Nationalitäten und Nationalitätenpolitik in der VR China

 


Dass China ein Nationalitäten- und kein Nationalstaat ist, diese simple Wahrheit ist trotz der Tibet-Problematik, die seit Jahrzehnten in den westlichen Medien einen wichtigen Platz einnimmt, noch wenig in das Allgemeinwissen des deutschen Bildungsbürgers vorgedrungen. China ist das Land der „Chinesen“, die gefährlich zahlreich sind, „unsere“ Rohstoffe verbrauchen und „unser“ Klima gefährden. Wer aber sind „die Chinesen“? An imperialistischen Stereotypen mangelt es nicht: „gelbe Gefahr“ und „blaue Ameisen“ in der Vergangenheit, „gelbe Spione“ (Der Spiegel) und „Turbokapitalisten“ heute.


Hier ist nicht der Ort, den grundsätzlichen Charakter des gegenwärtigen politischen, ökonomischen und sozialen Systems der VR China zu diskutieren, aber es muss einleitend angesprochen werden, dass die fortdauernde Herrschaft einer kommunistischen Partei und die Berufung der chinesischen Regierung auf den Sozialismus (Anfangsstadium, chinesischer Prägung) von westlichen Medien immer wieder zum Anlass genommen werden, in eine antikommunistische Rhetorik alter Schule zu verfallen. Gleichzeitig werden der wissenschaftlich-technische Fortschritt Chinas, die weitreichenden ökonomischen Reformen und das daraus entstandene Wachstum aus einer Position scheinbarer Parteinahme für soziale und politische Rechte der Unterprivilegierten (Wanderarbeiter, Bauern, ethnische Minderheiten) kritisiert und als Bedrohung dargestellt. Die instrumentelle Herangehensweise an die Probleme Chinas ist in diesen Fragen so notorisch wie offenkundig.


Zumindest was die Nationalitätenfrage in China angeht, ist leider auch in großen Teilen der politischen Linken die Sachkompetenz eher schwach entwickelt. Das hat sich erst in jüngster Zeit anlässlich des März-Pogroms und seiner Niederschlagung in Lhasa gezeigt, als zwischen einer Apologetik im Wortlaut der KP Chinas und einer Denunziation im Wortlaut der tibetischen „Exilregierung“ wenig Raum für differenziertere Darstellungen zu bleiben schien.
Beginnen wir mit den nüchternen Tatsachen: China war nie ein ethnisch-kulturell homogener Staat. Vor der Reichseinigung durch den ersten Kaiser der Qin 221 v. u. Z. verkörperten schon die Shang (17.-11. Jh. v. u. Z.) und Zhou (11. Jh. bis 249 v. u. Z.) nicht nur verschiedene „Dynastien“, sondern zweifellos verschiedene ethnische Gemeinschaften. Die Grenzen der Staaten, für die der Begriff „Mittellande“ (heute als Singular mit „Reich der Mitte“ übersetzt) stand und aus denen sich das spätere China in der Zeit der Frühlings- und Herbstperiode (770-476 v. u. Z.) sowie während der Streitenden Reiche (475-221 v. u. Z.) zusammensetzte, standen größtenteils auch für ethnisch-kulturelle Grenzen. Und es waren ausgerechnet die westlichen „Barbaren“ des Staates Qin, die China einten und die Voraussetzung für ein zentralstaatliches Großreich schufen. Damit war die Grundlage für die Ethnogenese der „Han-Chinesen“ geschaffen worden, die ihre Selbstbezeichnung von der nun folgenden Han-Dynastie (206
v. u. Z. bis 220 u. Z.) ableiten sollten. Schon diese Dynastie dehnte ihr Territorium bis nach Zentralasien aus und kontrollierte große Teile des heutigen Xinjiang.


