Erfolgreich, aber nicht sozialistisch


Die Volksrepublik China ist seit mehr als einem Jahrzehnt die am schnellsten wachsende Wirtschaftsregion des Globus. Jahr für Jahr steigt das Bruttosozialprodukt des Landes um 10 bis 11 Prozent. Nur zum Vergleich: In Deutschland jubelten Regierung und Wirtschaftspresse, als 2007 ein Wachstum von etwas über 2 Prozent erzielt wurde. Das galt als außergewöhnlicher starker Aufschwung. Noch ein Vergleich: Die Wirtschaftsleistung Chinas ist dabei, die Deutschlands zu überholen. Darüber ist schon viel geschrieben und kommentiert worden. Es ist nicht sicher, wann genau dieser Überholvorgang stattfindet. Das Ergebnis einer Messung des Bruttosozialprodukts (BSP) eines Landes hängt von vielen, zum Teil willkürlich gewählten Parametern ab. Je nachdem, welche Währungsrelationen zugrundegelegt werden, könnte der Überholvorgang 2007, 2008 oder auch erst nächstes Jahr stattfinden. Nach den USA und Japan ist China dann die drittgrößte „Wirtschaftsnation" des Globus. Interessant ist an solchen Vergleichen auch, dass die Deutschland etwa ebenbürtige Wirtschaftsleistung von mehr als einer Milliarde Menschen erbracht wird, während es in Deutschland weniger als 90 Millionen Menschen sind, die daran beteiligt sind. Es bleibt sonderbar, wie Waren auf dem kapitalistischen Weltmarkt bewertet werden.

Die rasante ökonomische Entwicklung Chinas ist für die Weltgeschichte ein bedeutendes und positives Faktum. Man kann es gar nicht hoch genug schätzen, dass ein früher bitterarmes, von Unterentwicklung geprägtes Land, noch dazu ein so großes Land in einigen kurzen Dekaden den Sprung, den „großen Sprung" ist man versucht zu sagen, zur Industriegesellschaft geschafft hat.

Das Urteil „weltgeschichtlich positiv" für die chinesische Entwicklung gründet sich zum einen, dem bei weitem wichtigsten Gesichtspunkt, auf die gewaltige Verbesserung der materiellen Situation der Chinesen selber.

Zweitens ist die chinesische Entwicklung weltgeschichtlich ein Fortschritt, weil damit dem aggressiven Imperialismus der USA und seiner kaum weniger aggressiven Gefolgs- und Kleinimperialisten (EU, Japan) ein effektiver limitierender Faktor entsteht.

Drittens wird das stärker gewordene China den von den alten imperialistischen Mächten vorgenommenen Versuch der Rekolonialisierung der Welt bremsen.

Viertens sind deshalb die armen und die Rohstoffländer der Welt weniger erpressbar. Ihre Verhandlungsmacht wird größer, weil ein neuer industriell entwickelter Akteur auf dem Weltmarkt und auf der politischen Bühne tätig ist. Die stark gestiegenen Rohwarenpreise (Erdöl, Kohle, Metalle, Erze, Getreide, etc.) haben auch diese Ursache.

Fünftens wurde China zugleich zum Entwicklungsvorbild für viele Völker der Welt.

Die Vorbildfunktion teilt sich das Land mit anderen - etwa mit Südkorea, Malaysia, Indien. Dennoch ist China als Vorbild besonders wichtig, weil seine Entwicklung sichtbar ohne Anlehnung an, sondern eher im Gegensatz zum Imperialismus stattfand. (Sehr deutlich wurde das während der Asienkrise 1997/98, als die für den Kapitalverkehr offenen Länder am stärksten einbrachen. Die Entwicklung in China blieb dagegen positiv. Mit Interesse registrierte die Welt, wie damals der US-Finanzminister Rubin zusammen mit IWF-Chef Camdessus nach Peking flog und die chinesische Regierung beschwor, den Yuan-Renminbi nicht abzuwerten.)

Die chinesische Entwicklung ist eine Herausforderung der alten imperialistischen Mächte. Als historischer Vergleich bietet sich vielleicht das Japan des beginnenden 20. Jahrhunderts an, das für Asien Entwicklungsvorbild und für die Europäer Herausforderung war. Noch fehlt allerdings das Parallelereignis zum russisch-japanischen Krieg.

Als Sozialismus freilich ist China kein Vorbild, kann es nicht sein. Ganz einfach, weil China kein sozialistisches Land ist.

Manchen irritiert eine solche Aussage. Sie passt so gar nicht zu dem, was die KP Chinas in ihren Dokumenten über sich und das Land verbreitet. Umgekehrt mutet es angesichts der Realität des Landes merkwürdig an, dass die chinesische Führung immer noch von Sozialismus spricht, von einem Sozialismus chinesischer Prägung, von einer Sinisierung des Sozialismus oder auch von einer Entwicklung zum Sozialismus. Bei allen diesen Ausdrucksweisen ist mir nicht klar, was Sozialismus für die KP Chinas eigentlich bedeutet. Manchmal scheint es in Berichten, dass Sozialismus für die KP Chinas schnell fortschreitende ökonomische Entwicklung überhaupt heißen soll. Wenn man den Sozialismus so definiert, dann in der Tat gibt es Sozialismus in China. Dann allerdings ist auch der Kapitalismus, wie ihn Marx im Manifest als revolutionäre Produktionsweise besingt, Sozialismus.

