Harmonische Gesellschaft, Lohnarbeit und Klassenkämpfe

 



In ihrem gemeinschaftlich verfassten Manifest der Kommunistischen Partei weisen Karl Marx und Friedrich Engels darauf hin, dass „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ... die Geschichte von Klassenkämpfen“ ist. China hat sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts zum Ziel gesetzt, eine sozialistische harmonische Gesellschaft aufzubauen. Daraus ergibt sich folglich die Fragestellung, ob es im Sozialismus und in einer harmonischen Gesellschaft „industrial relations“ gibt (der englische Begriff, meist mit „Arbeitsbeziehungen“ übersetzt, meint in der Regel die Beziehungen zwischen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmern“, bzw. zwischen Management und Gewerkschaften, im kapitalistischen Unternehmen; d. Red.)? Wenn ja, wie sehen diese aus? Wie steht es um Klassen und Klassenkämpfe und welche Formen nehmen diese Kämpfe hauptsächlich an? Kann eine Gesellschaft, in der es Klassen und Klassenkämpfe gibt, harmonisch werden? Widersprechen sich das Konzept einer „harmonischen Gesellschaft“ und die Theorie der Klassenkämpfe, wobei Ersteres die Negation des Letzteren ist? Hier sollen diese theoretischen wie praktischen Probleme von großer Signifikanz untersucht werden; sie entscheiden mit darüber, ob in China eine sozialistische harmonische Gesellschaft errichtet werden kann oder nicht.


I. Hintergrund der Konzeption einer „Harmonischen Gesellschaft“


In der heutigen Welt sind Frieden und Entwicklung die beiden Themen, über die sich die Menschen in vielen Ländern am meisten sorgen. In einer Zeit, in der die menschliche Existenz durch Atomkriege bedroht ist, bei denen Waffen zum Einsatz kommen, deren Anzahl und Zerstörungskraft ausreichen, um die Menschheit mehrfach auszulöschen, wünschen weder kapitalistische noch sozialistische Länder einen weiteren Weltkrieg. In der Tat streben alle Arten von Ländern eine gesunde internationale Entwicklung an, die dem allgemeinen Trend hin zu Frieden, Entwicklung und Zusammenarbeit folgt. Dies ist der internationale Hintergrund, vor dem die Idee des Aufbaus einer sozialistischen harmonischen Gesellschaft eingeführt wurde.
Innerhalb des Landes gibt es trotz des schnellen Wirtschaftswachstums eine Reihe sozialer Probleme: die riesige und wachsende Einkommenskluft zwischen Arm und Reich; die ungerechte Verteilung der Vorteile aus der Entwicklung; die unzureichende Versorgung mit öffentlichen Gütern; ungenügender Zugang zu medizinischer Versorgung, Wohnraum, Bildung und Arbeit; gravierende Probleme bei der Arbeitssicherheit und öffentlichen Sicherheit; der Mangel an Ressourcen und ernst zu nehmende Umweltverschmutzung; der Mangel an demokratischen Rechten und Rechtsstaatlichkeit; der nicht hinnehmbare Verlust an Glaubwürdigkeit und Niedergang moralischer Standards; weit verbreitete Korruption usw. Dies sind die Umstände, vor deren Hintergrund China sich die große Aufgabe gestellt hat, eine sozialistische harmonische Gesellschaft zu errichten. Gesellschaftliche Harmonie ist das wesentliche Erfordernis des Sozialismus, die entscheidende Bedingung für Reformen, Entwicklung und Stabilität, der bedeutende Input für Modernisierung und eine wohlhabende Gesellschaft auf relativ hohem Niveau, und sie ist das dringende Bedürfnis der breiten Masse des Volkes.