In den folgenden zwei Jahrtausenden trugen Prozesse der Akkulturation und Assimilation einerseits, Prozesse der Abgrenzung, der ethnischen Identifikation, Genese und Renaissance andererseits dazu bei, dass ein Zentralstaat mit dezentralen Kulturen entstand, allerdings mit der vorgestellten Gemeinschaft „chinesischer“ Kultur, vor allem chinesischer Sprache und Schrift, in seinem Zentrum. Diese Kulturgemeinschaft nahm Hunderte von Völkerschaften, deren Namen uns heute nur noch aus historischen Werken bekannt sind, in sich auf, und sie wirkte gleichzeitig auf benachbarte Kulturen an den Rändern des chinesischen Reiches ein, die sie sich als Vorbild oder Beispiel für „Zivilisation“ selektiv aneigneten oder nachzuahmen versuchten. So waren die Staaten und Dynastien der Nördlichen Wei (386-534) und ihrer Nachfolger bis 581, die Nanzhao (649-937) und Bohai (698-926), die Fünf Dynastien (907-960), Dali (938-1253), Liao (947-1125), Xixia (1032-1227), Jin (1115-1234), Yuan (1271-1368) und Qing (1644-1911) weder „nicht-chinesisch“ noch gar „un-chinesisch“, sie waren auch keine „Fremdherrschaften“, wie es in weiten Teilen der etablierten Sinologie immer noch behauptet wird, sondern sie waren exemplarisch für den oben beschriebenen Prozess der Entstehung des chinesischen Zentralstaates, sie waren zutiefst „chinesisch“. Ihnen allen war gemein, dass ihre Herrscherhäuser von den Rändern des chinesischen Reiches kamen und sich Teile des Zentrums erobert hatten, in den beiden letztgenannten Fällen der Yuan (Mongolen) und Qing (Manju) schließlich sogar ganz China beherrschten.


Essentialistische Ethnos-Definition


So kann es auch nicht verwundern, dass die heute gebräuchlichen Selbst- und Fremdzuschreibungen der Völker Chinas im Sinne ethnisch-nationaler Identitätskonstruktionen (z. B. Han, Tibeter, Uiguren, Mongolen) ausnahmslos erst im späten 19., teilweise sogar erst im 20. Jahrhundert entstanden sind, in der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und z.T. bedingt durch den Zerfall staatlicher Zentralgewalt während der Republikzeit (1912-1949). Sowohl von der Regierung der VR China als auch von Vertretern der „Völker Chinas“ selbst, und zwar von offiziellen wie von oppositionellen, werden diese Identitätsschemata völlig essentialistisch vermittelt. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten minzu (der Begriff steht für Volk, Nationalität und Nation gleichermaßen) erscheint als natürliche Eigenschaft eines Menschen, und jeder Bürger Chinas ist gezwungen, sich bei den regelmäßigen Volkszählungen einer minzu zuzuordnen. Die einzige, die jeder ohne Begründung frei wählen darf, ist die der Han. Alle anderen 55 „offiziellen“ Nationalitäten darf man für sich nur reklamieren, wenn man eine entsprechende Abstammung nachweisen kann. Diese Kategorien ethnischer Zugehörigkeit wurden nach Gründung der Volksrepublik von den zuständigen Behörden in Zusammenarbeit mit Ethnologen sukzessive entwickelt. Rund 400 ethnische Gruppen hatten damals ihre Anerkennung beantragt. Der Prozess fand erst Anfang der 80er Jahre des 20. Jhs. seinen Abschluss, als mit den Jino (ca. 21 000 Menschen) die letzte „offizielle“ Nationalität registriert wurde. Am Rande sei erwähnt, dass auch die Regierung der „Republik China“ auf Taiwan ein Konzept der Anerkennung vertritt, wobei dort der Prozess als noch nicht abgeschlossen gilt. Erst am 23. April 2008 wurden die Sediq (ca. 7 000 Menschen) als 14. Nationalität registriert, und mit weiteren Anerkennungen ist zu rechnen.


