitsrecht Ansprüche hatten, hielt sie nichts davon ab, die willkürliche Machtausübung durch den Adel, die Könige oder die Kirche anzufechten. Die Praktiken der Ausgeschlossenen sind, das wird hier sichtbar, ein Faktor, wenn es darum geht, Geschichte zu machen." (S. 130)

Sassen wird darauf zurückkommen, wenn sie die Netzwerke globalisierungskritischer Gruppen, migrantischer Selbsthilfe, indigener Organisationen oder am gleichen Thema jeweils lokal kämpfender Akteure als wesentliches Element einer möglichen neuen Organisationslogik des Politischen darstellt. Für sie sind "die Armen - diejenigen also, die nicht reisen können - Teil der globalen Zivilgesellschaft". Diese versteht sie als "umstrittenen Raum" zwischen der "Logik des Kapitalmarkts" und "derjenigen des Menschenrechtsregimes" (S. 509).

Dabei sind beide Logiken zwar jeweils auf die moderne digitale Technik angewiesen, sind aber keinesfalls einfach nur ihr Produkt. Im globalen Finanzmarkt fließt keinerlei Geld, alle Kapitalbewegungen sind rein elektronisch. Und auch MenschenrechtsaktivistInnen vernetzen sich digital, ohne dass sie dazu gleichzeitig am gleichen Ort sein müssen. Lokale Probleme können so als weltweite wahrnehmbar werden, etwa wenn Indigene die Zerstörung ihrer Lebensbedingungen anklagen. Manche Oppositionsbewegung setzt sogar überwiegend auf das Internet. Zwar gibt es ein Machtgefälle zwischen Finanzmärkten und Globalisierungskritik, aber dennoch stellt die internationale Zivilgesellschaft "einen Raum dar, in dem andere Akteure als Individuen und Kollektive Sichtbarkeit erlangen und aus der Unsichtbarkeit einer Kollektivzugehörigkeit zu einem ausschließlich durch den Souverän verkörperten Nationalstaat heraustreten können" (S. 509).

In diesem umstrittenen Raum geht es also um die Durchsetzung und Sicherung tatsächlicher und formaler Rechte und damit um das, was in der Vergangenheit mit der Institution der Staatsbürgerschaft fest an den Nationalstaat gebunden war. Rechte und Nationalstaat haben sich zwar "historisch als fest verschnürtes Bündel", aber dennoch "von häufig recht unterschiedlichen Elementen entwickelt" (S. 442). Es gilt also, dieses Bündel zu öffnen und die Bestandteile zu betrachten.

Transnationale emotionale Bindungen

Diesbezüglich wird ebenso auf eine entstehende EU-Staatsbürgerschaft hingewiesen wie auf die Entwicklung transnationaler migrantischer Gemeinschaften. Grenz- und nationalitätsüberschreitende emotionale Bindungen, die oft solche im Rahmen der Nationalstaaten angesiedelten überlagern, werden erwähnt und auch ein aus humanitären Überzeugungen gespeistes "Solidaritäts- und Identifikationsgefühl" (S. 460f.) - soll heißen, die Menschen kämpfen weltweit für die gleiche Sache. Die Autorin untersucht drei Aspekte, in denen sich die Entstehung von neuen Rechtssubjekten fassen lässt (S. 463). Erstens sind es die Praktiken der Ausgeschlossenen selbst, die Rechte praktisch in Anspruch nehmen, die in der Vergangenheit nur der Nationalstaat gewährte, auch wenn diese heute meist noch nicht formalisiert sind. Zweitens haben die Nationalstaaten selbst Rechte auf NichtstaatsbürgerInnen ausgeweitet, sowohl als Wirtschaftssubjekte wie InvestorInnen oder ArbeitnehmerInnen wie als WohnbürgerInnen, ob mit oder ohne legalen Status. Drittens sichern die nationalen Wettbewerbsstaaten auch ihren eigenen BürgerInnen keineswegs mehr all die Ansprüche, die diese zu einem guten Leben haben wollen.

Dabei betont Sassen besonders, dass "wir auf entscheidende Fälle (stoßen), in denen gerade die Außenseiterposition dieser verschiedenen Gruppen jene Praktiken und Kämpfe hervorgebracht hat, durch die Veränderungen in der formalen Institution der Staatsbürgerschaft selbst erzwungen wurden" (S. 466). Eines der extremsten Beispiele sei der einer Staatsbürgerschaft recht ähnliche Zustand, der durch "den informellen Gesellschaftsvertrag, der Immigranten ohne gültige Papiere an die Gemeinschaften ihres Aufenthaltsortes bindet", entsteht (S. 469).