II. Die Bedeutung und das Wesen einer „Harmonischen Gesellschaft“


Im Konzept der „harmonischen Gesellschaft“ (Pinyin: He Xie She Hui – Pinyin ist die 1957 eingeführte offizielle Umschrift der chinesischen Schriftzeichen auf der Basis des lateinischen Alphabets, d. Red.) bedeutet „He“ Stabilität und Friedlichkeit und „Xie“ bedeutet Koordinierung. Eine andere Möglichkeit der Interpretation wäre, „He“ so zu deuten, dass es heißt, dass jeder etwas zu essen hat, während „Xie“ bedeutet, dass jeder das Recht der freien Meinungsäußerung hat. Meiner Meinung nach ist eine harmonische Gesellschaft eine Gesellschaft, die Gleichheit, Demokratie, Wohlstand, hohe Effektivität und nachhaltige Entwicklung mit sich gebracht hat. Sie beinhaltet die Harmonie zwischenmenschlicher Beziehungen auf der einen Seite und die Harmonie der Beziehung zwischen Mensch und Natur auf der anderen.
Der erste Aspekt beinhaltet, dass jeder Bürger seinen Dingen nachgeht und gut mit den anderen zurecht kommt. Die grundlegenden Erfordernisse einer harmonischen zwischenmenschlichen Beziehung umfassen die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Freundschaftlichkeit und Lebendigkeit, deren Fehlen zwangsläufig in zwischenmenschlicher Disharmonie resultieren muss, die durch Ungleichheit, Unaufrichtigkeit, Instabilität sowie scharfe Widersprüche, starke Opposition, gewalttätige Zusammenstöße und einen ruhelosen Gesamtzustand charakterisiert ist.
Die Harmonie zwischen Mensch und Natur umfasst ebenfalls zwei Aspekte: die Harmonie zwischen Mensch und Ressourcen und die zwischen Mensch und Umwelt. Ersteres drückt sich aus in einer Gesellschaft, die sparsam mit ihren Ressourcen umgeht; Letzteres in einer umweltfreundlichen Gesellschaft. Sie zeigt einen Zustand auf, in dem die Ressourcen ausgebeutet und mit hoher Effizienz genutzt werden, und in dem die Umwelt geschützt und von den Menschen verbessert wird, so dass sie auf diese Weise die nachhaltige Entwicklung der Volkswirtschaft unterstützen.
Die Disharmonie zwischen Mensch und Natur, auf der anderen Seite, führt zu einem Mangel und ineffizienter Nutzung von Ressourcen, zu Verschwendung und Zerstörung, zu Umweltverschmutzung und ökologischem Ungleichgewicht; die Errichtung einer harmonischen Gesellschaft wird dadurch unmöglich. Diese Art von Gesellschaft geht sowohl verschwenderisch mit den Ressourcen als auch zerstörerisch mit ihrer Umwelt um.
Umfasst dieses Gesamtkonzept auch die Harmonie zwischen Mensch und Gesellschaft? Nach meinem Empfinden ist dies in der Tat ein Aspekt der Harmonie von zwischenmenschlichen Beziehungen oder des Verhältnisses eines Menschen zu einem anderen, der andere Aspekt ist dabei die Harmonie zwischen Individuen. Grund dafür ist, dass der Begriff „Mensch“ nicht nur Individuen meint, sondern auch den Menschen als Gattung und dass eine Gesellschaft, die aus einer bestimmten großen Gruppe besteht, die Gesamtheit zwischenmenschlicher Beziehungen darstellt.
Die Vorstellung vom Aufbau einer sozialistischen harmonischen Gesellschaft hat das Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung verändert, einschließlich des Ziels, der Triebkraft und der Art der Entwicklung: von der Philosophie des Klassenkampfes hin zu der von der Harmonie der zwischenmenschlichen Beziehungen; von der Vorstellung, dass „der Mensch die Natur erobern kann“, hin zu der von der Harmonie zwischen Mensch und Natur; von der Opposition eines Menschen zu einem anderen und zwischen Mensch und Natur hin zur Koordination zwischen Bevölkerung, Ressourcen, Umwelt, Wirtschaft und gesellschaftlicher Entwicklung.
In der Urgesellschaft gab es keine Unterdrückung, keine Herrscher. Als es zur autokratischen Gesellschaft kam, in der sich das Privateigentum herausbildete, regierte und unterdrückte eine kleine Gruppe die Mehrheit. Dies wurde umgekehrt in der Gesellschaft mit Demokratie und Rechtstaatlichkeit und auch in der frühen sozialistischen Gesellschaft, in der die Mehrheit über die Minderheit herrscht. Das Ziel einer harmonischen Gesellschaft jedoch ist es, zurückzukehren zum Urzustand, jedoch auf einer wesentlich höheren Ebene, indem man die Unterdrückung und die herrschenden Klassen ausschaltet.

