Am 1. Oktober 1949 wehen tausende rote Fahnen auf dem Platz des
Himmlischen Friedens in Peking. Zehntausende jubeln Mao Zedong zu, als
er dort die Volksrepublik China ausruft. Seine Revolution hat gesiegt
und China vom Joch der kolonialen Unterdrückung befreit. Die chinesische Revolution war eine der ersten erfolgreichen nationalen
Befreiungsbewegungen und inspirierte Antiimperialisten in vielen Teilen
der Welt. Im Zentrum der Bewegung standen die Kommunistische Partei
Chinas (KPCh) und ihr charismatischer Vorsitzender Mao Zedong.
Die KPCh hatte sich in den 30er und 40er Jahren eine Massenbasis unter
den Bauern aufgebaut. Sie organisierte erfolgreich bewaffneten
Guerilla-Widerstand gegen Fremdherrschaft, zuerst gegen die Engländer,
dann gegen die Japaner. Schätzungsweise 1,5 Millionen Soldaten kämpften
in der Roten Armee, unterstützt von bis zu 2 Millionen Milizionären.
Die große Mehrheit der 500 Millionen Menschen in China befürwortete die
Revolution. Die Kommunisten versprachen Frieden und ein besseres Leben
für alle.
Trotzdem war dies keine sozialistische Revolution. Als die Rote Armee
durch die Städte zog, versammelten sich die Arbeiter zwar, um sie zu
begrüßen und zu winken. Aber die Arbeiterklasse spielte keine aktive
Rolle im Kampf gegen die imperialistische Besatzung.
Im Gegenteil: Die Kommunistische Partei Chinas war vollständig von der
Arbeiterklasse getrennt. Die Führer der KPCh taten alles, was in ihrer
Macht lag, um Aufstände in den Städten am Vorabend ihrer Eroberung
durch die Rote Armee zu verhindern.
Kurz vor der Eroberung Shanghais beispielsweise gab Mao eine
Sondererklärung heraus, in der es unter anderem hieß: „Wir hoffen, dass
die Arbeiter und die Angestellten aller Industriezweige weiter arbeiten
und dass das Geschäftsleben seinen gewöhnlichen Gang nimmt (...)."
Beamte, Staatsangestellte und Polizeipersonal „sollen auf ihrem Posten
bleiben und den Befehlen der Volksbefreiungsarmee der Volksregierung
Folge leisten."
Die Arbeiterklasse gehorchte und blieb weitgehend tatenlos. Ein Bericht
aus Nanking vom 22. April 1949, zwei Tage bevor die Stadt von der
Volksbefreiungsarmee besetzt wurde, umreißt die Situation
folgendermaßen: „Die Bevölkerung von Nanking zeigt keine besonderen
Anzeichen der Aufregung. Neugierige Mengen versammelten sich heute
morgen an der Flussmauer, um das Schieß-Duell auf der anderen Seite des
Flusses zu beobachten. Das Geschäftsleben läuft wie gewöhnlich. Einige
Geschäfte sind geschlossen, aber das ist auf mangelnde Nachfrage
zurückzuführen (...) die Kinos haben immer noch volles Haus."
Dort, wo Arbeiter trotzdem Fabriken unter ihre Kontrolle brachten,
wurden diese nach dem Einmarsch der Roten Armee wieder an die
Geschäftsleitung übergeben. Dieser Verlauf der Revolution bestimmte
auch den Charakter des neuen Staates. Zwar war die KPCh mit der
Bevölkerung verbunden, aber sie war nicht demokratischer als die alte
herrschende Klasse. Es gab keine Wahlen, die Arbeiter kontrollierten
nicht die Fabriken und die Bauern nicht die Dörfer.
Der neue Staat war eben keine Arbeiterrepublik, sondern angeblich eine
Volksrepublik. Laut der Verfassung der Volksrepublik China von 1949
waren auch die Unternehmer Teil des Volkes.
