Von der Hegemoniekrise des Neoliberalismus zum Aufstieg regionaler Alternativen

An der Frage, wie tief, wie tragfähig und wie fortschrittlich die Linkswende in Lateinamerika ist, scheiden sich die Geister. Die Spannbreite der Einschätzungen reicht von der Angst vor - oder Hoffnung auf - eine Revolution bis zur altklugen Feststellung, alles sei geblieben wie zuvor. Wenn der Name Hugo Chávez fällt, versteigt sich ein Autor gar zu dem Drohbild, um das bolivarische Venezuela herum sei ein neuer ›Ostblock‹ im Entstehen (Niebel 2006, 16). Generell hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass sich zwei linke Strömungen etabliert haben. Konservative und liberale Vordenker unterscheiden zwischen einer geläuterten, gemäßigt sozialdemokratischen und einer radikalen, populistischen Linken (Castañeda 2006, 28ff). Die moderate Richtung, etwa das Brasilien der Regierung Luiz Inácio ›Lula‹ da Silva, habe aus den Erfahrungen des bewaffneten Kampfes und des Realsozialismus gelernt, während die populistische Strömung, insbesondere das chavistische Venezuela, in der direkten Tradition der populistischen Regierungen der 1930er und 1940er Jahre in Lateinamerika stehe: "Chávez ist nicht Castro, er ist Perón mit Öl" (38). Auch wenn die Einschätzung, dass zwei verschiedene Entwicklungspfade existieren, meist über dieses Lager hinaus geteilt wird, variiert die Zuschreibung je nach politischer Couleur: "Tatsache ist", so William Robinson (2007, 148) im Socialist Register 2008, "dass es zwei Linke gibt - eine reformistische, die die ›rosarote Welle‹ dominiert und eine moderate Umverteilungspolitik in die regionale Ausprägung des globalen Kapitalismus einführen will, und eine radikalere Strömung, die eine umfangreiche Transformation der Sozialstruktur, der Klassenverhältnisse und der internationalen Machtverhältnisse durchsetzen will". Fakt ist jedoch auch, dass die Zuordnung der einzelnen Staaten zu den beiden Linken nicht immer leicht fällt.

Die Dynamiken sozialer Transformation verlassen die Ebene bloßer Tagespolitik, verändern Akkumulation und Regulation, spalten ganze Gesellschaften in antagonistische Lager und legen den Grund für eine veränderte ›post-neoliberale‹ Ordnung. Das Ringen um diese Ausrichtung setzt sogar die alte Frage nach ›Reform oder Revolution‹ zurück auf die Tagesordnung.

Verfall einer verschränkten Hegemonie

Die gesellschaftliche Transformation in Lateinamerika ist Folge des Verfalls einer "verschränkten Hegemonie" (Scherrer 2003, 109f). Verschiedene ihrer Ebenen verlieren an Ausstrahlungs- und Bindungskraft: auf der einen Seite der Neoliberalismus, unter dessen Hegemonie sich transnational eine neue Produktions- und Lebensweise etablierte. Auf der anderen Seite wurde die Führungsrolle der USA in der internationalen Politik geschwächt. Für Lateinamerika schien die Situation Mitte der 1990er Jahre auf den ersten Blick weitgehend klar. Der Neoliberalismus hatte sich schubweise durchgesetzt (Dombois/Pries 1999, 52-67, Schmalz/Tittor 2005, 25f): (1) Als Pilotprojekt gilt Chile unter Pinochet (1973-1990). Dort wurde in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Umstrukturierung der Gesellschaft mit brutaler Gewalt vollzogen. (2) In der ersten Hälfte der 1980er Jahre leiteten in Mexiko, Bolivien und Costa Rica oftmals demokratisch gewählte Regierungen unter dem Druck der Verschuldungskrise die Trendwende ein. (3) Ab der zweiten Hälfte der 1980er folgten Argentinien, Venezuela, Nicaragua, Ecuador, Peru, Kolumbien und zuletzt auch Brasilien. Langjährige Krisenerfahrungen sowie das Scheitern von Stabilisierungsprogrammen sicherten bisweilen die Zustimmung zur neoliberalen Wende. Der Schlüssel zum Erfolg war ein scharfer antietatistischer Diskurs und eine (vorerst) erfolgreiche Inflationsbekämpfung. Diese Politik traf auf die implizite Annahme der subalternen Klassen, dass "das technokratisch-bürokratische Gestrüpp von Subsidien, Sonderrechten und speziellen Beziehungen zu den politisch Mächtigen, das mit Klientelismus und Korruption einherging, weit gravierender und hinderlicher für ihr Fortkommen" war, "als sich den Gesetzesmäßigkeiten des Marktes zu überlassen und dabei die Illusion zu besitzen, dass durch die eigene Aktivität ein Vorwärtskommen möglich sei" (Boris 2001, 97).