Ein anderes Beispiel ist das Agieren von Frauen: Von japanische Hausfrauen etwa wird erwartet, dass sie politisch abstinent sind. Halten sie sich daran, gewinnen sie in bestimmten Bereichen eine besondere Glaubwürdigkeit: Sassen zitiert eine Studie, nach der ihre "Bewertung eines politischen Kandidaten" auf kommunaler Ebene als besonders "vertrauenswürdig (gilt), gerade weil sie eine Hausfrau ist, sie kann Netzwerke mit anderen Hausfrauen aufbauen, und ihr Image steht für ein erstrebenswertes öffentliches Interesse und für eine kraftvolle - weil glaubwürdige - Kritik der Mainstream-Politik" (S. 473). Für lateinamerikanische Frauen "war es gerade ihre Stellung als Mütter, die ihnen die Klarheit und den Mut verlieh, Gerechtigkeit und Brot zu fordern, und in gewisser Weise schützte diese Stellung sie vor den Angriffen der bewaffneten Soldaten und Polizisten" (S. 473f.).

Weil aber "die Aufgabe, die von den betroffenen Gruppen erkämpften Inklusionen zu formalisieren", bei "Gesetzgebung und Gerichten" liegt, wird "die Rolle jener, die mit der Forderung an die Öffentlichkeit getreten sind, im Ergebnis unkenntlich" gemacht (S. 466). Damit befindet sie sich mitten im Diskurs um globale soziale Rechte, wie er sich auch hierzulande in den letzten Jahren in der globalisierungskritischen Bewegung entwickelt hat.

StaatsbürgerIn aufgrund revolutionärer Praxis?

Die Diskussion um die Autonomie der Migration und die Legalisierungsforderung hat deutlich gemacht, wie Rechte erst nach ihrer tatsächlichen Aneignung eingefordert werden können. Ich habe an anderer Stelle versucht darzulegen (1), dass genau darin ein Konzept Globaler Sozialer Rechte über das traditionelle Menschenrechtsverständnis hinausgeht. Medico International hatte schon 2003 in seinen Thesen über weltbürgerliche Solidarität (2) ausgeführt, dass sich "im Zusammenhang informeller und sozialer Arbeit (...) eine solidarische Ökonomie" und eine "Demokratisierung der Arbeitsteilung" abzeichnen. Diese müsse "auch die zahllosen familialen oder kommunitären Netze gegenseitiger Hilfe einbeziehen, die - oft in Verbindung mit Migrationsbewegungen - die soziale Basis der Informalität bilden. Hierzu gehören auch die ebenfalls stark expandierenden gemeinwesenorientierten Formen parastaatlich oder privat organisierter sozialer Arbeit einschließlich der humanitärer Organisationen."

Auf genau diese Akteure und Praxen bezieht sich Saskia Sassen und knüpft damit indirekt und ohne es zu erwähnen an eine noch ältere Diskussion an. In der französischen Revolution kamen die Bürger, anders als vorher in England, mit dem Gestus an die Macht, die ganze Nation zu sein und das Allgemeinwohl darzustellen. Das spiegelt sich in den Debatten um das Staatsbürgerschaftsrecht. In der Verfassung von 1793 wird keine Staatsangehörigkeit definiert, sondern lediglich festgelegt, wer "zur Ausübung der Rechte eines französischen Bürgers zugelassen" ist. Das ist neben jedem in Frankreich Geborenen auch wer "in Frankreich seit einem Jahre ansässig ist und dort von seiner Arbeit lebt oder ein Besitztum erwirbt oder eine Französin geheiratet hat oder ein Kind annimmt oder einen Greis ernährt" sowie "jeder Ausländer endlich, von dem die gesetzgebende Körperschaft erklärt, dass er sich um die Menschheit besonders verdient gemacht hat". Neben das Geburtsrecht tritt der Besitz, aber auch die menschenrechtliche und revolutionäre Praxis. Dass sich dieses Potenzial nicht durchgesetzt hat, weil es nicht in die Organisationslogik des Nationalstaates passte, ist kein Beweis dafür, dass es nicht in aktuelle Veränderungsprozesse eingehen könnte.

Sassen ermutigt zu einer Sicht, die das Neue denkbar macht. Sie zeigt anschaulich, dass alles Gesellschaftliche historisch ist, und gibt Hilfestellungen, um die Potenziale zu erkennen, die bei der Etablierung neuer Organisationslogiken des Gesellschaftlichen hilfreich sein können. Das Buch ist damit im Kampf um Globale Soziale Rechte eine unverzichtbare Ermutigung.

Werner Rätz

Saskia Sassen: Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter. Suhrkamp, Frankfurt 2008. 735 Seiten, 36,80 EUR

Anmerkungen:

1) siehe hierzu Roland Klautke u. Brigitte Oehrlein: Globale Soziale Rechte. VSA-Verlag, Hamburg 2008 (im Erscheinen)

2) sandimgetriebe.attac.at/733.html

aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 530/15.8.2008