Im Interesse der nationalen Einheit und der Machtstellung der Partei
wurde der Übergang zur vollständigen Verstaatlichung des Privatbesitzes
an Produktionsmittel hinausgezögert. Der damalige Minister für
Schwerindustrie Chen Yun versicherte 1950: „In China, dessen Industrie
rückständig ist, wird es ein Fortschritt sein und dem Land und dem Volk
zugute kommen, wenn die nationalen Kapitalisten die Industrie
entwickeln und lange Zeit dort ihre Investitionen tätigen".
In diesem Rahmen sahen die Kommunisten die Selbstaktivität der Masse
der Arbeiter und Bauern als eine Bedrohung an. Deswegen waren auch die
neu eingeführten Staatsgewerkschaften keine wirklichen
Verteidigungsinstrumente der Arbeiterklasse. Sie waren eher der
verlängerte Arm der KPCh-Führung, um ihre Vision der Industrialisierung
Chinas durchzusetzen. In einem Erlass der Regierung vom 10. Mai 1953
heißt es, die Aufgabe der Gewerkschaften sei es, „(...) die Arbeiter
dazu zu erziehen, dass sie die Gesetze und Erlasse des Staates
gewissenhaft befolgen, für die Entwicklung der Produktion kämpfen sowie
für die beständige Steigerung der Arbeitsproduktivität und die
Erfüllung beziehungsweise Überfüllung der Produktionspläne des Staates."
In diesem Sinne wurden unter dem Druck, die Industrialisierung des
Landes voranzutreiben, Sondergerichte organisiert, um mit
Gefängnisstrafen gegen Wirtschaftsverbrechen vorzugehen. Zu diesen
„Verbrechen" zählten: Fahrlässigkeit, dauerndes Fehlen am Arbeitsplatz,
unsachgemäße Behandlung von Material oder Nicht-Beachtung von
Vorschriften.
Dennoch gab es Anfang der 50er Jahre eine wirkliche Verbesserung des
Lebensstandards der meisten Chinesen. Die Rote Armee brach die Macht
der Großgrundbesitzer auf dem Land. Die neue Regierung brachte die
Inflation und die hohe Arbeitslosigkeit unter Kontrolle. Das 1952
verabschiedete Gesetz zur Hochzeit beendete die absolute Kontrolle des
Mannes über das Leben der Frau. Auch im Schulwesen gab es
fortschrittliche Reformen.
Doch die Pläne der KPCh waren ehrgeiziger. Im Eiltempo sollte sich
China in eine moderne Großmacht verwandeln. Das Ziel einer
eigenständigen nationalen Entwicklung verband die alten Beamten,
Kapitalisten und Armeeoffiziere mit der Parteimaschine der KPCh. Mit
Sozialismus von unten hatte der Aufbau der Volksrepublik China deswegen
nichts zu tun. Die chinesische Revolution war eine erfolgreiche
nationale Befreiungsbewegung, geführt von einer Guerillaarmee von
Berufssoldaten. Die fehlende Selbstaktivität der Arbeiter gegen
japanische Aggressoren und chinesische Nationalisten verhinderte, dass
den Arbeitern eine führende Rolle beim Aufbau einer sozialistischen
Gesellschaft zukam. Die Partei wurde zum Stellvertreter sozialistischer
Politik und stieg schnell zur politischen Elite des Landes auf (siehe
Hintergrund: „Die Wandlung der KP").
Industrialisierung statt Arbeiterrepublik
Die langen Jahre der kolonialen Besatzung und des Kampfes hatten zur
Folge, dass China im Jahre 1949 ein rückständiges Entwicklungsland war.
65 Prozent des Bruttoproduktionswertes stammten aus der Landwirtschaft.
Nur 4 Millionen der damals 500 Millionen Chinesen waren in der
Industrie tätig. Das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen
betrug 54 US-Dollar gegenüber beispielsweise 6000 US-Dollar in
Großbritannien.
Außerdem hatte der langjährige Bürgerkrieg nicht nur die bestehende
Infrastruktur weitgehend zerstört, sondern auch die Möglichkeiten zur
Befriedigung grundlegender gesellschaftlicher Bedürfnisse gelähmt. Das
Gesundheits- und Bildungswesen waren unterentwickelt. Die
Lebenserwartung wurde auf durchschnittlich 28 Jahre geschätzt, die
Analphabetenquote lag bei 80 bis 85 Prozent.