Diese in der politischen Praxis essentialistische Definition von Ethnos führt zwangsläufig zu einer weiteren Fehlwahrnehmung. Während die prinzipielle ethnisch-kulturelle Heterogenität ihrer Gesellschaft für die Bürger Chinas heute zum Allgemeinwissen gehört, eine Selbstverständlichkeit ist, erweckt die Einordnung der Menschen in 56 ethnischen Kategorien (rechnet man Taiwan hinzu sind es unter Einschluss der Han 70) auch bei den meisten Chinesen den falschen Eindruck von Homogenität innerhalb dieser Kategorien. Schon die schlichte Tatsache, dass die 70 offiziellen Nationalitäten Chinas nach den Kriterien des Summer Institute of Linguistics (vgl. www.ethnologue.com) gegenwärtig 253 verschiedene Sprachen sprechen, mag das Ausmaß des Irrtums verdeutlichen. Der Han-Chinese ist genauso eine politische Erfindung wie der Tibeter. Hier liegt m. E. der größte Fehler der chinesischen Nationalitätenpolitik nach 1949 und hier liegen auch die größten Probleme zukünftiger sogenannter „ethnischer Konflikte“ in China: Erst die essentialistischen Ethnos-Kategorien, die die praktische Politik zu benötigen schien, ermöglichten die narrative und symbolische Konstruktion einer Identität, die sich als „ethnisch“ begreift und zunehmend nationalistische (bei den Han) bzw. ethno-nationalistische (bei den Minderheiten) Züge gewinnt. Haben z. B. Bod-pa, Amdo-wa und Kham-pa sich vor 1949 als „ein Volk“ gefühlt? Ganz sicher nicht! Zwar hatten sie ihre Gemeinsamkeit in der Religion des tibetischen Buddhismus („Lamaismus“), aber diese Gemeinsamkeit hatten sie auch mit den meisten Mongolen und einigen anderen Gruppen. Natürlich gab es moderne, pan-tibetische Bestrebungen auch schon in den Jahrzehnten davor, aber erst die gemeinsame Einordnung in die Kategorie „Tibeter“ hat aus ihnen auch wirklich Tibeter gemacht.


Im Chinesischen gibt es zwei Begriffe, die beide gewöhnlich mit dem Wort „Chinese“ ins Deutsche übersetzt werden: Zhongguoren und Hanzuren, „Menschen aus den Mittellanden“, also „Bürger Chinas“, und „Menschen des Han-Volkes“. Letztere sind die „ethnischen“ Chinesen, die heute gut 91 Prozent der Bevölkerung Chinas ausmachen. Niemand, der Chinesisch spricht, käme in Versuchung, diese beiden völlig verschiedenen Begriffe durcheinanderzuwerfen. Die Konzeption des ethnisch pluralen chinesischen Zentralstaates, so wie sie von der KPCh vertreten wird, folgt einem simplen Schema: China ist ein Vielvölkerstaat, der sich aus 56 Nationalitäten (minzu) zusammensetzt. Diese haben alle ihren historischen und kulturellen Beitrag zur Entstehung der chinesischen Nation (Zhonghua minzu, sinngemäß etwa: „Nation der blühenden Mitte“) geleistet und gehören ihr deshalb heute an. Diese in Bildung und Propaganda unablässig vermittelte Denkfigur, mit der jeder Bürger Chinas, der eine Schule besucht hat, aufwächst, ist von ihrer Intention her durchaus als fortschrittlich zu bezeichnen. Die „Nation“, zu der der Bürger sich bekennen soll, definiert sich weder ethnisch noch geographisch, sondern quasi geometrisch. Es ist die „Nation der Mitte“. Das zwingt niemanden zur Anerkennung der Dominanz einer bestimmten Kultur. Theoretisch überwindet dieser Ansatz den traditionellen chinesischen Kulturalismus und eröffnet erstmals auch die ideologische Möglichkeit des gleichberechtigten Zusammenlebens von Gruppen mit unterschiedlich, z.T. gegenläufig konstruierten ethnischen Identitäten. In der Praxis haben aber gerade die essentialistischen Ethnos-Kategorien, mit denen die KP arbeitete, die Selbstwahrnehmung einiger Gruppen als „Nationen“ gefördert. Ihnen erschien ihr angeblicher historischer Beitrag zur „Nation der Mitte“ für eine Identifikation nicht attraktiv genug, sie konnten sich stattdessen auf Narrationen ehemaliger Eigenstaatlichkeit berufen und hatten ja in der Tat in der Vergangenheit mit den Han-Chinesen wenig gute Erfahrungen gemacht. Besonders gilt dies für Tibeter, Uiguren und Mongolen, die in den vorhergehenden Jahrzehnten parallel zu den Han eine „nationale Identität“ entwickelt und formuliert hatten. Dass sie die junge Volksrepublik China nicht als „Staat der Han“, sondern als ihren eigenen Staat hätten ansehen können, das lag doch für die meisten zu fern und war nur den Kommunisten unter ihnen möglich. Die gab es zwar, aber sie repräsentierten zu diesem Zeitpunkt keineswegs die Mehrheit ihrer Bevölkerungsgruppen.


