Wohnen und Stadt – Inhalt / Form Aspekte in der Klassenauseinandersetzung




Im Folgenden stelle ich Überlegungen zum Verhältnis von ästhetischer Form und gesellschaftlichem Inhalt am Beispiel des Massenwohnungsbaus zusammen. Wenn ich dabei von Formen und Inhalten spreche, dann meine ich mit Inhalten der Architektur ihre Gebrauchswerte, während ich den Formen Ausdruckswerte zuordne.

In den Standesorganisationen – z. B. Architektenkammer und Bund Deutscher Architekten – wird vom „Mehrwert“ der Gebäude gesprochen, wenn diese baukulturelle Bedeutung erlangen. Eine bundesamtliche Broschüre „Baukultur!“ sagt, worum es geht: „Ganzheitliche Qualität wird als deutsches Markenzeichen auf den internationalen Märkten geschätzt“. Architektur wird als „marketing-instrument“ angeboten. Mit ähnlicher Zielrichtung war 1907 der Deutsche Werkbund gegründet worden, um mit zeitgemäßen Formen dem Export des Designs „made in Germany“ Aufschwung zu geben (deutsche Wertarbeit). Dass es auch um die Lebensbedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung gehen könnte, dafür öffnete sich das Blickfeld der Architekten und Planer grundsätzlich erst nach der Oktoberrevolution. Auf Grundlage des dadurch veränderten Kräfteverhältnisses und der Demokratisierung der Staaten wird Wohnungsfürsorge eine öffentliche Aufgabe: Massenwohnungsbau gemeinnützig. Dafür sind die Bauten von Ernst May in Frankfurt, Bruno Taut in Berlin und insbesondere der Karl-Marx-Hof im Roten Wien von Karl Ehn gute Beispiele. Es waren sozialdemokratische Modelle. Die soziale Revolution war nicht das Ziel – Architekten wie Corbusier sprachen lieber von der Revolution der Architektur. So stieß die gemeinnützige Wohnungsbaupolitik auch an ihre Grenzen. Gropius’ Abgang vom Bauhaus (1928) war schließlich mit dem Scheitern – wenn schon nicht mit der Erkenntnis – verbunden, dass mit der Industriebourgeoisie nicht wirklich billige Wohnungen für die Arbeiterklasse zu schaffen waren. Von den linken Architekten Hannes Meyer, Hans Schmidt, Mart Stam wird die Hoffnung formuliert, „dass die unterdrückte Menschheit ohne jede Bevormundung aus eigener Kraft und eigenem Gutdünken sich die Welt gestaltet, in der sie heimisch werden will“. Da klingt eine Forderung an, die weit in den Kommunismus zielt. Und auf Grund der Federführung dieser Drei heißt es in der Erklärung der Gründungskonferenz des CIAM (Congrès Internationale d’Archtecture Moderne) 1928, dass die Erneuerung der Architektur bei den technisch-wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen einsetzen muss. Hannes Meyers Postulat „Städtebau ist die Organisation sämtlicher Funktionen des kollektiven Lebens“2 ist ein soziales Postulat für die Organisation des Raums - nicht mehr ein nur räumliches Modell. In den anschließenden CIAM Kongressen geht es in Anerkennung der Großstadt u. a. um Massenwohnungsbau und dass dafür eine kollektive Bodenwirtschaft erforderlich ist. Das aber, was dann 1933 als „Charta von Athen“ in die Stadtbaugeschichte einging - zu einer Zeit, als die Linken längst in die Sowjetunion emigrieren mussten – war die Entpolitisierung durch Le Corbusier und Giedion, die das Wort „kollektiv“ nun peinlich gestrichen hatten. Architektur ist die Gestaltung von Eigentumsverhältnissen und Eigentum ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das die Menschen zu ihren Lebensbedingungen vermittelt. Die Varianten der Stadt-Programme in ihrer unterschiedlichen Gestalt drücken Eigentumsverhältnisse aus: Verfügbarkeit über Boden – Raum und Zeit.