Unter diesen Bedingungen trieb die KPCh den Aufbau einer industriellen
Basis um jeden Preis voran. Die Akkumulation (Anhäufung) von Kapital,
die Marx als einen wichtigen Charakterzug des Kapitalismus erkannt
hatte, war in China nun ironischerweise das zentrale Ziel der
Wirtschaftspolitik der Kommunisten. Die Produktion für die Bedürfnisse
der Menschen kam an zweiter Stelle.
Doch es herrschte eine große Kluft zwischen den Vorstellungen der KPCh
zur wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und den verfügbaren materiellen
Ressourcen. Mao versuchte, diesen Konflikt in voluntaristischer Weise
zu lösen. Fehlendes Kapital und materielle Ressourcen sollten durch
harte Arbeit und übermenschliche Anstrengungen der Bevölkerung ersetzt
werden.
1958 rief Mao Zedong den „Großen Sprung nach vorn" aus. Unter der
Parole „Unter Anspannung aller Kräfte immer vorwärts strebend, mehr,
schneller, besser und wirtschaftlicher den Sozialismus aufbauen" sollte
die Stahlproduktion verdoppelt und Großbritannien in den nächsten 15
Jahren hinsichtlich der Produktion der wichtigsten Waren überholt
werden. So wurden 1958 alle Bauern in den so genannten Volkskommunen
zusammengefasst. In ganz China gab es 24.000 Volkskommunen, in denen
jeweils etwa 20.000 Menschen arbeiteten. Das ganze Land und andere
Produktionsmittel wie Vieh und Pflüge wurden zum Gemeineigentum der
Kommune erklärt. Neben dem landwirtschaftlichen Betrieb sollten die
Kommunen industrielle Unternehmen sowie Erziehungs- und andere soziale
Einrichtungen wie Schulen, Kinderkrippen und Krankenhäuser besitzen und
leiten.
Die Kommunen waren jedoch nicht demokratisch, sondern militärisch
organisiert. Die Arbeitskräfte wurden zentral verwaltet und in
Arbeitsbrigaden eingeteilt. Die Kommunenleitung gab Anweisungen an die
Arbeitsbrigaden, die ihrerseits wieder in verschiedene
Produktionsgruppen unterteilt wurden. Die Bauern wurden gezwungen, rund
um die Uhr zu arbeiten.
Trotzdem scheiterte der „Große Sprung nach vorn" an seinen
unrealistischen Zielen. Die Antwort waren neue unrealistische Ziele,
das Ergebnis eine Katastrophe. Manche Volkskommunen griffen zu
Notmaßnahmen, um die ihnen gesetzten hoch gesteckten Ziele zu erfüllen.
In Nacht-und-Nebel-Aktionen demontierte man Eisenbahnschienen, die
eingeschmolzen wurden, um die Qualität des produzierten Stahls zu heben.
Neben den katastrophalen Auswirkungen auf die Infrastruktur führte die
übertriebene Stahlproduktion auch zu einem extremen Mangel an
Arbeitskräften auf dem Land. Nur 40 Prozent der Bauern befanden sich
auf den Feldern. Bei Wintereinbruch stand nicht genug warme Kleidung
zur Verfügung, so dass viele Produktionsbrigaden nicht mehr auf den
Feldern arbeiten konnten. Zudem hatte die Überbetonung der
Stahlproduktion die Volkswirtschaft so geschwächt, dass die geringer
werdenden Erntemengen der folgenden Jahre nicht durch andere Waren
ausgeglichen werden konnten.
Der „Große Sprung nach vorn" führte zu einer fürchterlichen von der
Regierung selbst verursachten Hungersnot. Bis 1962 verhungerten
schätzungsweise 30 Millionen Menschen. In manchen ländlichen Gebieten
starben bis zu 40 Prozent der Bevölkerung. Millionen ernährten sich in
ihrer Verzweifelung von Gras, Blättern oder Baumrinde.