Die Kommunistische Partei hatte ursprünglich die Leninsche Nationalitätentheorie übernommen und auch für China ein Lostrennungsrecht formuliert. So hieß es noch im November 1931 in der Resolution des I. Allchinesischen Rätekongresses zur Frage der nationalen Minderheiten in China:
„Infolgedessen erklärt der I. Allchinesische Rätekongress der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten, dass die Chinesische Räterepublik kategorisch und bedingungslos das Recht aller nationalen Minderheiten auf Selbstbestimmung anerkennt! Das bedeutet, dass in solchen Gebieten, wie in der Mongolei, in Tibet, Xinjiang, Yunnan, Guizhou und anderen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung einer anderen Nationalität als den Han angehört, die werktätigen Massen dieser Nationalitäten das Recht haben, selbst zu bestimmen: wollen sie aus der Chinesischen Räterepublik austreten und ihren eigenen unabhängigen Staat gründen, oder wollen sie dem Bund der Räterepubliken beitreten, oder ein autonomes Gebiet in der Chinesischen Räterepublik bilden.“ (HINZ, 1973, S. 500ff.).


Abkehr vom Lostrennungsrecht


Auch Mao Zedong hatte das Recht auf Loslösung von Staaten ethnischer Minderheiten im Januar 1929 (MAO, Vol. III, S. 134) und auf dem zweiten Allchinesischen Rätekongress im Januar 1934 (MAO, Vol. IV, S. 698f.) ausdrücklich anerkannt. Erst im Oktober 1938, nach der Bildung der zweiten Einheitsfront mit der Guomindang im antijapanischen Krieg, sprach er dann auf dem 6. Plenum des VI. ZK erstmals nur noch von Selbstbestimmung in einem vereinten chinesischen Staat:
„Unsere Anti-Japanische Nationale Einheitsfront besteht nicht nur aus allen Parteien und Interessengruppen und allen Klassen im Land; sie umfasst auch alle Nationalitäten des Landes. Als Antwort auf das Komplott des Feindes, die nationalen Minderheiten in unserem Lande auseinander zu dividieren – einen Versuch, der bereits unternommen wurde und auch weiter unternommen werden wird –, ist die dreizehnte Aufgabe derzeit, alle Nationalitäten zu vereinen und den japanischen Banditen gemeinsam zu widerstehen. Zu diesem Zweck müssen wir auf folgende Punkte achten. Erstens, den Mongolen, Hui, Tibetern, Miao, Yao, Yi, Fan und alle den andern Nationalitäten die gleichen Rechte wie den Han geben. Gemäß dem Grundsatz des gemeinsamen Widerstands gegen Japan haben sie das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, und vereinen sich zugleich mit den Han, um einen einheitlichen Staat zu errichten.“ (MAO, Vol. VI, S. 306)


Dieser Richtungswechsel ist sicher zunächst auf die Zusammenarbeit mit der Guomindang Tschiang Kai-scheks zurückzuführen. Die Nationalpartei hätte ein Lostrennungsrecht unmöglich akzeptieren können. Inzwischen hatte die KP allerdings auch mehr Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit ethnischen Minderheiten gesammelt, vor allem auf dem Langen Marsch, und dabei erkannt, dass es möglich war, diese zu gewinnen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit des Bürgerkriegs bis zur Gründung der Volksrepublik hatten dann bereits das Bündnis mit der UdSSR und der beginnende Kalte Krieg einen so großen Einfluss auf die Innenpolitik, dass die Wiederherstellung und Wahrung der staatlichen Einheit Chinas als unverzichtbar erscheinen mussten. Dazu gehörte selbstverständlich auch die Wiedervereinigung mit Tibet, das in den Jahren von 1912 bis 1950 de facto unabhängig gewesen war, aber von allen beteiligten politischen Akteuren, auch den USA, als Teil Chinas angesehen wurde.