Formen kapitalistischer Stadtprogramme

HafenCity Hamburg:
„Metropole Hamburg – wachsende Stadt“ ist ein Stadtprogramm, das auf einer Studie der Mc Kinsey Company basiert. Es ist das Leitbild des CDU-Senats seit 2001. Die Hafencity mit „Leuchttürmen“ wie Elbphilharmonie, Kreuzfahrtterminal, Science Center soll junge, kreative, einkommensstarke Haushalte nach Hamburg anlocken. Die Hafencity ist das größte städtebauliche Projekt in Europa. Öffentliche Aufgaben werden durch die privatrechtlich organisierte Hafencity GmbH organisiert; diese vergibt die Grundstücke. Die HafenCity ist in der o. a. Brochüre „Baukultur!“ des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung das erste vorgestellte Projekt in der Rubrik „Stadt und Öffentlichkeit – Wir sind die Stadt“. Sie wird somit auch politisch als Modellfall lanciert. Aus kritischer Perspektive schreibt Rainer Volkmann3 über die HafenCity: „Der Senat will eine Vernetzung von Wirtschaft, Politik und Bildung, ein innovatives kreatives Milieu und Strukturen, die sich selber tragen. Die allermeisten Bewohner sind gut verdienende Singles mittleren Alters. Sozialwohnungen gibt es nicht. Die soziale Ungleichheit wird legitimiert mit der Erwartung ökonomischer Sickereffekte. Die Besserverdienenden müssten privilegiert werden, weil nur sie sparfähig sind und Wachstumsprozesse initiieren. Diese Projekte sind elitär in Planung, in Verwirklichung und Zielgruppe – zum guten Teil für „noch-nicht-Hamburger“ angedacht. Die eigenen Bürger werden aus der Planungskultur ausgesperrt.“ Und er nennt die Alternative: „Wollte man der zunehmenden Segregation wirklich entgegenarbeiten, müsste Raum für benachteiligte Gruppen in den Vierteln geschaffen werden: Sozialer Wohnungsbau, soziale Infrastruktur. Man müsste die lokale Ökonomie und die eigenen Ressourcen entwickeln.“

Die Tübinger Südstadt . . . 
ist als ein zweites Beispiel für dieselbe Tendenz anzuführen. An die Stelle des aggressiv neoliberalen Klassengefüges tritt hier ein kleinbürgerlich linksliberales Modell, das allerdings derselben Bauideologie folgt. Die Stadt Tübingen hatte, als das frz. Militär nach 1989 den Standort aufgab, die 60 ha große Chance eines Konversionsgebiets. Die rot-grüne Realität aber hieß: kleinteilige Parzellierung und Verkauf an die, die kaufen können. Der individuelle Weg zum Wohneigentum, Parzellierung für private Baugemeinschaften, die „ihr Stück Stadt bauen“, so wirbt die Stadtverwaltung für ihr Klientel und das sind die zahlungskräftigen, jungen Familien und die gutverdienenden Singles. Städtebauliche Erfordernisse für die Gesamtbevölkerung werden ignoriert. Die Baugemeinschaften lösen sich nach Fertigstellung in ganz gewöhnliche Wohnungseigentümergemeinschaften wieder auf. Das Programm „Bauherren-Gruppen“ ist eine schlechte Anspielung an die Genossenschaftsbewegung. Diese Gruppen mögen über konkrete Alltagsprobleme zusammen finden – z. B. gemeinsame Kinderbetreuung, Gründung eines Ladens – sie konstituieren aber kaum noch so etwas wie soziale Bewegungen. Es ist die Wendung weg von komplexen gesellschaftlichen Problemstellungen hin zu partikularen Denk- und Handlungsansätzen.

Für eine schmale Sparte von Freiberuflern eines privilegierten Bevölkerungssegments wird von der Verbindung Wohnen und Arbeiten gesprochen – von „lebendiger Nutzungsmischung“. Ich picke aus der Gewerbetafel heraus: Bergfühlung, Bilanzbuchhalterin, die Integrationsfirma, Personal- und Teamentwicklung. In diesem Sinne findet man zuhauf psychoanalytische Beratungen, Gewichtsberatung, Yogazentrum, Ökoläden und Architekturbüros für die Baugemeinschaften, Anwaltskanzleien; von „innovativen“ Arbeitsplätzen ist die Rede. Ich meine: Die gesellschaftlich erreichte Stufe der Teilung der Arbeit heute in der BRD würde eigentlich einen Realitätssinn für Arbeitsplätze erfordern: in Produktion und Reproduktion. Die Orientierung auf die Idylle, sie verstellt den Blick auf gesellschaftliche Lösungen. Die Tübinger Verwaltung, die Planer denken in kleinbürgerlichen und handwerklichen Kategorien. Sie planen für Parzellen-Bauer4 und leugnen die Arbeiterklasse.