 
III. Lohnarbeitsverhältnisse in einer harmonischen Gesellschaft


Lohnarbeit und „industrial relations“ sind in der sozialistischen Marktwirtschaft auf der ersten Stufe des Sozialismus, wegen der Existenz von Privatunternehmen wie auch der nicht-öffentlichen Sektoren der Wirtschaft, notwendige Erscheinungen. Laut Statistik von Chinas Staatlicher Behörde für Industrie und Handel gab es im Jahr 2005 4,301 Millionen private Unternehmen mit 11,099 Millionen Unternehmern und 47,141 Millionen Beschäftigten. Zwar lässt sich aus diesen hohen Zahlen allein nicht ableiten, das Land sei in die Zeiten zweier komplett gegensätzlicher Klassen, nämlich der „Bourgeoisie“ und des „Proletariats“ zurückgekehrt; denn in einem Land, das noch immer von der staatseigenen Wirtschaft dominiert wird, die aus rechtlicher Sicht Eigentum aller Bürger ist, sind die Arbeiter in Privatunternehmen nicht durch und durch Proletarier, sondern vielmehr die Eigentümer und Nutznießer der staatseigenen Wirtschaft; und außerdem operiert der private Sektor der Wirtschaft im Rahmen des sozialistischen Rechtssystems und dient, dirigiert von der sozialistischen Regierung, als wichtiger Teil der sozialistischen Marktwirtschaft. Doch muss zumindest wahrgenommen werden, dass die beiden beteiligten Seiten sich in ihrer Interessenlage erheblich voneinander unterscheiden und sogar zwei soziale Schichten bilden, die sich zu einem gewissen Grad im Konflikt miteinander befinden. Gemäß der Daten des Staatlichen Statistikamtes von China ist zum Beispiel seit dem Beginn der Reformen und einer Politik der Öffnung der Anteil der Lohneinkommen am Bruttoinlandsprodukt von rund 17 Prozent in den 1980er Jahren auf etwa 11 Prozent in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts gefallen, was begleitet wurde von einem Ansteigen der Einkünfte aus Vermögenswerten. Hier sind konfligierende Interessen der beiden Parteien zu beobachten. Ihre Beziehung besteht einerseits aus „industrial relations“, bei denen die eine Seite die andere beschäftigt und ausbeutet, was den Gegensatz ihrer Interessen bestimmt; andererseits können die beiden Parteien koordiniert werden, so dass eine Beziehung der Zusammenarbeit entsteht, die darauf basiert, dass der private Sektor der Wirtschaft auch Steuern an die sozialistische Regierung zahlt, Produkte und Dienstleistungen bereitstellt, um die Nachfrage am Markt zu befriedigen, und Beschäftigungsmöglichkeiten erweitert, was sich günstig auf die Arbeiterschaft in privaten Unternehmen auswirkt.
Derzeit führen die blinde Verfolgung der Maximierung von Eigeninteressen seitens der Eigentümer privater Unternehmen, lasche Behörden und eine ineffektive Politik immer noch zu unzumutbaren Lohnkürzungen oder willkürlich verzögerten Lohnzahlungen, zu mangelnder Sicherheit der Arbeitsplätze, langen Arbeitszeiten, starker Arbeitsintensität und ständigen Arbeitsunfällen. Die gesetzlichen fixierten Rechte und Interessen und selbst das Recht auf Leben sind nicht garantiert. Dies ist einer der Gründe, warum die jetzige Regierung auf die Errichtung einer harmonische Gesellschaft orientiert hat. Die Lohnarbeitsverhältnisse wie auch die Interessenkonflikte zwischen Eigentümern und Beschäftigten der privaten Unternehmen werden nicht verschwinden, solange das Land sich noch auf der ersten Stufe des Sozialismus befindet und noch immer die Marktwirtschaft praktiziert, selbst wenn die harmonische Gesellschaft ihre rudimentäre Form erlebt. Sie können jedoch in einer harmonischen Gesellschaft behutsam koordiniert werden, wobei die berechtigten Ansprüche und Interessen beider Parteien geschützt werden, ihr Widerspruch so stark abgemildert und reduziert wird, dass starker Widerstand, Konflikte und Konfrontationen vermieden werden können.