Um zu klären, ob ein Land oder eine Wirtschaftsregion feudalistisch, kapitalistisch oder sozialistisch strukturiert ist, empfiehlt sich ein kurzer Blick auf die Produktionsverhältnisse:

1. Dabei wiederum ist der wichtigste Aspekt das Eigentum an den Produktionsmitteln. Der staatliche Industriesektor ist in China noch immer groß. Aber seine Bedeutung nimmt rapide ab. Von den in den Städten arbeitenden Menschen waren Anfang der 90er Jahre noch ca. 80 Prozent beim Staat, bei Staatsunternehmen oder bei Kollektivunternehmen beschäftigt. Im Jahre 2002 war dieser Prozentsatz auf ein gutes Drittel abgeschmolzen. (Quelle: D. Harvey, Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich, 2007). Der relative Rückgang des staatlichen und kollektiven Sektors hat sich seitdem fortgesetzt. Anders ausgedrückt: privates Kapital hat sich in China seit den 80er Jahren entwickelt, es wurde gefördert. 1994 wurde die Privatisierung von Staatsunternehmen auf breiter Basis gestattet. Eine Art ursprüngliche Akkumulation entstand durch die freizügige Kreditvergabe staatlicher Banken. Kredit zu unter der Inflations- und Wachstumsrate liegenden Zinsen garantierte Klein- und Großunternehmen eine gute Rendite. Die mehrfachen Rekapitalisierungen der Banken durch den Staat zeigen, dass auch die Risiken der Kredite von den Banken, nicht aber von den überall entstehenden Industrie- und Handelskapitalisten getragen wurden. Auch ausländisches Kapital spielt eine immer stärker werdende Rolle. Auslandskapital wurde zunächst begrenzt auf Minderheitenbeteiligungen und in Sonderwirtschaftszonen eingeladen. Die Begrenzungen sind immer stärker zurückgeführt worden. Laut Georg Blume (China ist kein Reich des Bösen, Hamburg, 2008) ist der im engeren Sinne von Privatunternehmen erwirtschaftete Anteil am Bruttosozialprodukt in den letzten zehn Jahren von wenig über sieben auf 65 Prozent gestiegen. Schlussfolgerung: Kapitalistisches Privateigentum an den Produktionsmitteln dominiert in China. Wichtiger noch, die Tendenz hin zu mehr Privateigentum ist ungebrochen.

2. Es gibt einen Kapitalmarkt in China, der sich schnell entwickelt. Es wird mit Immobilien, Unternehmen, Aktien, Krediten gehandelt. Die Börsen in Shanghai und Shenzen sind nur der sichtbarste Teil dieses Marktes. In mancher Beziehung ist der Kapitalmarkt noch unterentwickelt. Eine Schwäche scheint auch darin zu bestehen, dass die Verzahnung der Kapitalmärkte einzelner Provinzen (und ganz besonders Hongkongs) mit der Außenwelt enger ist als mit dem Rest des Landes.

3. Es gibt einen Arbeitsmarkt. Dies ist Wesenszug des Kapitalismus. Die Ware Arbeitskraft wird in China ziemlich frei gehandelt, um ausgebeutet zu werden. Die Regulierung des Arbeitsmarktes ist zum Nachteil der Arbeitskräfte ähnlich wenig reguliert wie in anderen Schwellenländern auch (Arbeitsschutzgesetze, Gewerkschaften, Mindestlöhne, Arbeitslosenversicherung). An einigen Stellen sind in jüngster Zeit ein paar Regulierungen eingezogen worden.

4. Es gibt keine Wirtschaftsplanung, wie sie in sozialistischen Ländern (bei nur geringer Reichweite der Märkte) üblich war und notwendig ist. Statt dessen konzentriert sich die staatliche Regulierung wie in anderen kapitalistischen Ländern auch auf die staatliche Förderung der Wirtschaft durch Bereitstellung von Bildung und vor allem Infrastrukturleistungen. Dies findet in hohem Maße dezentral, auf der Ebene der Provinzen statt. Die gesamtchinesische Fiskal- und Geldpolitik bleibt zurückhaltend und ineffektiv. Eine wichtige Ausnahme sind die Beziehungen zum Ausland.

5. Der Warenverkehr mit dem Ausland ist weitgehend liberalisiert. China ist WTO-Mitglied und unterwirft sich diesen Regeln.

6. Es gibt noch Kapitalverkehrskontrollen. Die Währung kann frei getauscht werden, allerdings wird der Kurs der Währung von der Zentralbank bestimmt. Kapitalimport und

-export sollen weiter liberalisiert werden. Die größten Banken des Landes wurden teilprivatisiert, wobei Anteile unter 50 Prozent an Ausländer verkauft wurden. Die Kontrolle über Kapitalzu- und -abflüsse ist der einzige Aspekt der Produktionsverhältnisse, der noch an den Sozialismus oder an einen sozialistischen Entwicklungsweg Chinas erinnert.

Es kann hier nicht diskutiert werden, welche Elemente im einzelnen zum Erfolg des chinesischen Entwicklungsmodells beigetragen haben. Besonders interessant dabei ist die Frage, wie weit der nationale Befreiungskampf und die anfangs an sozialistischen Vorbildern orientierte Politik Chinas dem Land eine günstige Ausgangsposition verschafften und wie weit die Rechtswende zu Beginn der achtziger Jahre für den Erfolg verantwortlich waren. Wie auch immer man das im einzelnen bewertet, wichtig ist erst einmal die Feststellung, dass dieser Weg Chinas zwar zu ökonomischen, entwicklungspolitischen Erfolgen geführt hat, nicht aber zum Sozialismus. Darüber Klarheit zu gewinnen und Klartext zu reden, ist für Sozialisten und Kommunisten keine nebensächliche Beschäftigung. Wer den Sozialismus anstrebt, muss über dieses Ziel zumindest so viel wissen, dass er es erkennt, wenn er es in der Realität vorfindet oder eben nicht.