Oosthaven Amsterdam . . . 
ist ein sozialdemokratisches Wohnen der 80er Jahre und ein markantes Gegenbeispiel zu den beiden vorgenannten: sowohl zur marktradikalen Variante in Hamburg als auch zur kleinbürgerlich-romantischen Variante in Tübingen. In Amsterdam sind in die Quartiere der privilegierten Reihen-Eigentums-Häuser entlang der Kais große Blöcke des sozialen Wohnungsbaus, die sogenannten „Meteoriten“ gesetzt. Hier gibt es die Chance, dass sich die Kinder unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Kindergarten und in der Schule kennen lernen. Die Infrastruktur und die bevorzugte Lage am Wasser werden mit anderen geteilt. Grund und Boden sind im Oosthaven über Erbpacht vergeben. Es gab eine starke Planungssteuerung und ein sozialdemokratisches Gewissen, das die Planer umzusetzen wussten in die Darstellung von Klassenverhältnissen – sogar in einer formalen Aggressivität. Der Begriff der Meteoriten ist hier sehr einschlägig. Mit diesen wuchtigen Blöcken wird auf die herrschende Bauideologie erwidert, die die Realität der Arbeiterklasse und die Gegenwart sozialer Antagonismen zu leugnen versucht. Man ist aufgrund dieser Metaphorik geneigt, den Oosthaven unmittelbar als eine Kritik der bauideologischen Klassenleugnung zu begreifen, in der die besitzenden Schichten (einschließlich kleinbürgerlicher Wohneigentümer) mit sich allein bleiben. Die Meteoriten sind kleine Vorboten einer noch ausstehenden Lösung von Klassenkonflikten und zeigen das durch ihre sperrige architektonische Gestalt auch an. Man vergleiche auch die metaphorische Funktion dieser Meteoriten mit der der Leuchttürme in der HafenCity Hamburg! Während die Leuchttürme suggerieren, dass es soziale Eliten geben sollte, die den Weg bahnen, sagen die Meteoriten: wir klagen unser Recht auf Partizipation ein, auch wenn wir hier nicht organisch hingehören.



Vorsprünge in der Systemkonkurrenz

In Berlin (DDR) . . . 
wird Anfang der 50er Jahre mit dem Bau der Stalin-Allee (Karl-Marx-Allee) die Chance wahrgenommen, den Ostteil der Stadt mit der historischen und gesellschaftlichen Stadt-Mitte zu verbinden. Im ersten Bauabschnitt werden innerhalb von zwei Jahren 1952 – 54 aus Trümmermaterial in Mauerwerkstechnik ca. 3000 Wohneinheiten gebaut. Mit dem zweiten Bauabschnitt vom Strausberger Platz bis zum Alexanderplatz werden ab 1956 in industrieller Bauweise Typenbauten errichtet, die in ihrer fortgeschrittenen Technik mit der Schwedens und Frankreichs vergleichbar waren. (Die Bundesrepublik hat sich mit industrieller Bauweise für Massenwohnungen nie groß hervorgetan.) Die Formen sind hier andere, aber es gibt keinen städtebaulichen Bruch. In beiden Bauabschnitten wurden die Gebäudein den städtischen Raum eingeordnet. Und zu den traditionell-nationalen Architektur-Formen der ersten DDR Jahre im ersten Bauabschnitt sei mal nur gesagt: Auch im roten Wien der 20er Jahre wurden bei den kommunalen Wohnungsbauten die Zeichen des Palastbaus nicht gemieden, sondern im Gegenteil gesucht: Kaiserschloss als Massenwohnung. Hier ging es symbolisch darum, Paläste für die Arbeiter zu schaffen, Paläste der Republik gewissermaßen. Zum insgesamt progressiven und sozialistisch modellhaften Klassencharakter der Stalinallee sei Bruno Flierl5 zitiert, der noch im Jahre 2003 richtigerweise festhält: „Die Stalinallee war die Verheißung des Lebens einer neuen Gesellschaft als Gemeinschaft. … und tatsächlich wohnten Arbeiter und Professoren dort zusammen. Das hatte es in Deutschland so nie gegeben ... Die städtebaulichen Überlegungen aus der Sowjetunion, nämlich wie man Städtebau auf vergesellschaftetem Grund und Boden macht, waren das Ideal.“