IV. Annäherungen an den Antagonismus von „harmonischer Gesellschaft“ und „Klassenkampf“


Stehen sich „harmonische Gesellschaft“ und „Klassenkampf“ antagonistisch gegenüber? Ist es möglich, die Notwendigkeit und Richtigkeit der Errichtung einer harmonischen Gesellschaft zu betonen, während man gleichzeitig den Theorien von Klasse und Klassenkampf anhängt? Wie verhält sich die „harmonische Gesellschaft“ zu Chruschtschows Theorien von friedlicher Koexistenz, friedlichem Wettbewerb und friedlichem Übergang, wie zu seinen Vorstellungen von einer Partei und einem Staat des ganzen Volkes? Wie unterscheidet sich das Konzept einer „harmonischen Gesellschaft“ von Gedanken wie dem „Klassenkompromiss“ und dem „Verschwinden der Klassenkämpfe“? All dies sind Fragen von großer theoretischer Bedeutung, die richtig beantwortet werden müssen, um zu einem adäquaten Verständnis dessen zu kommen, was eine „harmonische Gesellschaft“ überhaupt ist, so dass die großartige Theorie eines Tages Realität werden kann.
Aus meiner Sicht führt das scheinbar logische Verständnis, dass Klassenkämpfe sich auf bewaffnete Unterdrückung konzentrieren, während die harmonische Gesellschaft die friedliche Koordinierung betont, und dass es in der wahrhaft harmonischen Gesellschaft weder scharfe Interessenkonflikte geben darf noch heftige Klassenkämpfe, tatsächlich in die Irre. Die harmonische Gesellschaft ist keine Gesellschaft ohne Widersprüche, Konflikte, Klassen oder soziale Schichten und Kämpfe, ganz im Gegenteil. Es ist lediglich das letztendliche Ziel der Gesellschaft, die Gegensätze und Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen, zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit auszuschalten und damit eine harmonische Beziehung zwischen den Menschen untereinander und den Menschen und der Natur herbeizuführen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht das Hauptkriterium, das die „harmonische Gesellschaft“ von der „disharmonischen Gesellschaft“ unterscheidet, nicht darin, ob es Widerspruch, Konflikte, Klassen oder soziale Schichten und Kämpfe gibt, sondern vielmehr im Herangehen an die Probleme, in den Formen der Kämpfe und ob der Gegensatz und die Zusammenstöße gemildert und schließlich eliminiert werden können. Klassenwidersprüche und Klassenkämpfe bedeutet nicht zwingend die bewaffnete Unterdrückung und Kämpfe auf Leben und Tod. Grundsätzlich gibt es zwei Arten des Umgangs mit Klassenwidersprüchen wie mit anderen Formen gesellschaftlichen Widerspruchs: einmal gewaltsamer Zwang und zum anderen friedliche Führung. Die beiden entsprechenden Formen des Klassenkampfes sind bewaffnete Kämpfe auf der einen Seite und Reformen und Koordinierung auf der anderen. Derartige gewaltlose oder friedlichen Mittel, die einfacher sind, einen weniger hohen Preis fordern und vielleicht sogar effizienter sind als bewaffnete Kämpfe, wurden vom Marxismus nicht ausgeschlossen, auch wenn er die Bedeutung von bewaffneten Kämpfen und gewaltsamen Revolutionen zu Zeiten betont, da Revolutionen von den herrschenden Klassen rücksichtslos niedergeschlagen wurden. In der sozialistischen Gesellschaft ist der grundsätzliche Widerspruch vom Wesen her nicht antagonistisch. Selbst ein antagonistischer Widerspruch kann durch nicht-antagonistische Ansätze gelöst werden und erfordert nicht zwingend heftige Kämpfe, Zwang, Militär und Eliminierung. Daher sollte die Errichtung einer harmonischen Gesellschaft, unter dem Schutz des sozialistischen Systems und der Herrschaft des Volkes, hauptsächlich friedliche Mittel nutzen – einschließlich Reformen und Koordinierung, Verbesserung der Institutionen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit etc. Sie sollte angemessen mit den Problemen der Widersprüche, Konflikte, Klassen und Kämpfe umgehen und Widersprüche schlichtend lösen und soziale Harmonie herbeiführen. Das spiegelt den Trend unserer Zeit sowie das Wesen des Widerspruchs in einer sozialistischen Gesellschaft und die Grundvoraussetzung des Sozialismus besser wider. Die Theorien von Klasse und Klassenkämpfen werden durch das Ziel einer harmonischen Gesellschaft nicht bestritten, doch der Fokus verschiebt sich von bewaffneten Kämpfen hin zu Reformen und Koordinierung, um so die übermäßige Vereinfachung und Einseitigkeit der Behandlung von Problemen der Klasse und der Klassenkämpfe in der Vergangenheit zu verhindern.
Alles in allem unterscheidet sich die harmonische Gesellschaft, die China aufbauen will, sowohl von der, die Chruschtschow befürwortete, als auch von der irrtümlichen oben aufgeführten Argumentation. Während die beiden letzteren ihrem Wesen nach die Negation von Widerspruch, Klassen oder sozialen Schichten und Klassenkämpfen sind, ist dies die hier diskutierte harmonische Gesellschaft nicht.

Prof. Dr. Xinhua Jian ist Wirtschaftswissenschaftler und lehrt an der Universität Wuhan, Provinz Hubai.

Aus dem Englischen übersetzt von Vera Glitscher. Redaktionell bearbeitet.