China verlor bis 1962 wieder nahezu allen Wirtschaftszuwachs, den es
zuvor erreicht hatte. Die Folge waren schwere ökonomische Schäden. Doch
nicht nur die Produktion brach ein, sondern auch der Lebensstandard
breiter Bevölkerungsschichten sank rapide ab.
Von Mao zu Deng
Als die Zerstörung und das Chaos des „Großen Sprungs nach vorn"
sichtbar wurden, wandte sich die Mehrheit der herrschenden Klasse in
China gegen Mao. Mao Zedong wurde von seinen Kollegen in der
chinesischen Führung getadelt und verlor einen großen Teil seiner
Macht. Hinter den Kulissen der politischen Bühne tobte jetzt ein
erbitterter Machtkampf um die wirtschaftspolitische Strategie.
Ab 1966 versuchte Mao mit der „Großen Proletarischen Kulturrevolution"
seine Macht gegenüber realen und vermeintlichen Gegnern in der
kommunistischen Partei zu behaupten. Getragen von hunderttausenden
Studenten und Schülern stürzte die Kulturrevolution China erneut in
einen blutigen Bürgerkrieg. Die Auswirkungen der Kulturrevolution
stellten sich als drastischer heraus, als Mao es beabsichtigt hatte.
Die Zustände von Anarchie und Gewalt zwangen Mao schließlich zum
Eingreifen und er beauftragte die Rote Armee mit der Wiederherstellung
der Ordnung.
Am Ende des fast 10 Jahre andauernden Konflikts stand die KPCh erneut
vor einen Scherbenhaufen. Das Ergebnis war die schwerste
Wirtschaftskrise seit 1961. Die Wachstumsraten für die Wirtschaft
gingen in vielen Bereichen zurück und erreichten 1976 einen Tiefstand.
Stagnierender Lebensstandard, Wohnungsknappheit und Engpässe in vielen
Bereichen des täglichen Lebens waren die Folgen. Erst nach Maos Tod
1976 setzte eine neue Wirtschaftspolitik ein. Vor dem Hintergrund der
Weltwirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre setzte Deng Xiaoping 1978
eine Öffnung der Wirtschaft für ausländisches Kapital durch. Damit
einher ging die Privatisierung einiger ehemaliger Staatsbetriebe und
die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die wirtschaftspolitische
Strategie der KPCh enormen Schwankungen unterworfen war und zwischen
zögerlicher Privatisierung und absoluter Kollektivierung sowie
Verstaatlichung wie zwischen zwei Polen hin- und hergezogen wurde.
Dabei engten die objektiven ökonomischen Bedingungen Chinas den
Spielraum für die politische Führung massiv ein. Der britische Marxist
Tony Cliff beschrieb die enormen ökonomischen
Entwicklungsschwierigkeiten Chinas mit einem Querverweis auf Russland:
„Stalin versuchte, Russland an den Stiefelriemen industriell und
militärisch emporzuziehen, Mao versuchte dasselbe mit einem Land ohne
Stiefel und Riemen". Ihren politischen Ausdruck fanden diese
ökonomischen Probleme in halsbrecherischen Kampagnen und der
zunehmenden Loslösung von der sowjetischen Bevormundung bis hin zum
vollständigen Bruch.
Das heutige Wirtschaftswachstum ist das Ergebnis einer brutalen
Industrialisierung, die auf den Rücken von Millionen Arbeitern und
Bauern betrieben wurde. Die Grundlage dafür lieferten die ökonomischen
Reformen Deng Xiaopings Ende der 70er Jahre. Mit Sozialismus hat diese
Entwicklung nichts zu tun, sie ist vielmehr die Folge der nationalen
Entwicklung Chinas.
Zur Autorin:
Ulrike Eifler ist Landesvorsitzende der LINKEN in Hessen. Sie hat
Politologie und Sinologie an der Universität Marburg studiert. Letztes
Jahr erschien ihr Buch "Neoliberale Globalisierung und die
Arbeiterbewegung in China" (Ibidem 2007).
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