Als Grundlage des Planens und Bauens galten ab 1950 „die 16 Grundsätze des Städtebaus der DDR“. Sie sind Bestandteil des Aufbaugesetzes und sind in der Stalinallee verwirklicht. Sie richteten sich gegen die Auflösung der Stadt, wie dies Pläne von Hans Scharoun6 vorsahen. Die 16 Grundsätze sind ein Gegenkonzept zur Charta von Athen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass diese beiden Konzepte eingebunden sind in den ideologischen Klassenkampf, denn die Funktionsordnung ist Ausdruck sozialer Verhältnisse. In der Charta werden die städtebaulichen Funktionen in ihren physiologisch-physikalisch-geometrischen Abhängigkeiten betrachtet. Die historisch-materialistische Betrachtung hingegen hat nach dem Zusammenhang zwischen der Funktion und dem ihr zugrunde liegenden sozialen Inhalt zu fragen. Kurt Junghanns7, Leiter des Instituts für Baugeschichte an der Bauakademie der DDR schrieb dazu: „In der Charta wird die einzelne Wohnung als Ausgangspunkt der Planung hervorgehoben. Die Planung der in Grün eingeschlossenen Wohnung ist das höchste Ziel.“ Und die Funktionstrennung der Charta: Wohnen – Arbeit – Erholung – Verkehr kritisiert er folgendermaßen: „In den 16 Grundsätzen wird statt des Verkehrs als wesentlicher Faktor die Kultur angeführt. Es werden die gesellschaftlichen, die politischen Funktionen der Stadt hervorgehoben.“ Und aufgrund der Orientierung auf die Massenverkehrsmittel im Sozialismus spielt die 4. Funktion Verkehr ohnehin eine andere Rolle; auch sie war vergesellschaftet.  

So entstand in Ost und West ein unterschiedlicher Städtebau. Die Konvergenztheorie, die besagt, dass sich die Erscheinungsformen im Kapitalismus und Sozialismus allmählich annähern, greift weder in der Architektur noch im Städtebau. 

Hansaviertel / Interbau
Dies mag der Vergleich der Wohngebiete unmittelbar im Anschluss der Stalinallee mit dem Westberliner Wohngebiet Hansaviertel / Interbau belegen. Die DDR stellt eine mehr kollektive Interpretation der Moderne dem Freiheitskult im Westen entgegen. Hans Schmidt8, von dem wir im Zusammenhang der Gründung CIAM gesprochen haben und der viele Jahre in der DDR tätig war, polemisiert zum Hansa-Viertel in einem Aufsatz „Vom Typenprojekt zum Städtebau“ gegen das „Zwanglose“, gegen das „Verkriechen ins Grüne“. Zum Hansaviertel / Interbau lassen sich zwei charakteristische Bewertungen gegenüber stellen: Harald Bodenschatz einerseits und Wikipedia in der antikommunistischen Sprache der damaligen Frontstadt andererseits. Harald Bodenschatz9 schreibt: „Das Hansaviertel ist eine verspätete Antwort (1956) auf den Bau der Stalinallee (1952), ein Beispiel für die politisch motivierte Festivalisierung des Städtebaus, das den Bruch mit der Stadt des späten 19. Jh. verdeutlicht – eine Orientierung an der autogerechten Stadt und ein Aufmarsch von Einzelgebäuden.“ Auf Wikipedia liest man: „.. es ging darum, eine Fülle von baulichen Individualitäten zu schaffen durch Heranziehung von namhaften Architekten des In- und Auslandes. Das Hansaviertel ist die freiheitliche Alternative zur kollektivistischen Stalinallee [..] Politisch gewollt ist die Reprivatisierung, die schöpferische Kraft der Privatinitiative gegenüber dem Kollektivismus des Ostens.“ Tatsächlich wurde aber das Kleineigentum, die kleinen Parzellen vieler unterschiedlicher Eigentümer, mit Hilfe des Staates über eine Treuhand und nicht über den Markt in das Großeigentum von Investoren transferiert. Harald Bodenschatz hat klar gesehen, dass die räumliche Ordnung des Hansaviertels schnell anachronistisch wurde: „Das Leitbild der aufgelockerten und gegliederten, der autogerechten Stadt ist inzwischen längst zerbrochen.[..] Dieses Zerbrechen hat nicht erst seit dem Mauerfall zu einer kulturellen Entwertung des Hansaviertels und zur kulturellen Aufwertung der Karl-Marx-Allee geführt.“