In diesem historischen Ringen standen den traditionellen Trägern des Entwicklungsstaats und der Importsubstitution - binnenmarktorientierte Kapitalfraktionen, städtische Mittelschichten, Arbeiterklasse und Staatsbedienstete - gesellschaftliche Kräfte wie transnationalisierte Kapitalfraktionen mit Zugang zu den internationalen Finanzmärkten, Teile der Mittelschichten, liberale Intellektuelle und Technokraten sowie städtische Arme aus dem informellen Sektor gegenüber. Mehr und mehr setzte sich unter dem Label des ›Konsenses von Washington‹ eine liberale Wirtschaftspolitik durch, die das Entwicklungsmodell der importsubstituierenden Industrialisierung zerstörte. Sie wurde von Institutionen wie dem IWF oder der Weltbank durch Strukturanpassungsprogramme und gezielte Kreditvergabe gefördert. Der Konsens hierfür wurde durch verschiedene Faktoren hergestellt: Überbewertete Währungen ermöglichten den Angehörigen der Mittelschichten Auslandsreisen nach Paris und Shoppingtouren in Miami; Außenhandelsliberalisierungen sprengten das Korsett der Importsubstitution und fluteten den Binnenmarkt mit Konsumwaren; das Ende der Inflation ging mit einem Kaufrausch einher, von dem auch die Bewohner der verarmten Vorstädte profitierten; Dezentralisierungsmaßnahmen der Verwaltung ermöglichten eine Einbindung von indigenen Bevölkerungsgruppen in das Staatswesen.

Auch die us-amerikanische Hegemonie erlebte in ganz Lateinamerika eine Renaissance: Mexiko, das seit der Revolution im Jahr 1910 traditionell von einem scharfen Antiamerikanismus geprägt war, trat zum Jahresbeginn 1994 der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA mit Kanada und USA bei. In der "Collorstroika" (Vizentini 2003, 88) verkaufte die brasilianische Regierung Collor de Mello (1990-1992) die profitabelsten Sektoren der Industrie - etwa die Informatikbranche - an ausländische Investoren. Später zog mit Fernando Henrique Cardoso sogar ein ehemaliger Dependenztheoretiker in den Präsidentenpalast ein, der mit den Worten "Vergessen Sie alles, was ich geschrieben habe" seine Vergangenheit hinter sich ließ. In Argentinien wurde der Peso unter der ultraliberalen Regierung Menem ab 1991 an den US-Dollar gekoppelt, in Ecuador der US-Dollar Anfang 2000 sogar als offizielle Währung eingeführt.

Die Wende wurde von der Legende begleitet, Demokratie und Marktwirtschaft seien zwei Seiten einer Medaille. Die Erfahrung habe gezeigt, dass die Marktwirtschaft die alten klientelistischen und autoritären Strukturen der Importsubstitution zerstört und so zur Demokratisierung beigetragen habe. Es folgte die Diffusion des us-inspirierten Modells von ›Freiheit und Demokratie‹ im amerikanischen Hinterhof. Den Gipfelpunkt bildeten schließlich die Pläne zur Durchsetzung der von us-amerikanischen Kapitalinteressen angeleiteten panamerikanischen Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas), die von "Alaska bis nach Feuerland" reichen und alle Staaten Amerikas - mit Ausnahme von Kuba - umfassen sollte (Carranza 2000, 107).

Ein zweiter Blick zeigt, dass unter der Oberfläche bereits andere Dynamiken abliefen. Die Durchsetzung des Neoliberalismus in Lateinamerika beruhte auf einer passiven Revolution im Sinne Gramscis (vgl. etwa Gef, H. 8, §36, 966). Dem Wechsel ging keine Massenbewegung voran, sondern er wurde von transnationalisierten Kapitalfraktionen vorangebracht und über den Staat diffundiert. Auch war der Neoliberalismus nie in dem Sinne hegemonial, dass eine mythisch-affektive Verklärung vorherrschte, sondern er wurde ähnlich wie Fordismus und Taylorismus, denen in Lateinamerika aufgrund ihrer Verbindung mit den Militärdiktaturen oftmals Attribute wie ›blutig‹, ›primitiv‹ oder ›peripher‹ zugeordnet wurden (Alnasseri 2004, 138ff), durch starke Zwangselemente abgestützt. Es handelte sich demnach um eine fragile hegemoniale Konstellation, die "nicht längerfristig und tiefer liegend angelegt war - d.h. von zivilen, privaten Organisationen getragen und breit sozialisiert wurde" (Boris u.a. 2005, 273).

Hier wirkten verschiedene Mechanismen: Es kam zu Wahlgängen, in denen sich die Kandidaten wie Alberto Fujimori (1990-2000) in Peru zunächst gegen Privatisierungen und Liberalisierungen wandten, um sie dann, kaum im Amt, selbst durchzusetzen. Der Übergang von den Militärdiktaturen zu demokratischen Regimen führte oftmals auch zu starken rechtlichen Restriktionen, die politische Alternativen verhinderten: so etwa in Chile, wo die Staats- und Sozialausgaben durch die Verfassung eingeschränkt werden, sodass dies nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verändert werden kann. Auch die "Reartikulationen" (Candeias 2004, 328) vom orthodoxen über den sozialdemokratischen zum autoritären Neoliberalismus folgten in Lateinamerika einem anderen Muster. Die Ideologie des Dritten Weges - der "sozialdemokratische Neoliberalismus" (ebd., 329) - konnte lediglich für die Epoche Cardoso (1995-2002) in Brasilien an Ausstrahlungskraft gewinnen.