Später wurde die Abkehr vom Lostrennungsrecht allerdings auch mit der Einsicht in die besondere Situation Chinas begründet, die sich erheblich von der Russlands bzw. der Sowjetunion unterschied. Anders als Russland hatte sich China über 3.000 Jahre hinweg als Vielvölkerstaat entwickelt. Anders als in Russland machte das Mehrheitsvolk zur Zeit der Gründung der Volksrepublik 94 Prozent (heute 91 Prozent) der Gesamtbevölkerung aus. Fast alle ethnischen Minderheiten lebten in ihren Siedlungsgebieten seit Jahrhunderten vermischt mit den Han. Anders als in Russland waren fast alle anderen Nationalitäten „rückständiger“ als die Han, die meisten befanden sich noch in verschiedenen vorkapitalistischen Entwicklungsstufen. Während der chinesischen Revolution war die Eroberung der Macht vom Land, nicht von den Städten ausgegangen. Beim gemeinsamen Kampf hatten Han und ethnische Minderheiten „Waffenbrüderschaft“ geschlossen. (HEBERER, 1982, S. 14 f.). Diese Argumente sind richtig, auch wenn „Rückständigkeit“ nicht zwangsläufig zur Verweigerung staatlicher Eigenständigkeit führen sollte und wenn man bedenkt, dass die revolutionäre „Waffenbrüderschaft“ sich nur auf einige Nationalitäten beschränkte und die Zahl der Kommunisten bei vielen Minderheiten eher gering war. Das gewichtigste Argument ist tatsächlich die Bevölkerungsstruktur. Schon eine Unabhängigkeit Xinjiangs oder der Inneren Mongolei, jeweils verbunden mit der politischen Dominanz der Uiguren respektive Mongolen, hätte neue Vielvölkerstaaten erzeugt. Große Bevölkerungsgruppen – in der Inneren Mongolei sogar die große Mehrheit – hätten eine Abtrennung von China abgelehnt und die Herrschaft der Uiguren bzw. Mongolen bekämpft. In Provinzen wie Yunnan und Guizhou, in denen jeweils mehr als 20 verschiedene Völker gemeinsam mit den Han leben und die Karte ethnischer Verbreitungsgebiete einem Flickenteppich gleicht, wäre eine Lostrennung völlig sinnlos gewesen. Einzig und allein das heutige Autonome Gebiet Tibet mit seiner fast ausschließlich tibetischen Bevölkerung hätte die Voraussetzungen für eine staatliche Lostrennung gehabt. Dem standen 1949/50 aber nicht nur die Notwendigkeiten der Landesverteidigung entgegen. Die Zerstückelung Chinas, insbesondere die Abtrennung Tibets, Xinjiangs und Taiwans, waren im 19. und 20. Jahrhundert ein Ziel der imperialistischen Mächte (vor allem England, Russland, Japan, später USA) gewesen, das diese mit Nachdruck verfolgt hatten. Tatsächlich hatte China im 19. Jahrhundert durch militärische Eroberung und ungleiche Verträge riesige Gebietsverluste, vor allem an Russland und Japan, hinnehmen müssen. Die Legitimität der Herrschaft der KP Chinas hing in erheblichem Maße von der Frage ab, inwieweit sie in der Lage war, die nationalen Interessen Chinas wahrzunehmen und ihre anti-kolonialistische Politik wirklich konsequent zu einem Erfolg zu führen. Ein Verzicht auf die Wiedereingliederung Tibets hätte China nicht nur eine offene Südflanke im Kalten Krieg beschert, er hätte auch zu einem enormen Ansehens- und Vertrauensverlust der Partei bei den Klassen und Schichten geführt (nationale Bourgeoisie, Intelligenz), die als Bündnispartner unverzichtbar waren.