In Halle Neustadt DDR (70 000 Einwohner) . . . 
lässt sich das Thema der Funktionsgliederung als ein sozialistisches Planungsprinzip besonders gut erläutern. Hierin spiegeln sich auch die gesellschaftlich-sozialen Zusammenhänge deutlich wider. Die Gliederungselemente sind Bereiche unterschiedlicher Komplexität. Das Stadtzentrum umfasst das Bildungs- und Sportzentrum im Westen, das politisch-kulturelle Zentrum und das Einkaufs- und Versorgungszentrum im Osten mit zwei Ladenebenen. Der Wohnkomplex ist als Organisationseinheit die kleinste „Stadtzelle“ mit eigenem Zentrum. Solche Einheiten stellen die untere Stufe der Vergesellschaftung dar mit Einrichtungen der Kinderbetreuung, Schule, Versorgung für den täglichen Bedarf, Annahmen für Dienstleistungen aber auch mit Gebäuden für Kulturbeziehungen auf unterer Ebene (Urania, Kulturbund, Volkssolidarität). Gesellschaftliches Leben im Wohngebiet und im Hauptzentrum ergänzen sich. Es ist ein abgestuftes, rationales System von Gemeinschafts-Einrichtungen in den Wohnkomplexen und im Zentrum. Typisiert sind Wohnungsbau und Gemeinschaftseinrichtungen. Halle-Neustadt ist eine Veranschaulichung der Eigentums- und Planungsverhältnisse für gleiche Wohnbedingungen auf der Grundlage des industriellen Bauens. Ein Wohnkomplex wird aus mehreren Häusergruppen gebildet. Manchmal stehen die Wohnungen über einen Korridor in unmittelbarer Verbindung mit den gesellschaftlichen Einrichtungen, aber sie bilden mit ihnen keine geschlossene Einheit. Die Einrichtungen stehen Benutzern auch außerhalb der angeschlossenen Wohneinheit offen. Es geht hier nicht um Kommunehäuser (Versuche der 20 Jahre); die kollektive Seite des Wohnens ist die Gesamtheit der Gemeinschaftsbeziehungen in der Stadt. Der komplexe Wohnungsbau ist der Versuch der Verräumlichung des Sozialismus – der Stufe des Sozialismus, die er eben erreicht hat. Ein Gegenentwurf zum Städtebau des Kapitalismus ist er allemal. In Halle Neustadt war die Frage des Arbeitsplatzes geklärt: Es gab die Chemie-Kombinate Leuna/Buna, die über die S-Bahn bestens angebunden waren. Hinzu kamen die Arbeitsplätze in den stadtversorgenden Einrichtungen.

Für das Märkische Viertel West-Berlin . . . 
(50 000 Einwohner) hingegen wurde die Frage, wo die Menschen Arbeit haben, gar nicht gestellt. Das Märkische Viertel wurde erforderlich überwiegend für die Umsetzmieter der innerstädtischen Sanierungsgebiete: hinzu kamen die bisherigen Bewohner auf diesen Grundstücken, die man aus ihren Lauben und Provisorien ausquartiert hatte. Das Schema Massengliederung ist die Leitfigur der Planung. Und die Architekturkritikerin Kristin Freireiss bringt den Grundgedanken der Planung auf den Punkt, indem sie auf die Frage: „Wie bringt man 17 000 Wohnungen in eine städtebauliche Ordnung?“10 mit folgendem Zitat von Hans Scharoun11 aus dem Jahre 1946 antwortet: „Die Stadtlandschaft ist das Gestaltungsprinzip des Städtebauers, um der Großsiedlung Herr zu werden. Durch Stadtlandschaft ist es möglich, Unüberschaubares, Maßstabloses in maßvolle Teile zu gliedern und die Teile so zueinander zu ordnen, wie Wald und Wiese, Berg und See in einer schönen Landschaft zusammenwirken“. Masse – Wohnungsmasse, Menschenmasse – ist offensichtlich etwas Negatives, dessen man Herr werden muss. Nicht die rationale Zuordnung der Funktionen steht im Vordergrund. Das gezeigte Schema der Massengliederung stand dagegen am Anfang der städtebaulichen Aufgabe. Selbstverständlich müssen Zentrum, Läden, Kindergärten, Schulen, Sportstätten arrangiert werden, es gibt sie – aber nachgeordnet der Massengliederung. Was die Baudichte betrifft, bleibt zu sagen, dass gegenüber der ursprünglichen Planung eine wesentlich höhere Baulandausnutzung dadurch erzwungen wurde, dass während der Planungs- und Bauzeit die Baulandpreise um das Fünffache gestiegen sind.

Berlin Rauchstraße
In den 80ern ist das kapitalistische Modell nicht mehr fähig, größere Teile der arbeitenden Klasse in Produktion und Reproduktion einzubinden – oder in anderen Worten: das Kapital hatte es nicht mehr nötig. Der Wohnungsbau in Berlin Rauchstraße, der nun kein Massenwohnungsbau mehr ist, nimmt postmoderne Formen an. Es geht hier gerade mal um 239 Wohnungen. Davon sind nur einige wenige Sozialwohnungen; der Rest sind Abschreibungsmodelle. Städtebaulich wird die Typologie der großbürgerlichen Villen, die vor dem Kriege auf diesem Gelände standen, nachgebildet. 