Gleichzeitig kam es in Lateinamerika nach der Schuldenkrise 1982 und dem Ende des Realsozialismus 1989-91 zu einem kurzen Wiedererstarken der Vereinigten Staaten. Dennoch waren Projekte wie die ALCA in Lateinamerika kein alleiniges Zeichen der Stärke der USA, sondern Ausdruck ihres langfristigen Niedergangs (Schmalz 2008, 155). Der Versuch, die Verrechtlichung der us-amerikanischen Dominanz durch eine kontinentale Freihandelszone voranzutreiben, widersprach bereits den Interessen von Teilen der einheimischen Bourgeoisien in Lateinamerika, sodass kein Konsens für das Projekt erzeugt werden konnte. Im Gegenteil, auf der Ebene der Investitions- und Handelsbeziehungen verloren die Vereinigten Staaten in Lateinamerika seit den 1960er Jahren kontinuierlich an Einfluss - ein Prozess, der Anfang der 1990er Jahre nur kurz unterbrochen wurde. Seit den 1970er Jahren hatten die USA vor allem im Cono Sur in der direkten Konkurrenz mit den europäischen Verbündeten an ökonomischer Präsenz verloren. Dieses Machtvakuum könnte in den nächsten Jahren durch das Vordringen Chinas als neuem Handelspartner und Investor gefüllt werden (Lehmann 2007, 142).

Unterschiedliche Transformationspfade

Doch wie erfolgte der Übergang zur heutigen Konstellation? Am Anfang standen die Protestaktivitäten von sozialen Bewegungen (Brand/Sekler 2008). Sie reichten von den Stadtteilbewegungen in Caracas über die indigenen Revolten in Ecuador oder Bolivien bis hin zu den Arbeitslosenbewegungen der ›piqueteros‹ in Argentinien. Aus ihnen rekrutierten sich neue parteiförmige Organisationen oder Wahlbündnisse wie der MAS (1999) in Bolivien oder der MVR in Venezuela (2000). Die Misserfolge der neoliberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik, etwa die schweren Finanz- und Währungskrisen in Staaten wie Argentinien (2001/02), Brasilien (1998/99) oder Uruguay (2002), besiegelten deren Delegitimation.

Durch Wahlsiege kamen Vertreter der Subalternen in staatliche Kommandohöhen. Verschiedene Staatsapparate wurden nunmehr von progressiven Kräften verwaltet (Sader 2004, 67f). Dabei war auffällig, dass lange Zeit zentrale Politikbereiche - auch in Venezuela - unangetastet blieben. So registrierte Atilio Borón (2004, 43) "ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unübersehbaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen der Kultur, des öffentlichen Bewusstseins und der Politik und gleichzeitig deren verwurzelte Fortexistenz auf dem entscheidenden Terrain der Ökonomie und des ›policy making‹ - d.h. in den Köpfen und den Entscheidungen der Funktionäre, der Finanz- und Wirtschaftsminister, Zentralbankpräsidenten etc." Rasch bildeten sich die Konturen gegenhegemonialer Projekte heraus. Diese unterschieden sich vor allem in zwei Punkten: ob der (gegenhegemoniale) Machtblock auf eine Klassenallianz baute oder von den Vertretern der subalternen Klassen geführt wurde; und ob eine Reorganisation der staatlichen Institutionen oder gar eine "Neuerfindung des Staates" (Sousa Santos 2007, 25) beabsichtigt war.

Spätestens seit den Jahren 2006/07 hat sich die gesellschaftliche Veränderung auf weitere Bereiche ausgeweitet und auch die Hierarchie der einzelnen Staatsapparate nachhaltig verändert. Den Auseinandersetzungen in der "robusten Kette von Festungen und Kasematten" (Gramsci, Gef, H. 7, §16, 874) der Zivilgesellschaft folgte eine langsame Abwertung bzw. Umorientierung der Staatapparate wie des Finanzministeriums, die zentral für die Durchsetzung des Neoliberalimus waren (Ramírez Gallegos/Minteguiaga 2007, 92; Schmalz 2008, 107ff, 250ff). Dieser Prozess lässt sich in verschiedenen Ländern beobachten: War in Brasilien das Finanzministerium bis 2006 in der Hand neoliberal orientierter Kräfte, ist heute mit Guido Mantega ein Keynesianer Finanzminister. In Venezuela plant die Regierung Chávez, die Unabhängigkeit der Zentralbank abzuschaffen.

Soweit zu den Gemeinsamkeiten. Doch nicht nur der gesellschaftliche Wandel, sondern auch die Spaltungslinien zwischen den unterschiedlichen Transformationspfaden haben sich vertieft. Auf der einen Seite steht ein Modell des ›Sozialliberalismus‹ bzw. der ›Sozialdemokratie‹, auf der anderen Seite das eines "Petrosozialismus" (Azzellini 2008).