Sonderrechte der Minderheiten


Im Ergebnis wurde ein System nationaler Gebietsautonomie geschaffen und in der Verfassung verankert. Erstmals erhielten alle Völker Chinas rechtlich garantierte völlige Gleichberechtigung und eine Fülle von Sonderrechten, vor allem in den Bereichen Kultur und Erziehungswesen. Dazu gehört das Recht auf Gebrauch der eigenen Sprache und Schrift, der Beibehaltung und Weiterentwicklung eigener Sitten und Bräuche, der Schutz der religiösen Traditionen und vieles mehr. Es wurden fünf Autonome Gebiete (Innere Mongolei, Xinjiang, Ningxia, Guangxi und Tibet) auf Provinzebene, 30 Autonome Bezirke, 120 Autonome Kreise und über tausend sogenannte „Nationalitätengemeinden“ geschaffen, die insgesamt etwa 60 Prozent der Fläche Chinas einnehmen. Die Verfassung schreibt vor, dass die Gouverneure, Bezirks- und Kreisvorsteher und Bürgermeister dieser Verwaltungseinheiten Angehörige der jeweiligen ethnischen Minderheiten sein müssen. Trotz der Veränderung in der Bevölkerungsstruktur wird daran festgehalten. Der Gouverneur der Inneren Mongolei ist immer ein Mongole, auch wenn die Mongolen dort inzwischen nur noch gut 17 Prozent der Bevölkerung stellen. Im Oroqenischen Autonomen Banner (das „Banner“ entspricht einem Kreis), dem wichtigsten traditionellen Siedlungsgebiet der Oroqen, haben diese einen Bevölkerungsanteil von weniger als einem Prozent. Trotzdem wird das Banner auch weiterhin von einem Oroqen regiert. Die komplizierte Siedlungsstruktur der ethnischen Gruppen in China bringt es weiterhin mit sich, dass die autonomen Verwaltungseinheiten auf den verschiedenen Ebenen oftmals ineinander verschachtelt sind, oder dass mehreren Nationalitäten auf dem gleichen Territorium Gebietsautonomie gewährt werden muss. So liegt z. B. die „Nationalitätengemeinde Da’nan’gou der Usbeken“ im „Kasachischen Autonomen Kreis Mori“. Mori wiederum gehört zum „Autonomen Bezirk Changji der Hui“, der im „Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang“ liegt. In der südwestchinesischen Provinz Yunnan gibt es den „Autonomen Kreis Shuangjiang der Lahu, Va, Blang und Dai“, der hier nur als ein Beispiel für Gebiete genannt werden soll, in denen die Autonomieverwaltung sorgsam zwischen mehreren Nationalitäten austariert werden muss.
Die Praxis der Nationalitätenpolitik Chinas war von 1949 bis heute den gleichen Schwankungen und Katastrophen unterworfen, die auch die generelle politische Geschichte der Volksrepublik kennzeichnen. Vor allem von 1957 bis 1960 (Anti-Rechts-Kampagne und Großer Sprung) und von 1966 bis 1976 (Kulturrevolution und die Folgejahre) führten die politischen Kampagnen und die radikalen sozialen Umwälzungen gerade in den Gebieten ethnischer Minderheiten zu einer Entfremdung großer Teile der Bevölkerung von der Partei. Statt selbstkritisch an dem bis heute weit verbreiteten „Groß-Han-Chauvinismus“ zu arbeiten, bekämpften han-chinesische Kader vornehmlich den angeblichen und tatsächlichen „Lokalnationalismus“. Viele der mühevoll gewonnenen und ausgebildeten Kader aus ethnischen Minderheiten wurden verprellt, politisch verfolgt, z.T. ins Gefängnis geworfen und nicht wenige gar ermordet. Diese politischen Bewegungen wurden vom größten Teil der Minderheiten-Bevölkerung als ein rein han-chinesisches Problem wahrgenommen, als Kampagnen gewaltsamer Assimilation. Die gesetzlichen Rechte der Minderheiten existierten in diesen Zeiten weitgehend nur auf dem Papier. Obwohl Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre ein radikaler Kurswechsel stattfand und die Partei heute auf knapp 30 Jahre vergleichsweise konstanter Nationalitätenpolitik zurückblicken kann, die tatsächlich versucht, den eigenen theoretischen Vorgaben gerecht zu werden, muss man doch konstatieren, dass das Vertrauen, das seinerzeit verspielt worden war, noch nicht wieder vollständig zurückgewonnen wurde. Für die jüngeren Generationen spielt die Vergangenheit zwar nicht mehr eine so große Rolle, aber sie lebt natürlich in den Familienerzählungen fort und ist durchaus Teil des kollektiven Bewusstseins. Die jüngeren Generationen empfinden heute vor allem ihre Partizipation an der ökonomischen Entwicklung, am neuen Wohlstand als nicht ausreichend. Sie werden einerseits mit einer Politik der Partei konfrontiert, die die Rechte der Minderheiten schützt, sie in vielerlei Hinsicht privilegiert, Kultur und Bildung fördert, ihre Religion respektiert, und erleben andererseits eine han-chinesische Mehrheitsgesellschaft, in der Arroganz, Paternalismus und Chauvinismus im Verhältnis zu den ethnischen Minderheiten bis heute tief verwurzelt und weit verbreitet sind. Die alltägliche Diskriminierung nimmt in gleichem Maße zu, wie der Einfluss der KP in vielen gesellschaftlichen und ökonomischen Sektoren zurückgeht. Hinzu kommt oftmals offen geäußerter Neid der Han-Chinesen, die die Sonderrechte der Minderheiten als ungerecht empfinden. Besonders das Recht zwei, oftmals sogar weit mehr Kinder zu haben, und die Bevorzugung bei den Universitäts-Aufnahmeprüfungen durch niedrigere Mindestpunktzahlen sorgen für die unter den Han verbreitete Meinung, dass die Regierung die ethnischen Minderheiten eigentlich viel zu gut behandle.