Berlin-Marzahn
Wechseln wir noch einmal die Seiten in der alten Frontstadt Berlin: zu Berlin-Marzahn. Die sozioökonomischen Determinanten, die dieses Wohngebiet zum sozialistischen machten, sind: Grund und Boden waren im gesellschaftlichen Eigentum und außerdem ermöglichte die Vergesellschaftung der Produktionsmittel den industriellen Wohnungsbau und den Aufbau einheitlicher Wohnkomplexe. Der Kampf ums Einzeldasein hatte darin aufgehört: Die sozialistische Lebensweise äußerte sich in Formen der Gemeinschaft innerhalb und außerhalb des Wohnbereichs, insbesondere im Arbeitskollektiv. Dass in den Industriegebieten die Hauptlebenstätigkeit der Menschen arbeitsteilig stattfand, dass die Menschen in den Wohngebieten individuell wohnten, dass die Zentren der Ort des gesellschaftlich-kulturellen Austausches waren und sie in ihrer Hierarchie in wechselseitiger Ergänzung standen – alles über ÖPNV bestens verbunden; das alles sind die Gründe dafür, dass Marzahn und das benachbarte Hellersdorf bis 1990 funktionierende Städte in der Stadt Berlin, privilegierte Wohnorte, waren. Und was die Verbindung von Wohnen und Arbeiten betrifft: Unmittelbar westlich von Marzahn liegt das im Land Berlin größte zusam≤menhängende Gewerbegebiet. Nur – das ist heute so gut wie leer geräumt.

Die Überführung von Marzahn in den Kapitalismus beschreibend, beziehe ich mich auf Veröffentlichungen des Berliner Senats von 199412 und des Bezirksamts Marzahn/ Hellersdorf von 200713. 1994 wird offiziell eingestanden: Die Innenwahrnehmung und Außenwahrnehmung sind durchaus unterschiedlich. Monica Schümer-Strucksberg14: „Die erstaunlich hohe Wohnzufriedenheit, die in regelmäßigen Abständen erfragt worden ist, widerspiegelt, dass die Großsiedlungsquartiere keineswegs unterprivilegierte Bezirke sind.“ „Die Identifikation der Bewohner mit ihren Wohngebieten war stark“ (Stadtsoziologin Simone Hain15). Die negative Außenwahrnehmung wird transportiert durch die vom Senat beauftragten Planer, die bei der Umsetzung der politisch diktierten Privatisierung ihren Job tun – mit ihren Bewertungen und Änderungsvorschlägen, die da lauten: „Große Baumassen einerseits und weite Leerräume andererseits sind durch Unmaßstäblichkeit und Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. [..]. Der Übergangsbereich zur Landschaft ist neu auszuformulieren, indem den abrupten Abbrüchen der Bebauung und ihrer unmaßstäblichen Konfrontation eine vermittelnde Bebauung in Form von gekoppelten Reihenhäusern, Terrassenhäusern und auch Einzelhäusern vorgelagert wird. [..] Die häufig angewendeten Elfgeschosser tragen wesentlich zum Negativimage der Baumassen bei ... ein Abtragen auf 6 Geschosse ... auf den verbleibenden 6-geschossigen Plattenbauten könnten gute Dachwohnungen (Penthouses) gesetzt werden.“16 Dazu, dass in Marzahn und Hellersdorf bis 2009 140 Einrichtungen der sozialen Infrastruktur (Kitas und Schulen) abgerissen sein werden, äußert sich der Klassenspaltungszynismus der Planer17 folgendermaßen: „Zugunsten einer Diversifizierung des Wohnungsangebotes bieten größere freigewordene Flächen die Möglichkeit, die Großsiedlungen durch neue, kleinteilige und eigentumsbezogene Wohnbebauungen anzureichern.“ Dass auch in Marzahn zu DDR-Zeiten Professoren und Arbeiter nebeneinander lebten, bestreitet niemand. Nun aber argumentieren die Senatsbeauftragten18: „Will man künftig eine breite soziale Schichtung erhalten, bedarf der Wohnungsbestand der Ergänzung um ganz neue Wohnformen, Streuung der Eigentumsformen. Es geht um die Mobilisierung neuer Akteure mit neuer Verantwortung: Hierzu ist eine kleinteilige Parzellierung der Flächenpotentiale für Neubauten und für entsprechende Eigentumsformen erforderlich.“ Die Blöcke aufbrechen und Stadtvillen für den „neuen“ und eben besser verdienenden Kleinbürger hineinsetzen. Das ist nur einer der Planervorschläge von 1994. 

