Schriften politisieren

in (03.09.2008)
Buchstaben sind die kleinste Form des (Grafik-)Designs. Schriftgestaltung erlebte im Neoliberalismus durch das Aufkommen der Corporate Identity (Logos etc.), die Mitte der Neunziger sogar öffentliche Institutionen flächendeckend erreichte, eine Überbewertung. Immer mehr wurde auf diese kleinsten ästhetischen Zeichen Wert gelegt. Die „Schriftindustrie“ wirbt mit Slogans wie „Sprache wird durch Schrift erst schön“. Endverbraucher entscheiden sich am Computer aus dem Gefühl heraus für eine als „schön“ empfundene Schrift, z. B. für die Arial oder die Times, ohne die Geschichte von deren Entstehung und Gebrauch zu kennen.

Die Sprache macht Schrift schön. „Die formelle Dimension der Sprache“, schreibt Leonor Arfuch, „ihre semiotische Kraft, ihre unendlichen syntaktischen Möglichkeiten, ihr diskursiver Reichtum“ weisen uns den Weg. Das historisch gewachsene (und designte) Zeichen eines Buchstaben bildet ein Wort, dessen semantische Bedeutung wiederum als Zeichen dient, aus welcher der/die GestalterIn nochmals eine Botschaft bildet. Wenn der/die EmpfängerIn wiederum aktiv wird, wird er/sie selber zum neuen Signifikanten, zum Subjekt der Geschichte, zum/zur BotschafterIn der Veränderung. Dies steht im Gegensatz zum Text in der Werbung, wo der semiotische Prozess eine Einbahn- und Sackgasse ist – „The medium is the message“ (Marshall MacLuhan) –
und wo nur das Zeichen des Signifikanten im Kopf zurückbleibt.
Die einzelnen Buchstaben sind schön, aber viel stärker ist der Text – und verändernd ist der Kontext. Das Bezeichnen ist dann Politisch, wenn der/die GestalterIn sich nie aus diesem Prozess ausschließt und EmpfängerIn seiner/ihrer eigenen Botschaft wird. Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein von zwei weiteren Signifikanten: dem/der AuftraggeberIn, der/die sich dieses semiotischen Prozesses bewusst ist; und der/die dann, zusammen mit dem/der GestalterIn, das Politische als weiteren Signifikanten, als Ursache des Handelns betrachtet.

Seit Jahren sind wir auf der Suche nach einer Kommunikationstheorie des Visuellen, die das Politische nicht ausschließt. Für Leonor Arfuch ist jede semiotische Beziehung Politik. „Beide Signifikanten – die Semiotik und die Politik – sind eng miteinander verbunden. Viel mehr als die Tendenz, die Semiotik nach dem Zeichen zu ‚spezialisieren’, diese als
die Formalisierung zu verstehen, seine bildenden Termini zu isolieren, erlaubt Semiotik eine interpretierende Artikulierung, sie wertet und kritisiert die Gegenwart mit ihren Theorien, Themen und Problemen, welche die verschiedenen Realitäten des sozialen Lebens allesamt umfasst.“ Arfuch beschreibt weiter, dass die „konstituierende Beziehung zwischen Semiotik und Politik“ bereits sehr früh ausführlich entwickelt wurde. Und zwar in einem Pionierwerk, „das 1929 unter der Autorschaft von Valentin Voloshinov erschien (aktuelle Studien ordnen dieses Buch Michail Bachtin zu, der vielleicht auch nur ein Koautor war): Marxismus und Sprachphilosophie. Hier, in einer eindeutigen semiotischen Position bezüglich der Existenz des Seins in der Welt, wird unverrückbar der Zeichencharakter der Ideologie behauptet, die nicht nur ein Repertoire von Inhalten ist, eine ‚Superstruktur’, sondern der Faden des diskursiven und sozialen Netzes. ‚Wo es ein Zeichen gibt, gibt es Ideologie’, behauptet der Text, d.h. ‚man kann dem Zeichen Wertkategorien zuschreiben (Lüge, Wahrheit, Korrektur, Justiz, Wohl etc.)’. Und wenn jede Zone der ideologischen Kreativität eine eigene Funktion hat, dann ‚ist der Zeichencharakter die allgemeine Bestimmung’“.
Dieses Buch legt laut Arfuch zwei besonders relevante Schlüsse für die Frage nach der Politik der Zeichen nahe: „dass, die ‚Kette’ der ideologischen Kreativität uns ununterbrochen von einem Zeichen zum anderen führt – in Übereinstimmung mit der ‚unendlichen Semiose’ von Pierce –; und dass, ‚das individuelle Bewusstsein eine ideologische und soziale Tatsche ist’. Das Empfangen unterschiedlicher Akzente und Orientierungen der ideologischen Zeichen erlaubt den Autoren zu behaupten, was bei Michel Foucault Spuren hinterlassen hat und was er später aufnahm: ‚Das Zeichen ist die Arena des Klassenkampfs’. Daraus folgt, dass man
für den Diskurs und nicht durch diesen kämpft.“

Grafik-Design (die Gestaltung von Bild und Text) hat laut Richard Hollis zwei Ursprünge. Die visuellen Einflüsse auf das Grafik-Design sind „Kämpfe“ durch den Diskurs. Man kann nicht von einem Bruch mit herkömmlichen Sehgewohnheiten sprechen. Von der Malerei kommend, entstehen im Frankreich des 18. Jahrhunderts Kunstplakate, welche das Produkt (oft die Kunst selbst) bildlich repräsentieren (Henri Toulouse-Lautrec, u. a.). Das
Sachplakat im Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts (Hans Rudi Erdt und Julius Gipenks) ist den Produkten visuell noch stärker verpflichtet. Im viktorianischen Großbritannien finden wir die Bücher von Williams Morris, Vorreiter der Arts and Crafts-Bewegung, in denen Inhalt und Form der Autorschaft einer einzigen Person zugeordnet werden. Diese Bewegung beeinflusste stark die Secessionisten in Wien, die den Anspruch auf eine Gesamtkunst erhoben, auf eine total gestaltete Umgebung (Josef Hoffmann).
Die textuellen Einflüsse wiederum sind Kämpfe für den Diskurs. Die visuellen Gedichte der Avantgarde der Jahrhundertwende vollziehen starke Brüche mit dem gewohnten Erscheinungsbild von Text: Die
verse libre von Stephane Mallarmé und Guillaume Apollinaire in Frankreich, die umstrittenen Futuristen in Italien, die Konkretisten in Deutschland, die Dadaisten in den Niederlanden, die Vortizisten in London, die Estridentistas im revolutionären Mexiko, Ultraisten in Spanien und Argentinien, Vladimir Majakowski und der Konstruktivismus in der früheren Sowjetunion bis zur Suprematistischen Erzählung von zwei Quadraten von El Lissitzky. Es sind deren radikaler Umgang mit Schrift und Text und deren ideologische gesellschaftliche Ansprüche, die Diskurse sogar in Form von Manifesten erscheinen lassen. Nicht „form follows function“ (Louis Sullivan), sondern „form matters“, Form und Inhalt sind Signifikanten, die „Revolutionen“ auslösen sollten.

Design (das Bezeichnen, die Schrift) und der (politische) Diskurs (die Sprache) sind zwei Signifikanten: Schrift und Sprache sind schön.

Carlos Toledo ist Grafik-Designer, Künstler und Bildpunkt-Redakteur.

Literatur:
Leonor Arfuch: Crítica cultural entre política y poética. Fondo de Cultura Económomica, Buenos Aires 2008.
Richard Hollis: Graphic Design. A concise History. London 2001.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2008, „formal sinnvoll“.