Vom Sozialliberalismus zur Sozialdemokratie

Die sozialliberale bzw. -demokratische Orientierung hat sich vor allem im Cono Sur etabliert. Die Regierungen in Argentinien, Brasilien, Uruguay und seit 2008 auch in Paraguay setzen auf einen langsamen Umbau der staatlichen Institutionen, der über parlamentarische Mehrheiten vorangetrieben wird. Dies ist das Ergebnis einer weiteren passiven Revolution: Teile der herrschenden Klassen und politischen Eliten gingen auf die subalternen Klassen zu und integrierten diese in ein gemeinsames Projekt. Die unvermutete Erneuerung der Peronistischen Partei in der Ära Kirchner (ab 2003) in Argentinien oder der Pakt der brasilianischen Arbeiterpartei PT mit einzelnen Fraktionen des Industriekapitals führten zu widersprüchlichen Klassenallianzen. Es bildeten sich verschiedene Regierungsachsen heraus, die sich auf bestimmte Ministerien stützen, sich gegenseitig befehden und teilweise konträre politische Zielsetzungen verfolgen. Das bekannteste Beispiel ist die Auseinandersetzung um die Agrarpolitik in der ersten Regierung Lula (2003-2006): Während im Landwirtschaftsministerium mit João Roberto Rodrigues ein Vertreter des Agrobusiness amtierte, war der Trotzkist Miguel Soldatelli Rossetto Minister für landwirtschaftliche Entwicklung.

In vielen Politikfeldern wurde deshalb auch kein Wandel erreicht: So erfuhr die Wirtschaftspolitik in der ersten Amtsperiode der Mitte-Links-Regierungen in Brasilien oder Uruguay wenige Veränderungen (vgl. Notaro 2007, 13). Es erfolgte lediglich ein Stopp der Privatisierungen bzw. die teilweise Wiederverstaatlichung privatisierter Betriebe bei weitgehender Kontinuität der orthodox-neoliberalen Finanzpolitik. (1) Darum blieb für die Sozialpolitik oft nur ein geringer Spielraum: Programme wie ›Bolsa Família‹ in Brasilien, ›PANES‹ in Uruguay oder ›Jefes y Jefas de Hogar‹ in Argentinien beschränken sich auf einen Einkommenstransfer für die ärmsten Sektoren der Bevölkerung. Allerdings ermöglichten sie zusammen mit anderen Maßnahmen, etwa der Steigerung des Mindestlohns, Programmen zur Formalisierung von Beschäftigungsverhältnissen oder der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen, spürbare Realeinkommenszuwächse und die schrittweise Umwandlung des ›sozialliberalen‹ in ein ›sozialdemokratisches‹ Projekt.

Diese Politik trug dazu bei, dass Teile der sozialen Bewegungen, wie in Argentinien, in das Regierungsprojekt eingebunden und demobilisiert wurden und sich andere Teile enttäuscht davon abwandten. Ein prominentes Beispiel ist die Fragmentierung der Piquetero-Bewegung in Argentinien, von der große Teile von der Regierung Kirchner kooptiert wurden (Brand/Sekler 2008). Es entstand jedoch keine ernst zu nehmende Linksopposition: Sowohl die brasilianische Linkspartei P-SOL als auch die argentinische ARI blieben bedeutungslos. Doch auch die soziale Basis der Regierungen verschob sich. In Brasilien integrierten die Sozialprogramme Teile des informellen Sektors und der verarmten Landbevölkerung in den Machtblock. Das lässt sich beispielsweise deutlich an den Wahlergebnissen der Präsidentschaftswahlen 2006 ablesen, als Lula in den verarmten nördlichen Bundesstaaten über zwei Drittel der Stimmen erhielt. Gleichzeitig entfernten sich Teile der Mittelschichten und der Intellektuellen von den Regierungsprojekten. Entweder radikalistieren sie sich nach links oder schlugen sich auf die Seite der traditionellen Machthaber. Allerdings gelangen der Opposition bisher nur punktuelle Mobilisierungen, etwa die Medienkampagne im Schmiergeldskandal der PT ab Juni 2005 oder die Mittelschichtproteste im April 2004 im Fall der Entführung des argentinischen Industriellensohns Axel Blumberg.

Ein auffälliger Wechsel fand in der Außen(wirtschafts)politik der Mitte-Links-Regierungen statt. Diese unterliegt traditionell einer höheren politischen Autonomie als andere Politikfelder, ist aber gleichzeitig am "entscheidenden Dreh- und Angelpunkt im Verhältnis von Nationalstaat und Weltwirtschaft, in hohem Maße sogar zwischen Innen- und Außenpolitik" angesiedelt (Ziebura 1984, 26). Insbesondere die Regierung Lula vollzog eine Kehrtwende auf allen Ebenen: Sie trug maßgeblich zur Bildung der G-20 bei, die die Doha-Runde in der WTO ausbremste, in der anfangs Themengebiete wie die Liberalisierung des Investitionsverkehrs oder des öffentlichen Auftragswesens verhandelt wurden (Delgado/Soares 2005). Auf der regionalen Ebene brachte das Triumvirat aus Argentinien, Brasilien und Venezuela das Projekt der panamerikanischen Freihandelszone ALCA zu Fall. Ebenso stocken seit Herbst 2004 die Verhandlungen zum EU-Mercosur-Assoziierungsabkommen, die sich stark an den Inhalten der Welthandelsrunde orientieren. Als Gegenprojekt begann die brasilianische Regierung, die Süd-Süd-Kooperationen auszuweiten. Diese etablierte mit dem IBSA-Dialogue Forum eine ›G3‹ mit Indien und Südafrika und vereinbarte mit China verschiedene Kooperationsabkommen in den Bereichen Handel, Kultur und Hochtechnologie. Brasilien ging in einer Fülle von bilateralen Verträgen auf die Länder im subsaharischen Afrika zu, was sich letztlich im Anstieg des gemeinsamen Handelsvolumens von 3 auf 17 Mrd. US$ in der Amtszeit Lulas widerspiegelt. Die Partnerschaften haben so zu einer Außenhandelsdiversifizierung beigetragen: Der Anteil der Zentrumsstaaten (USA, EU, Japan) am brasilianischen Gesamthandel fiel im Zeitraum von 2001 bis 2006 um beinahe 12%.