Insgesamt geht es also um die Verkleinbürgerlichung, um Wohnformen auf Parzellen im Privateigentum, um die Bindung an Haus und Herd à la Proudhon19, letztlich um die Atomisierung der Gesellschaft. Die Masse Arbeiterklasse und damit die Perspektive einer Vergesellschaftung von Lebensformen ist das Tabu der bürgerlichen Stadtplanung. 

Mit einer Lichtinstallation verdeutlicht die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn ihre Abrisspläne für 2 200 Wohnungen; die beleuchteten Wohnungen sind die verbleibenden 409. Aus diesem „Rückbau“ entstanden inzwischen die . . . 
 Ahrensfelder Terrassen – 
in mediterranem Stil für die Generation 50plus - die nun weniger Spielplätze, dafür mehr Stellplätze und Garagen brauchen. Wie sich die soziale Wirklichkeit bis 2007 in Marzahn verändert hat – vom privilegierten Wohnort in der DDR zur teilweise überflüssigen Wohnungsmarktreserve – ist bekannt: aufgrund von Arbeitsmigration und Suburbanisierung hat sich die Bewohnerzahl von gut 100 000 auf unter 70 000 reduziert, der Wohnungs-Leerstand konzentriert sich vor allem im Bestand der großen 4-5-Zimmerwohnungen. Marzahn war für Familien gebaut worden. Die gibt es kaum mehr. Steigender Altersdurchschnitt, steigender Anteil an Transfer-Empfängern, hohe Arbeitslosigkeit.



Résumée: 

Nicht zuletzt aufgrund der Abwanderung aus den neuen Bundesländern wächst in Städten wie München, Stuttgart, Hamburg die Zahl der Haushalte. Es braucht, wie wir das für Hamburg gesagt haben, Massenwohnungsbau in den Quartieren sowie auf innerstädtischen Brachen. Inwieweit die Stadtverwaltungen nur für die Privilegierten Wohnungsbau betreiben und welche Bereiche der Bevölkerung nur mehr am Rande der offiziellen Stadtplanung stehen, hängt ab vom Kräfteverhältnis – eben den Klassenauseinandersetzungen. Der Architekturtheoretiker Gert Kähler20 formuliert sehr schön die Aufgabe des Massenwohnungsbaus in der Frage: „Wie kann ich die Gleichheit, die seine Qualität ausmacht, zu einer zentralen Ordnung einer Gesellschaft formen?“ Und er sagt: „Der Grund dafür, dass wir keine Welt im Wohnungsbau architektonisch artikulieren können, ist einfach der, dass sich diese Zusammenballung von einzelnen Menschen nicht als Gesellschaft begreift.“

Erinnern wir uns an Karl Marx im 18. Brumaire des Louis Bonaparte:21 „Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. [..] Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, lässt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse.[..] Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.“

Dass Massenwohnungsbau Weltinterpretation, Gesellschaftsinterpretation werden kann, setzt voraus, dass sich Menschen in der Zusammenballung als Gesellschaft begreifen, in mannigfache Beziehung zu einander treten, sich organisieren. In Halle-Neustadt – aber auch im größeren zeitlichen Abstand im Karl-Marx-Hof in Wien – können wir einen solchen Versuch der Weltinterpretation sehen. Die Aufforderung Nazim Hikmets „Lebe einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald“ setzt ein zusätzliches städtebauliches Ziel: Einheitlichkeit ohne Monotonie. Dann verbindet sich der individualistische Impuls mit einer egalitären (im Fernziel klassenlosen) Gesellschaftsordnung. Das eigene Glück wird mit dem Glück der anderen verbunden. Die Monotonie hingegen entsteht durch das Häufen einer unübersehbaren Zahl für sich existierender Elemente, die den Zusammenhang mit dem Ganzen negieren. Und das drückt die Isoliertheit der Bewohner aus. Im Zusammenhang des Einheitlichen muss dann auch für den Typus geworben werden: gegen das Exklusive (Ausschließende), gegen die Repräsentation durch das Aparte (Abgetrennte) als eine Verhaltensstruktur von Konkurrenzmechanismen. Der Perfektionierung der Gestalt des Typus liegt das Bemühen um Verallgemeinerbarkeit zugrunde: Das Allgemeine, das imstande ist, die Besonderheit zu subsumieren. Denken wir an Walter Benjamins Zerstörung der Aura und: sind wir nicht wehleidig gegenüber dem Typus, gegenüber der Serie! Aber die Serie allein – als Negation des ‚Aparten’, als reine Addition –kann nicht die Qualität eines neuen gesellschaftlichen Raums schaffen. Es geht um die Einordnung der „Zelle“ in eine städtebauliche Konzeption. Die Wohnarchitektur muss die Dialektik eines variablen „Typus“ im Raum der Stadt entfalten.22