Diese Situation, verbunden mit dem oben beschriebenen Ethnos-Essentialismus, führt zwangsläufig dazu, dass sich ethnisch definierte Segmente und Interessengruppen in der Bevölkerung Chinas bilden und verstärken, die politische und ökonomische Widersprüche und Konflikte systematisch „ethnifizieren“. Dagegen darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass die meisten kleineren Nationalitäten heute das oben erwähnte Ideologem (viele Nationalitäten bilden gemeinsam die chinesische Nation) angenommen und verinnerlicht haben, ja oftmals besonders stolz auf ihren spezifischen Beitrag zur Geschichte Chinas sind. Ähnliches ist auch unter vielen großen Völkern (z. B. Zhuang, Yi, Bai, Miao, Yao) zu beobachten, und selbst unter Tibetern, Uiguren und Mongolen gibt es inzwischen einen wachsenden Bevölkerungsanteil, nicht nur Kader der Partei, der bereit und fähig ist, sich mit der VR China zu arrangieren oder gar zu identifizieren und seine Zugehörigkeit zur „chinesischen Nation“ als Gewinn und Chance zu betrachten. Es ist keineswegs sicher, welche der beiden beschriebenen Tendenzen die Oberhand gewinnt. Letztlich wird das von der Nationalitätenpolitik der KP abhängen. Leider vermittelt diese gegenwärtig nicht den Eindruck, das Problem in seinem vollen Ausmaß erkannt zu haben.

Literatur
BAUER, WOLFGANG [Hg.]: China und die Fremden. 3000 Jahre Auseinandersetzung in Krieg und Frieden. C.H. Beck: München 1980. 274 S.
China. Verordnete Harmonie, entfesselter Kapitalismus. Edition Le Monde diplomatique N° 1. Berlin 2007.
DIKÖTTER, FRANK [Ed.]: The Construction of Racial Identities in China and Japan. Historical and Contemporary Perspectives. Hurst & Company: London 1997. 217 p.
FEI, HSIAO TUNG [FEI, XIAOTONG]: Toward a People’s Anthropology. New World Press: Beijing 1981. 121 p.
HEBERER, THOMAS: Nationalitätenpolitik der KP China. Sendler Verlag: Frankfurt/M. 1982. 92 S.
Ders., Nationalitätenpolitik und Ethnologie in der Volksrepublik China. Übersee-Museum: Bremen 1982. 99 S.
HEBERER, THOMAS u. SENZ, ANJA: Chinas neuer Nationalismus. In: Das Argument, Nr. 268. Berlin 2006. S. 163-173.
HINZ, MANFRED [Hg.]: Räte-China. Dokumente der chinesischen Revolution (1927-31). Verlag Ullstein: Frankfurt/M., Westberlin, Wien 1973. 620 S.
HÖLLMANN, THOMAS O.: Unter dem Diktat des Vorurteils. China und seine ethnischen Minderheiten. Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: München 2001. 64 S.
JIA, XIRU u. LI, KEYU [Hg.]: Xiandai hua jincheng zhong de minzu wenti (Die Nationalitätenfrage im Prozess der Modernisierung). Xining 1998. 258 S.
MAO, ZEDONG: Revolutionary Writings 1912-1949. Vol. III, From the Jinggangshan to the Establishment of the Jiangxi Soviets July 1927 – December 1930. Vol. IV, The Rise and Fall of the Chinese Soviet Republic 1931-1934. Vol. VI, The New Stage August 1937 – 1938. STUART R. SCHRAM and NANCY J. HODES [Eds.]. M.E. Sharpe: Armonk (New York), London 1995, 1997, 2004. 772, 1.006, 869 p.
SCHMIDT-GLINTZER, HELWIG: China. Vielvölkerreich und Einheitsstaat. C.H. Beck: München 1997. 312 S.
Ders., Wir und China – China und wir. Kulturelle Identität und Modernität im Zeitalter der Globalisierung. Wallstein Verlag: Göttingen 2000. 101 S.