Der Versuch einer regionalen Blockbildung verlief schleppender. Im Mittelpunkt dieser Pläne stand dabei der Aus- und Umbau des südamerikanischen Freihandelsblocks Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay). Intern sollte mit einem gemeinsamen Parlament, einem ständigen Gerichtshof und einem Verwaltungssekretariat ein stärkeres institutionelles Gerüst geschaffen werden, um das Bündnis zu demokratisieren. Außerdem wurden verschiedene sozialpolitische Initiativen umgesetzt, so etwa ein Fonds von 100 Mio. US$ für strukturschwache Regionen (Fondo para la Convergencia Estructural del MERCOSUR), um die Folgen der Marktintegration abzufedern. Allerdings waren die Pläne eines ›Mercosur social‹ nicht von großem Erfolg gekrönt, da interne Streitigkeiten - wie um den Bau zweier Zellulosefabriken an der uruguayisch-argentinischen Grenze - eine Vertiefung der Integration hemmten (Egenhoff 2006). Auch die Ausweitung des Bündnisses stieß auf Widerstände. Zwar hat der Mercosur mittlerweile Assoziationsabkommen mit allen südamerikanischen Staaten außer Guayana und Surinam geschlossen. Doch der konservativ dominierte brasilianische Senat blockiert den Beitritt Venezuelas als Vollmitglied. Folglich hat das Bündnis an regionaler Ausstrahlungskraft verloren, was auch an den niedrigen materiellen Ressourcen lag, die die brasilianische Regionalmacht zur Verfügung stellt (Burges 2005, 451).

Dennoch weist das sozialdemokratische Modell bisher eine erstaunliche Stabilität auf. Verschiedene ökonomische Kerndaten wie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts oder die Außenhandelsbilanz haben sich nicht zuletzt durch die hohe Nachfrage Chinas und Ostasiens an Exportgütern wie Rindfleisch, Soja oder Eisenerz stabilisiert. Die Rohstofferlöse und die Wiederbelebung der Industrieproduktion für den Export ermöglichten den sozialdemokratischen Ländern, sich von den traditionellen Gläubigerinstitutionen wie dem IWF freizukaufen und die privaten Außenschulden spürbar zu senken. (2) Der Exportboom setzt sich mittlerweile auf den Binnenmarkt um und könnte trotz der anfangs restriktiven Finanzpolitik paradoxerweise dazu beitragen, ein sozial ausgewogeneres Akkumulationsregime zu verankern. Auch der neue Machtblock hat sich konsolidiert. Das Hauptringen dreht sich darum, inwieweit der sozialdemokratische Wandel vertieft werden könnte. So existiert in all diesen Ländern die Tendenz, die neoliberal orientierten Strömungen in der Regierung zurückzudrängen und zu einem keynesianischen Wachstumsmodell hin umzusteuern. Eine gesellschaftliche Transformation, die über sozialdemokratische Reformpolitik hinausgeht, bleibt jedoch verbaut.