An den Ausgangsgedanken zurückgehend, dass Architektur die Gestaltung von Eigentumsverhältnissen und Eigentum ein gesellschaftliches Verhältnis ist, das die Menschen zu ihren Lebensbedingungen vermittelt, betonen wir, dass Architektur und Städtebau die räumliche Beziehung zwischen den Menschen veranschaulicht und dass wir die Gestaltung einer Umwelt erstreben, die eine soziale Nutzung fördern kann. Aber wenn die Inhalte nicht gemeinschaftsorientiert sind, kann schwerlich eine Form entstehen, die Gemeinschaft stimuliert. Wenn Öffentlichkeit in den Institutionen der Gesellschaft und im Bewusstsein der Bürger fehlt, kann sie im Städtebau nicht dargestellt werden.

 

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1 Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg), Rotraut Weeber, Hannes Weeber: Baukultur! Planen und Bauen in Deutschland, S. 7, Bonn 2007 

2 In der offiziellen Erklärung des CIAM in La Sarraz 1928

3 Rainer Volkmann (Hrsg): Erfolgsmodell „Metropole Hamburg – wachsende Stadt“? S. 55 ff, Hamburg 2006

4 Vgl. Fußnote 19und 21

5 Bruno Flierl in: Ylva Queisser, Lidia Tirri: Leben hinter der Zuckerbäckerfassade, Berlin 2004

6 Vgl. Fußnote 11

7 Kurt Junghanns in: Planen und Bauen, Bd.5, 1951, S.39

8 Hans Schmidt: Vom Typenprojekt zum Städtebau, in: Deutsche Architektur, 1960, H. 4, S. 183-190

9 Harald Bodenschatz in: Engel, Ribbe (Hrsg): Karl-Marx-Allee. Magistrale in Berlin, S. 1153 ff. Berlin 1996 

10 Kristin Freireiss in: 40 Jahre Märkisches Viertel. Geschichte und Gegenwart einer Großsiedlung

11 Hans Scharoun: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Berlin plant“ (1946), in: Andreas Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee, Bauwelt Fundamente 95, 1991

12 Ideenwerkstatt Marzahn. Die Zukunft der Großsiedlungen – Zeichen für eine Identität, Hrsg: Senat Berlin, 1994

13 Im Wandel beständig. Stadtumbau in Marzahn und Hellersdorf, Hrsg: Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf, Berlin 2000

14 Monica Schümer-Strucksberg in: Ideenwerkstatt Marzahn, a .a. O.

15 Simone Hain: Berlin-Marzahn. Vollkommen subjektive Betrachtungen vor Ort, in: Hans G. Helms (Hrsg.), Die Stadt als Gabentisch, Leipzig 1992, S. 531-541

16 Rainer W. Ernst und Wolf R. Eisentraut in: Ideenwerkstatt Marzahn, a. a. O.

17 Im Wandel beständig, a. a. O., S. 142

18 wie Fußnote 16

19 Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, MEW 18, S. 219: „Gerade die moderne große Industrie, die aus dem an den Boden gefesselten Arbeiter einen vollständig besitzlosen, aller überkommenen Ketten los und ledigen vogelfreien Proletarier gemacht, gerade diese ökonomische Revolution ist es, die die Bedingungen geschaffen hat, unter denen allein die Ausbeutung der arbeitenden Klasse in ihrer letzten Form, in der kapitalistischen Produktion, umgestürzt werden kann. Und jetzt kommt dieser tränenreiche Proudhonist und jammert, wie über einen großen Rückschritt, über die Austreibung der Arbeiter von Haus und Herd, die gerade die allererste Bedingung ihrer geistigen Emanzipation war.“

20 Gert Kähler: Wohnung und Stadt, Braunschweig 1985, S. 417 ff.

21 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8, S. 198

22 Bruno Taut: Der Außenwohnraum. Zur städtebaulichen Gestaltung der Gehag-Siedlungen, in: Gehag-Nachrichten, Heft 1-2/1931