„Eine Diktatur sollte Dir reichen“

Fritz Sterns Antrittsvorlesung zur Gründung des „Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts“

Aus den Geisteswissenschaften, zumal von Historikern, die im Unterschied zu Natur- und Technikwissenschaftlern Schwierigkeiten haben nachzuweisen, wie sich ihr Fach in Zeiten knapper Kassen auszahlt („sich rechnet“), kommen Abwicklungsnachrichten. Querelen erschütterten nach dem Hannah-Arendt-Institut in Dresden auch das größte Historikerinstitut, das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam. Und die Max-Planck-Gesellschaft gab bekannt, daß sie ihr Institut für Geschichte in Göttingen umwandeln bzw. abwickeln will. Gegen den Trend meldet die Friedrich-Schiller-Universität Jena die Gründung eines neuen Instituts, ermöglicht durch eine Spende des in den USA und in der Schweiz lebenden Ehepaars Christiane und Nicolaus-Jürgen Weickart. Das „Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts“ soll als Einrichtung des Historischen Instituts der Universität unter der Leitung von Professor Norbert Frei der fortschreitenden Spezialisierung des Fachs mit Interdisziplinarität und Internationalität, insbesondere bei der Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgen, begegnen. Im Zentrum der neuen Einrichtung steht - neben einer Doktorandenschule nach dem Vorbild angelsächsischer Promotionsstudiengänge mit Vorträgen, Workshops und Konferenzen - eine Gastprofessur für jeweils ein Semester, deren erster Inhaber der im Februar gerade achtzig Jahre alt gewordene und dieser Tage in Berlin mit einem Symposion geehrte Historiker Fritz Stern ist. Stern wurde bekannt mit seiner (gerade neu aufgelegten) Doktorarbeit „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ und einer Doppelbiographie über Bismarck und dessen jüdischen Bankier Gerson Bleichröder, die unter dem Titel „Gold und Eisen“ ein Standardwerk über die Lage der Juden in Deutschland vor dem Weltkrieg wurde. Am 17. Juni 1987 sprach Stern im Bundestag zum „Tag der deustchen Einheit“, 1999 wurde ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Derzeit macht der Lehrer der New Yorker Columbia-Universität der Bezeichnung „Professor“ („Bekenner“) alle Ehre indem er unnachgiebig die Politik des Bush-Regimes kritisiert. Zwar mußte Stern seine Arbeit in Jena aus gesundheitlichen Gründen auf das nächste Semester verschieben, aber Anfang Mai hielt er seine Antrittsvorlesung, eine Geschichtslektion über „Die fünf Deutschlands, die ich kannte“. Wenige Monate bevor des zweihundertsten Jahrestags der Schlacht von Jena und Auerstedt gedacht wird, sprach in der Jenaer Aula unter Ferdinand Hodlers Gemälde „Auszug der Jenaer Studenten 1813“ der Zeuge des Jahrhunderts, der im Pariser Exil 1933 „Le Grand Napoléon pour les petits enfants“ zu lesen bekam. Stern verteilte Balsam auf geschundene ostdeutsche Seelen als er von dem „westdeutschen Kapitalisten“ berichtete, der keine „fünf Deutschlands“ zwischen Weimarer Republik und wiedervereinigtem Deutschland zusammenzählen konnte, da er die DDR nicht im Bewußtsein hatte. Nachdenklich stimmte, was Stern über seine Korrespondenz mit Bischof Otto Diberlius berichtete, der in einer Rede deutsche Kriegsopfer beklagt, die Opfer der Nazis unerwähnt gelassen, nur „mitgedacht“ hatte, und was den vor den Nazis emigrierten Juden an den Achtundsechzigern verstörte: daß diese von „Scheißliberalen“ sprachen. Neugier auf seine unter dem Titel dieser Antrittsvorlesung im nächsten Jahr in Deutsch erscheinenden Memoiren weckte Stern als er andeutete, wie französische kommunistische Historiker ihm als erstem Amerikaner zu Zeiten des Mauerbaus in der DDR 1961 und 1962 Archivstudien (in Merseburg und Potsdam) für sein Buch über Bismarcks Bankier ermöglichten; und als er verriet, wie er in einem Nachtgespräch 1954 den - ihm seit Breslauer Kindertagen bekannten - Dichter Peter Hacks „angefleht“ habe, nicht aus Westdeutschland in die DDR zu gehen: „Eine Diktatur sollte Dir reichen!“ [Verfasst: 9. Mai 2006]