Petrosozialistische Projekte

Der ›petrosozialistische‹ Transformationspfad bezieht mittlerweile Bolivien, Ecuador, Venezuela und indirekt auch Kuba ein. Anders als in den sozialdemokratischen Staaten legen verfassungsgebende Versammlungen die Grundlage für ein neues institutionelles Gerüst (Ramírez Gallegos/Minteguiaga 2007, 89). Sie sind gleichzeitig mit einer Anrufung verbunden, mit der die subalternen Klassen als ›Volk‹ in das neue Staatsprojekt eingebunden werden. Doch oft bleibt es bei einer halben Transformation. Die ›Neugründung des Staates‹ wächst im Schoß der alten staatlichen Strukturen heran, die die bürgerliche Herrschaft perpetuieren. Sie ist Ausdruck der "Veränderung des Kräfteverhältnisses auf dem Terrain des Staates selbst" (Poulantzas 2002, 288) und des Versuches, die traditionellen staatlichen Bastionen bürgerlicher Macht zu schleifen. Hierfür werden zunächst direktdemokratische Foren oder auch sozialpolitische Provisorien genutzt. So spricht Edgardo Lander (zit. nach Müller 2007, 123) im venezolanischen Fall bei den unterschiedlichen sozialpolitischen Initiativen - den "misiones" - sogar von einem "Bypass des Staates". Diese Veränderungen gehen mittlerweile so weit, dass sie im leninschen Sinne Doppelmacht aufbauen, ohne jedoch auf eine Zerschlagung des bürgerlichen Staates zu zielen. Dabei kam den petrosozialistischen Regierungen bisher zugute, dass sie die Armee auf ihrer Seite hatten. Heute werden fünf Prozent des Staatshaushalts für die "consejos comunales", die kommunalen Räte, ausgegeben. Sie sind Ausdruck einer Parallelstruktur, da sich die Teilnahme auf 16% der Bevölkerung - meist auf die aktiven Chavisten - beschränkt. Hier liegt ein Widerspruch: Das neue Staatsprojekt bindet die Ausgeschlossenen ein, ist aber noch nicht hegemonial (Lander 2007, 78ff). Die Reformversuche werden von der Bourgeoisie und der alten ›Staatsklasse‹ mit fortwährender Spaltung des Landes beantwortet. Ähnliche Spaltungslinien finden sich auch in Bolivien, wo der Verfassungsprozess eine Situation hervorgerufen hat, in der die alte Oligarchie auf die Ethnisierung des Klassenkampfs mit dessen Regionalisierung antwortet und nun auf separatistische Bewegungen in den ressourcenreichen Provinzen - insbesondere in Santa Cruz - setzt. Nur in Ecuador wurde bislang ein weitgehender Konsens für eine Umgestaltung geschaffen. Kurz, im ›Petrosozialismus‹ hat sich ein Machtblock herausgebildet, der in Venezuela vorwiegend vom informellen Sektor und in Bolivien von der indigenen Bevölkerung getragen wird, aber bisher nicht hegemonial ist, da kein passiver Konsens zum Regierungsprojekt erreicht werden konnte.

Der ›Petrosozialismus‹ basiert im Kern auf Wiederverstaatlichungen und Re-Regulierungen im Energiesektor. Diese werden von hohen Erdöl- und Erdgaspreisen sowie neuen Dynamiken regionaler Integration getragen (Sohr 2006). In Bolivien, Ecuador und Venezuela greifen die Regierungen auf die Petrorente zu und nutzen sie, um umfangreiche Sozialprogramme zu finanzieren: So erhielten in Venezuela fünf Prozent der Bevölkerung durch "Misión Ribas" das Abitur, mit "Misión Robinson I" wurde die Bevölkerung alphabetisiert, und "Misión Barrio Adentro" schuf ein flächendeckendes Basisgesundheitssystem. Zentral ist deswegen auch die gesellschaftliche Verfügungsgewalt über die Rohstofferlöse (Bultmann 2007, 44). Es wird darum gestritten, in welcher Form (Steuern, Staatsbetriebe oder Hoheitsrechte) und in welchem Umfang der Staat Zugriff auf die Rohstofferlöse hat, und vor allem, wer welche Finanzmittel erhält. So drehte sich einer der Hauptkonflikte im venezolanischen Transformationsprozess um die Reorganisation des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, der zuvor große Teile der Einnahmen in private Taschen und ins Ausland schleuste. Auch in Bolivien wurden Reformen zur Reregulierung des Energiesektors durchgesetzt: Am 1. Mai 2006 verpflichtete die Regierung die ausländischen Erdöl- und Erdgasunternehmen per Dekret dazu, als Minderheitskonzessionäre dem Staatsunternehmen YPFB beizutreten. Die Erlöse Boliviens aus den fossilen Brennstoffen haben sich seit 2005 auf 1,6 Mrd. US$ jährlich versechsfacht. Die petrosozialistischen Regierungen setzen gleichzeitig auf die Stärkung des Binnenmarkts, etwa durch Kooperativen und Genossenschaften, was sich allerdings angesichts der zentralen Bedeutung der Rohstoffexporte als schwierig herausstellt.

Der Umstrukturierungsprozess verläuft nicht ohne soziale Konflikte. Die Bourgeoisie und die vormals herrschende politische ›Klasse‹ antworten sowohl in Bolivien als auch Venezuela mit einem ›Klassenkampf von oben‹, in dem die Privatmedien, die Unternehmer und die Mittelschichten mit ausländischer Unterstützung zu politischem Protest auf den Straßen mobilisieren (Harnecker 2007, 189ff). Dabei zeichnete sich ein Strategiewechsel ab. In Venezuela kam es im April 2002 zum Putschversuch, zur Jahreswende 2003 zum Produktionsstreik im Erdölsektor, im Folgejahr zu einem gescheiterten Abwahlreferendum, und schließlich folgten Sabotage, Paramilitarismus und ab dem Jahr 2007 eine von PR-Agenturen unterstützte Studentenbewegung. In Bolivien wird dagegen versucht, durch Sezessionsbewegungen einen Bürgerkrieg heraufzubeschwören.

Die zugespitzte Situation führt zu einer Gegenmobilisierung derjenigen sozialen Bewegungen, die die Regierung ins Amt brachten, ihr aber in vielen Punkten kritisch gegenüberstehen. Es entfaltet sich so eine für revolutionäre Prozesse bezeichnende Dialektik von Affirmation und Kritik: Das Moment der radikalen Kritik am Bestehenden benötigt die Bejahung des Umgestaltungsprozesses, da die Gegenkräfte ihre Ressourcen mobilisieren, um ihn zu blockieren. So steigerte sich die gesellschaftliche Transformation von ersten Verstaatlichungen bis zur Zielsetzung eines ›Sozialismus des 21. Jahrhunderts‹. Das Referendum zur Verfassungsreform im November 2007 in Venezuela zeugt von der Fragilität eines solchen Modells, das dieser Dynamik ausgesetzt ist: Grundlegenden Rechten wie der Festschreibung der Wochenarbeitszeit auf 36 Stunden standen machtpolitisch motivierte Regelungen, etwa die Stärkung und die Aufhebung der Wiederwahlbeschränkung des Präsidentenamts, gegenüber. Dies war neben der mangelnden Diskussion über den Verfassungsentwurf einer der Hauptgründe für das knappe Scheitern der Verfassungsänderung.

Außenpolitisch herrscht eine paradoxe Mischung aus raschem Wandel und Kontinuität. Als Gegenprojekt zur ALCA wurde 2005 die Alternativa Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América (ALBA) gegründet, der außer Venezuela als treibender Kraft mittlerweile Bolivien, Kuba, Nicaragua und die Inselrepublik Dominica beigetreten sind. Die ALBA nutzt den Rohstoffboom aus. Das flexible Rahmenabkommen baut im Kern auf den solidarischen Tauschhandel von Energieressourcen gegen Waren und Dienstleistungen, die Kooperation zwischen Staatsunternehmen sowie auf Zollsenkungen für den Warenhandel. Gerade die Kooperation zwischen Kuba und Venezuela zeugt von einer besonders raschen Dynamik. Sie wurde durch den Erdölhandel ermöglicht (Fritz 2007, 13). Kuba stellte u.a. 18000 Ärzte für die Gesundheitsversorgung in Venezuela zur Verfügung. Venezuela bietet im Gegenzug Technologietransfer, Finanzspritzen für den Energiesektor und die Infrastruktur sowie Erdöl zu Vorzugsbedingungen. Der Handelsaustausch zwischen den beiden Ländern vervielfachte sich von 460 Mio. US$ 2001 auf über 7 Mrd. US$ 2007. Die kubanische Wirtschaft profitierte davon in den vergangenen drei Jahren mit Wachstumsraten von bis zu 11%. Auch die Regierung Morales erhielt durch den Beitritt in die ALBA im Jahr 2006 verschiedene Vorteile, etwa die Abnahme ihrer Sojaexporte oder zinsgünstige Kredite über 100 Mio. US$. Allerdings weist die ALBA eine punktuelle Orientierung auf einzelne (Tausch-)Projekte auf, sodass deren Möglichkeiten beschränkt sind, strukturelle Veränderungen zu erreichen (Burges 2007, 1352ff).

Auch die regionalen Finanzbeziehungen unterliegen Veränderungen. Allein von 2002 bis 2008 steigerte die Rohstoffhausse die Devisenreserven in Lateinamerika von 157 Mrd. US$ auf ca. 440 Mrd. US$ (Moses 2008). Dies ermöglichte der Mehrzahl der Staaten, sich bei den internationalen Gläubigerinstitutionen zu entschulden. Venezuela und Ecuador traten zum 1. Mai 2007 sogar aus dem IWF aus. Venezuela stieß mit der Bank des Südens (Banco del Sur) im Dezember 2007 ein weiteres Projekt an: Zusammen mit Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Paraguay und Uruguay soll eine regionale Alternative zu IWF und Weltbank geschaffen werden. Allerdings konnte bisher keine Einigung über die gemeinsamen Einlagen und die zukünftigen Aufgaben erzielt werden. Der Umfang des Finanzvolumens wurde Ende Januar 2008 auf geringe 7 bis 10 Mrd. US$ veranschlagt.

Doch die Absage ans ›US-Imperium‹ schlug sich für die petrosozialistischen Länder außenwirtschaftlich kaum nieder: Rund drei Viertel der venezolanischen Exporte verdanken sich dem Erdöl, wovon über 60% in die USA gehen. Die Pläne einer Diversifizierung der Exporte, etwa nach Indien und China, schreiten bisher nur langsam voran.

Kehrt die Revolution zurück?

Welche der historischen Tendenzen sich durchsetzen wird, hängt davon ab, wie sich die regionale Konstellation in Lateinamerika weiter entwickeln wird. Oft wird in der Analyse ausgespart, dass sich bereits ein Gegenblock ›neoliberaler Kontinuität‹ formiert hat. Er reicht von der konservativen Regierung Calderón in Mexiko, die des Wahlbetrugs beschuldigt wird, über das Kolumbien des Rechtspopulisten Álvaro Uribe Vélez und Peru, wo die Regierung Alan García repressiv gegen die neu entstandenen sozialen Bewegungen vorgeht, bis nach Mittelamerika. Auch hier existieren Gemeinsamkeiten: Die Länder sind oftmals in ›Alquitas‹, kleine ALCAs, wie der mittelamerikanischen DR-CAFTA, eingebunden. Die restriktive Finanzpolitik wird fortgeführt, sodass wenig Spielraum für Sozialprogramme bleibt. Zusätzlich setzen die Regierungen auf weitere Marktöffnungen und Privatisierungen. Während im Petrosozialismus die Vergesellschaftung des Energiesektors auf der Tagesordnung steht, wurden in Mexiko im März 2008 Schritte zur Privatisierung des staatlichen Erdölunternehmens PEMEX eingeleitet. (3)

Flankiert wird der Kurs der neoliberalen Kontinuität von einem Ausbau der repressiven Staatsapparate, um den bröckelnden Konsens zum Neoliberalismus mit Zwang zu panzern. Viele der linksorientierten sozialen Bewegungen agieren deswegen im außerparlamentarischen Raum. Es kommt zu einer Militarisierung der Innenpolitik, wie sich am Wiederaufleben von Aufstandsbewegungen wie dem EPR (Ejército Popular Revolucionario) in Mexiko oder der Fortsetzung des blutigen Bürgerkriegs in Kolumbien studieren lässt (Sterr 2008, 90). Die Achse der neoliberalen Kontinuität fungiert dabei als Operationsgebiet, um die radikal-reformerischen Kräfte zu schwächen. Die USA versuchen, diese in einen regionalen Konflikt zu ziehen, während die EU auf eine politische Isolation der petrosozialistischen Länder setzt. Das jüngste Beispiel dieser Politik war der Übergriff kolumbianischer Truppen auf ecuadorianisches Territorium im März 2008. Außerdem werden die Konfliktherde in den petrosozialistischen Ländern von außen geschürt: Der neue US-Botschafter in Bolivien Philipp Goldberg hat beispielsweise langjährige Sezessionserfahrungen bei der Zerschlagung Jugoslawiens gesammelt, und eine Reihe von liberalen Think Tanks aus den USA und Europa, etwa die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung, unterstützt die venezolanische Opposition finanziell und ideologisch.

Bisher fungierten die sozialdemokratischen Staaten, v.a. Lulas Brasilien, als Schutzschirm für die Sozialismusversuche. Die Unterstützung bestand darin, den Ausbau der bilateralen Beziehungen zu fördern und im Fall Venezuelas als Moderator in den internen Auseinandersetzungen aufzutreten. In den vergangenen zwei Jahren kam es jedoch vermehrt zu Konflikten. Der wichtigste Anlass war die Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasressourcen in Bolivien im Mai 2006, wovon das brasilianische Staatsunternehmen Petrobrás betroffen war. Erneut loderte der Konflikt im Fall der brasilianischen Ethanolproduktion auf. Brasiliens Versuch, als Großexporteur für Agrotreibstoffe, als ein "grünes Saudi-Arabien" (Nolte/Stolte 2007, 4), den Weltmarkt zu betreten, traf nicht nur auf die Kritik der brasilianischen sozialen Bewegungen, etwa der Landlosenbewegung MST, sondern wurde auch vom venezolanischen Staatschef Hugo Chávez gerügt: Durch die Ausweitung der Flächen für das Agrobusiness entstehen neue Hindernisse für eine wirksame Landreform (Pinto u.a. 2007).

Es wird entscheidend sein, ob die rohstoffsozialistischen und sozialdemokratischen Länder ein gemeinsames regionales Projekt formulieren können oder ob es vermehrt zu politischen Auseinandersetzungen kommt. Die alte Frage nach Reform oder Revolution wird auch die nach einem Bündnis der fortschrittlichen Kräfte neu stellen.

Literatur

Alnasseri, Sabah, Periphere Regulation. Regulationstheoretische Konzepte zur Analyse von Entwicklungsstrategien im arabischen Raum, Münster 2004

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Anmerkungen:

(1) Der Hauptgrund lag in der Fortführung der Schuldenbedienungspolitik. Vor dem Hintergrund der Turbulenzen auf den Finanzmärkten im Jahr 2002 und eines weiteren IWF-Kredits über 30 Mrd. US$ entschloss sich z.B. die Regierung Lula für die Fortführung der Zahlungen und der Erwirtschaftung hoher primärer Haushaltsüberschüsse. Eine Ausnahme bildet hier Argentinien: Das Land war mit über 180 Mrd. US$ derart verschuldet, dass die Regierung Rodríguez Saá 2002 Staatsbankrott anmelden musste. Die Regierung Kirchner führte 2005 schließlich eine Umschuldungsaktion durch, die die Schuldenlast um etwa ein Drittel reduzierte, was neue wirtschaftspolitische Handlungsspielräume eröffnete.

(2) Sowohl Argentinien als auch Brasilien tilgten im Dezember 2005 ihre Schulden beim IWF: Argentinien überwies 9,8 Mrd. US$, Brasilien sogar 15,5 Mrd. US$.

(3) Mexiko bleibt, obwohl es neben Brasilien das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich bedeutsamste Land Lateinamerikas ist, aufgrund der Exportausrichtung einseitig von den USA abhängig, in die rund 90% der Exporte gehen. Auch agierten die einzelnen sozialen Bewegungen - die Zapatisten, die Aufstandsbewegung in Oaxaca und die AMLO in Mexiko Stadt - bisher weitgehend getrennt voneinander, sodass eine Linkswende bisher nicht möglich war.

Aus DAS ARGUMENT, Nr. 276, S. 337-49